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HERMANNS-SCHLACHT Simserim am Galgenberg

aus DER SPIEGEL 13/1966

Über die Walstatt gellten lateinische Todesschreie. Zwischen Sumpf und weglosem Wald metzelten die Mannen des Cherusker-Fürsten Arminius die welschen Legionäre nieder. Romns Feldherr Publius Quintilius Varus, 56, stürzte sich verzweifelt in sein Schwert. Kurz vorher aber erteilte der umsichtige Edelmann noch einen letzten Befehl: Um wenigstens zu verhindern, daß den Barbaren auch noch sein prunkvolles Tafelgeschirr in die Hände falle, ordnete der Generalfeldmarschall an, die echt silbernen Schalen, Teller und Humpen im Gesamtgewicht von zwei Zentnern unter deutschen Eichen zu vergraben.

An einen solchen - wenn auch nirgendwo überlieferten - Buddelbefehl glaubt zumindest der Amateur -Historiker Kurt Lindemann, der sich als Ministerialdirigent im niedersächsischen Kultusministerium hauptamtlich mit Verwaltungs- und Etatfragen zu befassen hat.

Im überfüllten Vortragssaal des hannoverschen Landesmuseums legte der gelernte Jurist Lindemann vorletzte Woche dar, was er in fast dreijährigen Privatstudien an Neuigkeiten über die Varus-Schlacht zusammengetragen hat, in der es den germanischen Recken gelang, die kultivierten Römer ein für allemal aus Deutschlands Norden zu verjagen.

Lindemanns These verblüffte die Fachweit. Denn bislang galt als ziemlich sicher, daß die Hermanns-Schlacht im Teutoburger Wald stattgefunden habe, und nur die Frage, an welcher Ecke des Gebirgszug,es im Jahre 9 nach Christus Varus sein Leben und seine Legionen verlor, war noch strittig. Nun aber behauptete der Laie Lindemann kühn, im Teutoburger Wald habe damals eitel Friede geherrscht. Das Blutbad sei vielmehr hundert Kilometer weiter östlich bei Hildesheim angerichtet worden.

Die Behauptung, die - sollte sie sich als wahr erweisen - das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald bei Detmold seines letzten Sinnes berauben würde, entsprang einer »zufälligen Eingebung« des Ministerialdirigenten, sich mit dem ihm bis dahin fremden Thema zu befassen. Lindemanns Recherchen führten zu dem Ergebnis, daß der römische Schriftsteller Tacitus, der den Historikern mit dem Hinweis auf einen »teutoburgiensis saltus« (zu deutsch: »Teutoburger Wald") bislang als Gewährsmann diente, ungenau formuliert habe und überdies falsch interpretiert worden sei.

Der Teutoburger Wald, so deutete Lindemann den Tacitus-Text, sei keineswegs mit dem erst Jahrhunderte nach der Schlacht so benannten Teutoburger Wald, sondern mit dem Galgenberg bei Hildesheim identisch.

Am Westhang dieses 170 Meter hohen Berges hatten am 17. Oktober 1868 preußische Soldaten bei der Erweiterung eines Schießstandes sechzig wohlverpackte Teile eines Prunkgeschirrs entdeckt. Archäologen identifizierten es schon damals als Varus-Eigentum, mit dem die beutegierigen Cherusker sich davongemacht hätten.

Lindemann dagegen erkannte das Silberservice als »wichtiges archäologisches Indiz für den Ort der Varus -Schlacht«. Das Geschirr, so löste Lindemann das Silberrätsel, sei nicht von den germanischen Siegern nach dem Kampf, sondern von den fremden Legionären noch während der Schlacht beiseite geschafft worden.

Für seine »Arbeitshypothese«, daß die Schlacht im Teutoburger Wald in Wahrheit viel weiter östlich - etwa am Galgenberg - stattgefunden habe, benannte Lindemann als Kronzeugen den griechischen Tacitus-Kollegen Cassius Dio, nach dessen Angaben die drei Varus-Legionen aus ihrem Sommerlager am Westrand des Cheruskerlandes nahe der Weser seinerzeit aufbrachen, um »entfernt wohnende« aufständische Cherusker zur Räson zu bringen. Lindemann: »Also muß Varus weiter ostwärts gezogen sein, denn das Gebiet der Cherusker reichte von der Weser im Westen bis an den Harz im Osten.«

Auf diesen Hintergrund projizierte der Amateurforscher den überlieferten Schlachtverlauf in die Gegend zwischen Harz und Heide und stellte dabei »seltsame Übereinstimmungen mit den historischen Schilderungen« fest. Lindemann rekonstruierte: Vermutlich vom Weserort Hameln aus, wo erst 1944 britische Flieger auf Luftbildern die Umrisse eines römischen Lagers entdeckten, marschierten die etwa 30 000 Varus-Soldaten in das Zentrum des Cheruskergebiets bei Hildesheim. Im Tal des Flüßchens Innerste - tatsächlich »zwischen Wald und Sumpf«, wie die Geschichtsschreiber notierten - geriet Varus in Gefechtsberührung, und in der Nähe des heutigen Derneburg beschloß er angesichts der feindlichen Übermacht, die Srafexpedition abzubrechen. Auf dem Rückzug traf ihn am Galgenberg der vernichtende Schlag.

Außer durch den Silberfund wird diese Theorie noch durch zwei andere Tatsachen gestützt:

- Oberhalb des Innerste-Tals bei Derneburg fand sich eine bisher noch unerforschte Burgstelle, die - so Lindemann - »dann die Teutoburg wäre, von der Tacitus berichtet«.

- Wenige Kilometer von Derneburg entfernt liegt das Dorf Segeste, das mit dem Namen des Arminius -Schwiegervaters Segestes identisch ist, der Varus vor dem geplanten Cherusker-Überfall gewarnt hatte.

Möglicherweise, so hofft Lindemann, liefert sogar der Name der Stadt Hildesheim einen Beweis für die Richtigkeit seiner Kombinationen. Hild ist altdeutsch und bedeutet Kampf.

Ob Schulbücher, Fachwerke und Lexika geändert werden müssen und ob womöglich auch das traditionelle Varus -Spottlied ("Als die Römer frech geworden, simserimsimsimsimsim") deutschbewußter Studenten korrigiert werden muß, soll sich im Spätsommer entscheiden: Von Lindemann angeregt, wollen Archäologen dann bei Hildesheim und Derneburg den Spaten ansetzen.

Cherusker Hermann, erbeuteter Varus-Schatz*: Fund auf dem Schießplatz

Amateur-Historiker Lindemann: Im Teutoburger Wald war Friede

* Nach einer Darstellung aus dem 19. Jahrhundert: Hermann übergibt den Varus-Schatz an die Priester vom Galgenberg.

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