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ABRÜSTUNG Singuläre Rolle

Um die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa gibt es neuen Streit zwischen Bonn und Washington.
aus DER SPIEGEL 44/1979

Noch bevor Chinas Ministerpräsident europäischen Boden betrat, waren sich der deutsche Kanzler und der französische Präsident einig. Sollte Hua Kuo-feng, so vereinbarten Helmut Schmidt und Giscard d?Estaing, in Bonn oder Paris allzu abfällig über Moskau reden, wollten sie den Gast in aller Öffentlichkeit zurechtweisen.

Als Hua in Frankreich den sowjetischen Erbfeind annahm, reagierte Giscard denn auch entsprechend schroff -und Schmidt ("Ich wäre sehr, sehr deutlich geworden") konnte sich wenige Tage später schroffe Sprüche sparen, den Besuch des Moskau-Gegners zur Demonstration der Geradlinigkeit seiner Politik gegenüber den Sowjets nutzen.

In Bonn wich der Chinese nicht vom Pfad staatsmännischer Zurückhaltung ab. »Aus zeitlichen Gründen«, so beschied er bei seiner Pressekonferenz am vergangenen Mittwoch die Journalisten, »und auch unter Berücksichtigung meines Gastgebers möchte ich nicht so sehr über die Angelegenheiten eines dritten Landes hier sprechen.«

Regierungssprecher Klaus Bölling lobte: »Das war mehr, als wir erwartet haben. Soviel Verständnis für die Haltung der Bundesregierung hat er während der ganzen Gespräche nicht gezeigt.«

Gastgeber Schmidt hatte allerdings auch vorgesorgt, daß der Mann aus Peking nicht den Beginn einer neuen Phase des Abrüstungsdialogs zwischen dem Westen und den Sowjets stört. Die Warnsignale an Hua waren überdeutlich -- bis zur Grenze der Unhöflichkeit gegenüber dem Gast und fast willfährig gegenüber dem Kreml.

Der Chinese, so der Schmidt-Sprecher Bölling in einem Rundfunk-Interview, werde es wohl nicht für ratsam halten, »die Auseinandersetzung, die sein Land mit der Sowjet-Union hat, hier bei uns auszutragen ... wir gehen davon aus, daß die Gäste sich im Interesse eines erfolgreichen Besuches so verhalten, wie wir das erwarten«.

Am maßvollen Auftreten des Bonn-Besuchers gegenüber Moskau war Kanzler Schmidt so gelegen, weil er Ärger mit Moskau gerade jetzt nicht brauchen kann -- um so weniger, als wenige Wochen vor der Sitzung des Nato-Rates in Brüssel neuer Streit mit den Amerikanern ausgebrochen ist.

Wenn die westlichen Regierungschefs Mitte Dezember die Produktion von 572 neuen Mittelstreckensystemen in Westeuropa beschließen, wollen sie zugleich den Russen Verhandlungen über eine Begrenzung der Mittelstreckenpotentiale anbieten. Von der Abrüstungsbereitschaft Moskaus soll es dann abhängen, wie viele Mittelstreckenraketen der neuen Generation tatsächlich in Europa und erstmals auch in der Bundesrepublik stationiert werden.

Der Kanzler aber hat die Stationierung der neuen Raketen auf westdeutschem Boden noch an eine andere, möglicherweise entscheidende Bedingung geknüpft. Wenn die einmal produzierten neuen Raketen in Europa an die US-Truppen ausgeliefert werden, so Schmidt, »müssen das viele nicht-nukleare Länder sein, nicht nur wir allein. Dies kommt nicht in Frage. Wenn es gemacht werden muß, dann muß das Risiko von allen getragen werden«.

Schmidt hatte triftigen Grund, seine seit Monaten vertretene Haltung nochmals hervorzukehren. Denn daß Ärger mit den Amerikanern ins Haus steht, wissen die Bonner, seit Botschafter Berndt von Staden den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht Anfang Oktober zu einer Unterredung mit Zbigniew Brzezinski, dem Sicherheitsberater des US-Präsidenten, begleitete.

Was der Missionschef nach Bonn kabelte, empörte den Kanzler gleich doppelt: Nicht nur, daß der Amerikaner sich ausgerechnet bei einem CDU-Mann über die zu geringe Steigerungsrate des Bonner Wehretats beklagte, Jimmy Carters Berater bediente sich des Christdemokraten Albrecht auch noch, um dem SPD-Kanzler zusätzliche Verhaltensmaßregeln zu geben.

Brzezinski verlangte von Schmidt, er solle es lieber unterlassen, soviel davon zu reden, die Bundesrepublik wolle bei der Stationierung der neuen Mittelstreckenwaffen »keine singuläre Rolle« spielen. Es stünde dem Bonner besser an, wenn er sich in seiner Handlungsfreiheit nicht durch die Entscheidungen anderer Regierungen beeinträchtigen lasse.

Am Montag letzter Woche stieß der einflußreiche demokratische Senator Sam Nunn nach: »Ich kann nicht glauben, daß der frühere deutsche Verteidigungsminister und jetzige Kanzler die künftige Sicherheit seines Landes und Westeuropas in die Hände des niederländischen Parlaments legen würde.«

Die Sorge der Amerikaner: Das gesamte Nachrüstungsprogramm könnte scheitern, wenn nicht-nukleare Nato-Partner sich gegen die Stationierung sperren und Schmidt bei seinem Nein bliebe.

Tatsächlich mehren sich die Anzeichen für europäische Unlust an den neuen Waffen. Auf Vorbehalte in den italienischen Regierungsparteien stieß letzte Woche Brzezinski-Stellvertreter David Aaron, und ob Hollands Regierung den Allianz-Beschluß im Dezember mittragen kann, hängt noch an der Zustimmung des Parlaments in Den Haag. Klaas de Vries, Vorsitzender des niederländischen Verteidigungsausschusses, berief sich schon auf deutsche Quellen, wonach auch Bonn auf die neuen Raketen verzichten werde, wenn sich die Holländer verweigerten.

Vorletzte Woche übernahm das Bonner Kabinett die Empfehlungen der vorbereitenden Nato-Gremien in einem geheimen Beschluß: In der Bundesrepublik sollen danach die 108 »Pershing-II«-Raketen und von den vorgesehenen 464 Cruise missiles in Holland, Belgien und Italien insgesamt 174 stationiert werden.

Vorbehalte gegen Brzezinskis Begehren, Schmidt solle weniger lautstark nach Teilung der Nuklear-Last rufen, gibt es ohnehin seit langem in der SPD. Sollte Schmidt auf Washingtons Linie einschwenken, müßte er auf dem Berliner Parteitag im Dezember mit einer starken Ablehnungsfront rechnen,

Und selbst wenn den Kanzler die Genossenschelte kalt ließe -- den Entspannungspolitiker Schmidt schrecken die Auswirkungen einer Atomachse Bonn/Washington auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen.

Wie ernst es Schmidt mit dem Fortgang der Entspannung meint, bewies er gegenüber dem chinesischen Herzenswunsch nach westlichen Waffen. Konsequent vermied er jedes Wort dazu, beim Rüstungskonzern MBB bekam der Chinese nur das zivile »Airbus«-Programm zu sehen.

Und als im Kanzleramt das Gerücht umging, die Franzosen hätten insgeheim mit Hua über die Lieferung von Panzerabwehrraketen des Typs »Hot« und »Milan« aus deutsch-französischer Koproduktion gesprochen, ließ Schmidt sofort im Elysee nachfragen. Erst ein eindeutiges Nein aus Paris beruhigte den Kanzler.

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