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HESSEN Silberner Blick

aus DER SPIEGEL 47/1964

Der Sohn des Landrats schielte. Der Sehfehler war gering, doch Vater Eitel O. Höhne zog aus Michaels Silberblick weitgehende Konsequenzen: Er organisierte in seinem Landkreis Eschwege die erste große Augen-Reihenuntersuchung der Bundesrepublik.

Die hessische Landesregierung stellte das medizinische Personal, Landrat Höhne zahlte den Aufenthalt. Und Professor Curt Cüppers, Extraordinarius an der Gießener Universitäts-Augenklinik, ließ ein Untersuchungs-Mobil anrollen, das die VW-Stiftung mit 50 000 Mark finanziert hatte.

Untersuchungsobjekte: 3714 Kinder der ersten vier Jahrgänge aller Volksschulen im Eschweger Kreis.

Bisher leuchteten die Assistenten von Professor Cüppers 1000 Schulkindern in die Pupille. Das Ergebnis ist schon jetzt beklemmend. Die Mediziner entdeckten

- zwölf Fälle mit schweren, wahrscheinlich unheilbaren organischen Schäden,

- 34 Schieler, die bereits einen Dauerschaden an einem Auge aufwiesen,

- 32 weitere Schieler,

- sechs Fälle von Augenzittern,

- 78 leichtere Fälle von Sehstörungen.

Aus dieser Zwischenzählung ergab sich, daß die landläufige Schätzung, etwa vier Prozent der Bevölkerung schielten, zu gering angesetzt ist - ein bestürzender Befund angesichts der Tatsache, daß es sich beim Schielen nicht um einen Schönheitsfehler, sondern um eine pathologische Veränderung des Sehvorgangs handelt, der oft genug zum einseitigen praktischen Erblinden führt.

Da der Schieler anfangs alles doppelt sieht, ist er unbewußt gezwungen, beim Sehvorgang ein Auge abzuschalten. Geschieht das wechselweise, bleiben beide Augen zwar intakt, doch sieht der Betroffene niemals ein plastisches Bild. Verzichtet der Schieler jedoch auf die Sehfunktion stets desselben Auges, so schwindet dessen Funktionsfähigkeit nach einer gewissen Zeit vollständig.

Dabei spielt es keine Rolle, ob der sogenannte Schielwinkel auffällig groß ist oder so gering, daß die Eltern gar nichts merken - die Funktionsstörungen und ihre Folgen sind die gleichen. Professor Cüppers warnt: »Die scheinbar unbedeutenden Schielfehler sind

eigentlich deshalb gefährlicher. Die Kinder selbst wissen es nicht, weil sie nie richtig sehen gelernt haben, und den Eltern fällt nichts auf.«

Erst vor einem Jahr konnte Cüppers die Krankenkassen davon überzeugen, daß Schiel-Behandlungen medizinisch notwendig seien und deshalb den Versicherten bezahlt werden müßten. Bis dahin sahen viele Kassen in der Behandlung lediglich eine Schönheitsoperation, die keiner Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung galt.

Eine weitere Schwierigkeit hat der Extraordinarius allerdings noch nicht ausräumen können. Die Augenärzte müßten ihre Patienten so früh wie möglich behandeln: Bis zu einem Alter von vier Jahren sind die Heilungschancen - gelegentlich auch ohne Operation - am besten. Bei Kindern zwischen vier und neun wird die Heilung bereits wesentlich umständlicher und langwieriger. Von neun Jahren an zeigen sich bei den »einseitigen Schielern« bereits Dauerschäden, die auch Fachärzte nicht mehr rückgängig machen können.

Im Grunde genommen wurde daher auch die Reihenuntersuchung in Eschwege - die Volksschüler waren sechs bis zehn Jahre alt - zu spät eingeleitet. Cüppers: »Für uns ist es erst einmal wichtig, einen Überblick zu bekommen. Außerdem waren das die jüngsten Jahrgänge, die für eine Reihenuntersuchung überhaupt erfaßbar waren.«

Die Wiesbadener Landesregierung prüft derweil, ob solche Augen-Inspektionen zu einer medizinischen Routine ausgebaut werden können, ähnlich den vorbeugenden Untersuchungen bei Tbc und Krebs.

Augen-Reihenuntersuchung im Kreis Eschwege: Doppelt sehen

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