Singapur: Jeder fünfte ist ein Denunziant
Wer eine Zigarettenkippe auf die Straße wirft, muß 500 Mark Strafe bezahlen. Wer lange Haare trägt, wird auf der Post als letzter bedient, in der Schule mit drei Rohrstockschlägen bestraft. Wer eine Versammlung von mehr als fünf Personen organisiert. wird der Aufwiegelung angeklagt. Wer mehr als die beiden offiziell erlaubten Kinder hat, muß höhere Steuern und auch Schulgeld bezahlen. So schön ist es in Singapur.
Die Zahl der Vorschriften ist in Singapur Legion: Spart Wasser, spuckt nicht auf die Straße, benutzt zu mehreren ein Auto, raucht nicht, schließt eure Türen ab, werft keinen Abfall auf die Straße, hütet euch vor Kommunisten! Täglich werden in Presse und Fernsehen, im Kino und auf großen Plakaten an den Hauptstraßen neue Vorschriften und Verbote verkündet. Für ihre Durchführung sorgt eine gut ausgebildete, 8000 Mann starke, bewaffnete Polizeitruppe.
Eine Diktatur ist das gewiß, doch, welch Wunder, sie ist populär.
Singapur, einst die Perle des britischen Empire, von den letzten Briten Anfang des Jahres verlassen, kennt keine der Nöte anderer asiatischer Staaten -keine Korruption, keine Bevölkerungsexplosion. keine politische Instabilität. In Singapur wurden Probleme gelöst, mit denen die Städte der westlichen Welt verzweifelt, wenn nicht hoffnungslos kämpfen -- Verkehrschaos, Drogensucht, Wohnungselend.
In Singapur wird der Rasen geschnitten, kommen die Züge pünktlich an, herrschen Ordnung, Hygiene und Wohlfahrt. Singapur wird »die Schweiz des Ostens«, »die Gartenstadt Asiens«, die »Hauptstadt der Hauptstädte Asiens« genannt. Es hat den viertgrößten Hafen der Welt, ist das Finanzzentrum der Region ISt) Geldinstitute sind hier vertreten.
Mit 2600 US-Dollar hat Singapur nach Japan das höchste Pro-Kopf-Einkommen im südostasiatischen Raum, seine jährliche wirtschaftliche Wachstumsrate war konstant -- 14 Prozent von 1970 bis Anfang 1975, dem Jahr der weltweiten Rezession.
Dieses Dorado ist die moralische Hauptstadt für etwa 16 Millionen über ganz Südostasien verstreute Auslandschinesen. Es ist der Fluchtort vieler reicher Taiwanesen. die den Untergang Nationalchinas für unabwendbar halten. Vor allem aber ist es ein Anlage-Paradies für ausländische Investoren.
Denn in Singapur wird nicht gestreikt. Die Gewerkschaften werden von der Regierung kontrolliert. Die Unternehmen können über Einstellung, Entlassung und Umsetzung des Personals frei entscheiden.
So haben denn in den letzten zehn Jahren ausländische Privatfirmen in Singapur umgerechnet knapp 3,5 Milliarden Mark investiert, davon ein Drittel die Amerikaner, ein Sechstel die Japaner. Deutsche Unternehmen, darunter Rollei, Siemens und Varta, legten insgesamt 103,5 Millionen Mark an.
Als Modell freilich eignet sich Singapur kaum, dazu sind seine Gegebenheiten zu ausgefallen: eine winzige Insel vor der Südspitze der malaiischen Halbinsel, mit einer Gesamtfläche von rund 580 Quadratkilometern, und das auch nur bei Ebbe: eine Bevölkerung von 2,3 Millionen Menschen, davon 76 Prozent chinesischer Abstammung, keine Bodenschätze, kein sonstiger natürlicher Reichtum.
Als sich die Stadt 1965 vom Staat Malaysia loslöste, hatte sie keine andere Wahl, als sich der Welt als Dienstleistungszentrum anzudienen. Sie besitzt geschickte, fleißige, billige Arbeitskräfte, und sie bot sie an -- zur Ausbeutung.
Dabei entwickelte sich die Insel innerhalb von zehn Jahren aus einem Umschlagplatz, der ausschließlich auf Handel angewiesen war, zu einem bedeutenden Produktionszentrum mit so modernen Wirtschaftszweigen wie Schiffbau- und Elektronik-Industrie. »Alles, womit wir Geld verdienen können, ist gut für uns«, sagen die Wirtschaftsbosse in Singapur. Pragmatismus war für sie eine Notwendigkeit. Er wurde zur Philosophie erhoben.
Ministerpräsident Lee Kuan Yew, der Singapur an der Spitze seiner People"s Action Party (PAP) seit 17 Jahren unangefochten regiert, verkörpert diesen Pragmatismus in Person. In einem Jahr für Israel. im nächsten auf seiten der Araber, gestern in der Vietnam-Frage noch fest hinter Amerika stehend, heute bereit, die Sowjets in die Region einziehen zu lassen -- so lehrte Lee Singapur zu überleben.
Er ist der einzige Politiker in Asien, der von sich behaupten kann, mit den Kommunisten gemeinsame Sache gemacht zu haben, ohne ihnen zum Opfer gefallen zu sein. Im Gegenteil. sie wurden, welteinmalig, seine Opfer.
Sofort nach der Machtübernahme ließ Lee sie verhaften und ins Changi-Gefängnis werfen. Das tut er auch heute noch. »Wir waren die Helfer des Magiers, wir kennen seine Tricks«, kommentiert er seine frühere Verbindung zur kommunistischen Partei.
Verschiedentlich als intelligent, schlau, arrogant oder gerissener Diktator bezeichnet, hat Lee Kuan Yew Singapur zu dem gemacht, was es heute ist -- im Guten wie im Schlechten.
Von seinem abgeschiedenen Amtssitz aus, bewacht von treuen Khurkas, die ihm die Engländer auf seinen Wunsch zum persönlichen Schutz zurückließen. leitet und kontrolliert Lee alle Lebensbereiche der Inselrepublik.
Er sieht die Akten der Leute ein, die unter Polizeiaufsicht stehen, er studiert jedes neue Wirtschaftsprojekt, und wenn ihm eine Fernsehsendung nicht gefällt, ruft er den Sender an und fragt nach dem Autor. »Lees Schwierigkeit ist, daß seine Probleme nicht groß genug sind«, sagte ein westlicher Botschafter in Singapur. »Er könnte der Führer eines großen Landes sein, ist aber dazu verurteilt, Bürgermeister einer mittleren Stadt zu sein.«
Eigensinnig, puritanisch, autoritär, versucht Lee einem Bevölkerungsgemisch, bestehend aus Angehörigen verschiedener Rassen, Sprachen und Religionen, zu einer neuen Identität zu verhelfen. Er möchte, daß die Singapurer ihre chinesische, indische oder malaiische Herkunft vergessen und sich mit Singapur identifizieren. Von sich selbst sagt er: »Ich bin ebenso Chinese, wie Kennedy Ire war.« Während seines jüngsten China-Besuches sprach er demonstrativ nur Englisch.
Lee versucht, in diesem kleinen Inselstaat, der allen Einflüssen der westlichen Welt ausgesetzt ist, eine neue Gesellschaft aufzubauen, »die resistente Gesellschaft«, wie er es nennt. Er meint damit eine Gesellschaft zäher, anpassungsfähiger, gehorsamer Menschen, die sich den »Anforderungen der Zukunft« stellen. Vor allem die Streitkräfte sollen den Charakter dieser resistenten Gesellschaft prägen.
Jeder Bürger ist wehrpflichtig. Einige werden zur Ausbildung nach Taiwan geschickt. »Hier haben wir ja nicht einmal genügend Land, um den Leuten beizubringen, wie man Schützengräben aushebt«, klagte Verteidigungsminister Goh Keng Swee.
Die nach israelischem Vorbild ausgerichteten Streitkräfte Singapurs -- die ersten Ausbilder waren Israelis -- haben aber bestenfalls Symbolwert. Als kleine chinesische Insel inmitten einer malaiischen Welt könnte Singapur einen bewaffneten Konflikt weder mit Indonesien noch Malaysia bestehen. In Singapur wird gern der Witz von dem Vater erzählt, der zu seinem Sohn sagt: »Wenn Krieg ausbricht, geh auf die Toilette. In zehn Minuten wird alles vorbei sein.«
Doch Singapur sieht auch gar nicht in einer militärischen Konfrontation die Gefahren für seinen Fortbestand, sondern in innerer Subversion, einem nationalen Schreckgespenst. das die Behörden immer wieder beschwören, um neue Verbote oder neue Verhaftungen zu begründen.
Die noch verbliebenen Mitglieder der kommunistischen Partei Malaysias (MCP). die sich 1960 in den Dschungel zurückzogen, propagieren den Befreiungskrieg, lehnen die Loslösung Singapurs von Malaysia nach wie vor ab und streben als erklärtes Ziel die Gründung einer wiedervereinigten malaiischen sozialistischen Republik an.
Hin und wieder führt die Geheimpolizei verhaftete Genossen im Fernsehen vor, wo sie nicht eben überzeugende, pathetische »Geständnisse« ablegen. Zweifelhaft bleibt aber, ob es sich dabei tatsächlich um Mitglieder der MCP handelt oder schlicht um Gegner der Ein-Parteien-Herrschaft Lee Kuan Yews.
Die Regierung leugnet hartnäckig, daß es in Singapur überhaupt politische Häftlinge gebe. Doch stets blieb sie den Beweis dafür schuldig, daß die Menschen, die in den Gefängnissen sitzen -- zur Zeit 75, einige davon seit über zehn Jahren -, »Terroristen« sind.
Nach dem Gesetz über innere Sicherheit kann in dem fernöstlichen Wunderstaat jedermann ohne Gerichtsverfahren für unbegrenzte Zeit inhaftiert werden. »Wir können uns keine Risiken leisten«, erklärt Außenminister Rajaratnam diese Haltung. »Zwei oder drei Streiks würden heute schon genügen, um uns zu Fall zu bringen. Und eben solche Streiks würden die Leute organisieren, die wir gefangenhalten, ließen wir sie frei.«
Für die innere Sicherheit ist in Singapur jedes Mittel recht. Öffentliche Diskussionen sind untersagt, Studentenorganisationen verboten. Die Presse darf auf die Regierung höchstens schimpfen, wenn sie den Film »Einer flog über das Kuckucksnest« verbietet.
Gedrucktes darf ohne Genehmigung der Regierung nicht erscheinen. Bücher dürfen nur eingeführt werden, wenn sie vorher von der Behörde für »unerwünschte Publikationen« geprüft wurden. Studenten müssen, um zum Studium zugelassen zu werden, einen »Eignungsnachweis« erbringen, der nichts über ihre Fähigkeiten aussagt, sondern nur eine Bescheinigung der Geheimpolizei ist, daß sie keine subversiven Elemente sind.
Eine Furcht ist in dieser »resistenten Gesellschaft« allen gemeinsam -- die Überzeugung nämlich, daß unter fünf Leuten immer mindestens ein Denunziant ist, der morgen meldet, was man heute gesagt hat.
Der Staat, so winzig er ist, ist allgegenwärtig. So kann es vorkommen, daß ein Journalist zum Chef der Geheimpolizei zitiert und verwarnt wird, er würde verhaftet, wenn er einen Artikel nicht korrigiere, oder daß ein Architekt, der das städtische Sanierungsprogramm der Regierung kritisiert, sämtliche Aufträge verliert, weil die Baufirmen gewarnt wurden, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Die beiden Universitäten Singapurs sind dumpfe Sammelbecken für Studenten geworden, die nur darauf aus sind, einen Grad zu erwerben.
»Der wirtschaftliche Fortschritt ist deutlich sichtbar«, so ein Kritiker des Lee-Regimes, »die Wolkenkratzer werden immer höher. Kulturell aber ist Singapur eine Wüste.« Das kulturelle Leben nämlich zählt nicht zu den Prioritäten der Überlebenspolitik Singapurs. Äußert sich ein Minister einmal zu diesem Thema, so nur, um vor dem »Hippie-Kult«, der »permissiven Gesellschaft«, dem »Studenten-Radikalismus«, vor »Establishment-Feindlichkeit und Ablehnung multinationaler Unternehmen« zu warnen.
Nur eine kleine Minderheit liberaler Intellektueller freilich leidet unter dieser Repression. Die Behörden haben durchaus recht, wenn sie behaupten, die Mehrheit der Bevölkerung sei an kulturellen Fragen nicht interessiert und beklage sich nicht über das total reglementierte Leben.
Der Traum der meisten Singapurer läßt sich auf den einfachen Nenner bringen: eine Frau, zwei Kinder, drei Zimmer, vier Räder. Der Gesellschaftsvertrag zwischen Herrscher und Beherrschten basiert auf dem Rezept: Er garantiert die Versorgung, sie verhalten sich still.
Bisher funktionierte das: 45 Prozent der Bevölkerung wohnen bereits in neuen Wohnungen, die von der staatlichen Bau- und Planungsbehörde errichtet wurden. 1980 sollen 80 Prozent der Bevölkerung in eigenen Wohnungen untergebracht worden sein. Auf je dreizehn Bürger kommt ein Auto.
»Die Bevölkerung protestiert nicht, wenn wir einen Unruhestifter verhaften. Und die ausländischen Investoren, die Deutschen zum Beispiel. sind auch nicht unglücklich«, erklärt ein hoher Regierungsbeamter.
Unglücklich sind sie in der Tat nicht. Als der PAP Lee Kuan Yews im Mai mit dem Ausschluß aus der Sozialistischen Internationalen gedroht wurde, weil Lees Inhaftierungspraktiken kaum als sozialistisch bezeichnet werden können, setzten sich die Ausländer in Singapur, allen voran die Deutschen. über ihre Kontakte in Europa für die PAP ein -- die sich im letzten Augenblick selbst zum Austritt aus der Internationalen entschloß, worüber die Genossen recht traurig waren.
Denn der Sozialismus trägt in Singapur durchaus kapitalistische Züge. 75 Prozent der arbeitenden Bevölkerung verdienen weniger als 400 Mark im Monat, während 2,6 Prozent über ein Einkommen von mehr als 1500 Mark verfügen. Minister Goh Keng Swee: »Es ist unsere Politik, das private Unternehmertum mit allen Mitteln zu fördern.« Dazu Lees Biograph T. S. George: »Singapur ist ein typischer Fall von weltanschaulicher Schizophrenie.«
Kaum jemand stellt deshalb auch die Frage, ob es für Singapur eine Alternative zu dem autoritären Regime Lees gibt. Denn der Zwergstaat ohne Hinterland und Bodenschätze ist politisch wie wirtschaftlich leicht verwundbar. Studentenunruhen, eine Radikalisierung der Arbeiter, ein paar Terroristen-Bomben bereits könnten eine Kapitalflucht auslösen und damit den Anfang vom Ende des unabhängigen Singapur bringen.
Ebenso leicht könnte eine politische Wende im benachbarten großen Malaysia Singapur zum Verhängnis werden. »Wir sind wie der Beifahrer auf dem Rücksitz eines Motorrades«, klagt ein Geschäftsmann, »auch wenn wir das Rad nicht steuern, bei einer Kollision werden auch wir verletzt.« Die Anhänger Lee Kuan Yews behaupten. nur ein autoritäres System biete wenigstens vorerst Garantien gegen solche Verletzungen.
Die weltweite Rezession ist aber auch an Singapur nicht spurlos vorübergegangen. Die Wachstumsrate sank 1975 auf vier Prozent. Die Ölkrise hat sich ebenfalls ausgewirkt -- 17 voreilig gebaute Bohrplattformen in Singapurs Gewässern sind außer Betrieb, einige Dutzend amerikanischer Bohrarbeiter-Familien kehrten heim. Schließlich gingen auch die Auslandsinvestitionen zurück -- die Firmen fürchteten, nach dem Vietnam-Debakel könnten auch bis dahin heile Dominosteine kippen.
Doch Singapur hat schnell reagiert. Die Gewerkschaften selbst verhängten -- ohne sichtbare Opposition der Arbeiter -- einen Lohnstopp. Die Geheimpolizei verhaftete einige angebliche »Kommunisten«, um die Bevölkerung zu warnen, daß man energisch durchgreifen werde und jedermann den Riemen enger schnallen müsse.
»Singapur ist ein Handelsplatz, und Lee ist der Polizist, der für Ordnung sorgt«, gibt einer der Lee-Kritiker zu. »Nur bricht er dabei zu vielen Leuten das Genick. Die einzige Alternative zu Lee wäre ganz einfach ein milderer Lee.«