ORANGEN Silbrige Spritzer
Mit dem Brieföffner zerlegte Gerhard Gmelin, Architekt im württembergischen Herbrechtingen, am Mittwoch letzter Woche seine Dessert-Orange. Er schnitt »fein säuberlich »wie Kappen« und verzehrte die saftigen Stücke sodann »mit Appetit«. Als er zum Schluß »den Nabel aus der einen Schale herausbeißen« wollte, sah er »etwa zehn silbrige Spritzer« -- Quecksilber.
Aus »Scheißangst«, wie er sagt, alarmierte der Architekt telephonisch das bayrische Gesundheitsministerium und trat damit »eine Lawine los": In den Fall schalteten sich, nacheinander, das Münchner Giftdezernat, das Stuttgarter Landeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft im schwäbischen Ellwangen ein. Verdacht nach Paragraph 324 des Strafgesetzbuches: »Gemeingefährliche Vergiftung.«
Nach vergifteten Orangen ließen letzte Woche auch die Bonner Gesundheitsministerin Antje Huber und Innenminister Werner Maihofer ihre Beamten fahnden. In Bonn und Den Haag, Tel Aviv und Kairo wurden Apfelsinen zum Gegenstand diplomatischer Aktivitäten. Bundesdeutsche Fruchtimporteure stoppten die Auslieferung mehrerer tausend Tonnen israelischer Jaffa-Orangen, Gesundheitsämter und Verbraucherzentralen rieten vom Verzehr ab.
Ein paar »Tagesschau«-Sequenzen lang schien es, als sei drei Monate nach Mogadischu die Zeit der Rache gekommen: Massenvergiftung als letzte Waffe von Terroristen? In den Niederlanden waren zuerst einige mit Quecksilber gespritzte Orangen aufgetaucht. Dann fanden sich auch in Darmstadt. Frankfurt und Kassel, angeblich auch in Lindau, Braunschweig, Bremen und Berlin vergiftete Früchte.
Die »Hamburger Morgenpost« rief den Notstand aus:., Gift-Alarm«. Arabische Terroristen, so wußte das Hamburger Blatt schon vergangenen Donnerstag, hahen das »Gift in die Früchte gespritzt« -- womöglich »150 Millionen Apfelsinen ... bedrohen die Gesundheit von Millionen«. »Bild« ahnte die ersten Opfer: »deutsche Kinder«.
In Israel prangerte die Abendzeitung »Jedioth Achronoth« die »primitive chemische Kriegführung« an. Und Israels Premierminister Menachem Begin verlieh der Apfelsinen-Affäre sogar hochpolitisches Gewicht: Er werde niemals »der Errichtung eines Staates zustimmen, der von Orangen-Vergiftern geführt wird«.
Doch während verängstigte Bundesbürger Anfang letzter Woche auf den Genuß von Apfelsinen verzichteten. forderte Bonns oberste Gesundheitshüterin Huber am Ende der Woche schon wieder zum vorsichtigen Weiteressen auf: Nur in einem Dutzend Apfelsinen israelischer wie anderer Herkunft fand sich Quecksilber; echte Krankheitsfälle traten nicht auf.
Der Jaffa-Schock offenbart die Anfälligkeit einer durch ein nahezu allgegenwärtiges Kommunikationssystem hochsensibilisierten Gesellschaft. Schon eine mit geringer krimineller Energie angesetzte Tat, allein die vage Vermutung eines Anschlags genügt im Zweifelsfall, eine ganze Branche zu irritieren und Massen zu verängstigen.
Vermutung aber war vergangene Woche fast alles. Zwar lag der mit Stuttgarter Poststempel vom 17. Januar aufgegebene Brief einer »Arab Revolutionary Army« (ARA) vor, der die Gesundheitsminister von 18 Staaten in Europa und Nahost warnte, daß palästinensische Arbeiter in den von Israel besetzten Gebieten »Tausende israelischer Export-Orangen vor dem Pflücken vergiftet« hätten. Ansonsten aber tappten die Fahnder im dunkeln.
Unklar blieb bis Freitag letzter Woche, wer wo wann und wie Quecksilber in wie viele Orangen gedrückt hatte.« Unerklärlich«, so ein Fahnder, blieb den Behörden auch, wieso neben israelischen später auch spanische Früchte mit Quecksilberspuren aufgetaucht waren. Und verunsichert wurden Bürger, als Mediziner und Quacksalber vor Quecksilber-Schäden warnten. Empfohlene Therapie: rohe Eier in Milch.
Die Warnung, so scheint es, war überflüssig. In den Orangen fanden sich nicht die gefährlichen Quecksilberdämpfe oder organischen Quecksilber-Verbindungen, die in der Tat Zahnfleischentzündungen und Haarausfall, Schwindelgefühle und Nierenschäden, aber auch schwere Schädigungen des Zentralnervensystems und sogar den Tod auslösen können, sondern nur das ungefährliche reine Metall.
Daß das silbrige Element auch in Verbindung mit Fruchtsäuren partout nicht zu Gift geraten will, wies letzten Freitag der Hamburger Quecksilber-Fachmann Professor Erich Schneider experimentell nach: Selbst nach achtstündigem Verrühren bildeten sich pro Liter Orangensaft nur 0,5 Milligramm löslicher Quecksilberverbindungen -- die Hälfte dessen, was der Gesetzgeber etwa bei Speisefischen toleriert,
Und durchaus möglich erscheint nun, daß das zwar unblutige, aber verblüffend wirksame Kampfmittel Methode wird: Mit minimalem Einsatz -- womöglich nur ein Lagerarbeiter mit einer Quecksilberspritze -- erreichten die Täter nicht nur ihr Ziel, »die israelische Wirtschaft zu schädigen« (ARA). Der Terror durch Täuschung trug dem arabischen Kampf zudem kaum weniger Publizität ein als eine risikoreiche Flugzeugentführung.
Daß Früchte es in sich haben können, ist längst in der Kriegs- und Kriminalgeschichte verzeichnet, In den dreißiger Jahren spickten Bauern der norditalienischen Provinz Trentino aus Protest gegen die römische Regierung ihre Äpfel für den italienischen Markt mit Nadeln. Damals bissen die meisten Italiener nicht mehr in Äpfel, ohne sie zuvor aufgeschnitten zu haben.
Im Zweiten Weltkrieg benutzte die deutsche Abwehr des Admirals Canaris Apfelsinen zu Terroranschlägen gegen die Alliierten: Auf britischen Schiffen, die spanische Orangen nach England importierten, versteckten Agenten Sprengsätze in Apfelsinenkisten. Die Kisten explodierten mal auf hoher See, mal erst im englischen Zielhafen, und bald weigerten sich die britischen Hafenarbeiter, die explosiven Frachter zu entladen.
Während der Militärdiktatur in Griechenland behauptete eine Widerstands-Organisation in Zuschriften an internationale Nachrichten-Agenturen, griechischen Pfirsichen und Aprikosen sei Gift beigegeben. Und vor drei Jahren versuchte eine palästinensische Organisation schon einmal -- erfolglos -, israelische Zitrusfrüchte zu diskreditieren. Auf Plakaten und mit Graffiti wurde behauptet, sie seien vergiftet.
Diesmal freilich war der Schaden für Israel meßbar: Obwohl deutsche wie niederländische Gesundheitsministerien sieh letzte Woche beeilten, beruhigende Kommuniqués über den geringen Umfang der ungefährlichen Quecksilber-Anschläge herauszugeben, blieben bis zum Freitag von rund 40 Millionen Jaffa-Orangen, dem Kontingent der Woche, 20 Millionen unverkauft.