BUNDESKANZLER So als Test
Zu welch überraschenden politischen
Wandlungen Bundeskanzler Konrad Adenauer fähig ist, seit er und seine engsten Berater erkannt haben, daß nur noch ein neuer Habitus der westdeutschen Politik die Christlich-Demokratische Union im nächsten Jahr über die Bundestagswahlen retten kann, wurde in der vergangenen Woche deutlich.
Am 21. Oktober sprach Konrad Adenauer auf einer Landestagung der Jungen Union in der Dortmunder Westfalen-Halle. Mitglieder der Jungen Union, die in ihrem Kanzler bis dahin das Symbol westeuropäischer Einigungsbestrebungen erblickt hatten, mußten zu ihrer Verblüffung vernehmen, daß des Kanzlers stilles, gut verstecktes Interesse offenbar seit Jahrzehnten jenen Landstrichen gilt, die er bisher aus seiner Politik gewissenhaft ausklammerte: den Staaten im Osten und Südosten Deutschlands.
Konrad Adenauer sagte: »Insbesondere nachdem Jugoslawien sich von Sowjet-Rußland abgesetzt hat, haben wir und habe speziell ich - das darf ich hier sagen - mit größter Aufmerksamkeit immer wieder die Entwicklung in Ungarn und Polen beobachtet ... Ich habe mich seit einer Reihe von Jahrzehnten - ich weiß nicht mehr aus welchem Anlaß - mit der Geschichte des polnischen Volkes beschäftigt, und ich muß sagen, kein Volk in Europa ist seit dem 18. Jahrhundert so grausam behandelt worden wie das polnische Volk. Ich versichere Ihnen, die Entwicklung in Polen und dann die Entwicklung in Ungarn - in erster Linie aber in Polen - ist die ganze Hoffnung für mich gewesen, daß es eines Tages doch in Europa wieder zu Frieden und Freiheit für alle Völker kommen wird.«
Diese Ausführungen des deutschen Bundeskanzlers waren jedoch erst die Ouvertüre zu einer zweiten Rede, die er am Nachmittag desselben Tages hinter verschlossenen Türen vor einem auserwählteren Publikum hielt. Gegen 16 Uhr hatten sich die Mitglieder des wirtschaftspolitischen Ausschusses der westfälischen CDU im Goldsaal der Dortmunder Westfalen-Halle versammelt, um Konrad Adenauer anzuhören.
Ihr Vorsitzender, Rechtsanwalt Ferdinand Marx, begrüßte den hohen Gast. Der Anwalt, der den Kanzler nicht nur seit einer Reihe von Jahren gut kennt, sondern der darüber hinaus wie alle prominenten Christdemokraten in Westfalen (wo der Bruder Theo Blanks Landesgeschäftsführer der CDU ist) über die »bayrische Machtergreifung« im Zuge der jüngsten Kabinettsumbildung verärgert ist, erlaubte sich eine freie Sprache.
Die Gegner der CDU, so sagte er unter anderem, suchten der Partei durch die Behauptung zu schaden, daß der Bundeskanzler zu alt und zu schwach sei, um die Wahlen 1957 bestehen zu können. Seine Anwesenheit könne daher als eine Art Test genutzt werden, ob Konrad Adenauer nun wirklich zum alten Eisen gehöre oder noch »der Alte« sei.
Konrad Adenauer schluckte und begann: »Meine verehrten Damen und Herren. Ich muß aufrichtig gestehen, das ist mir noch nicht passiert.
Heiterkeit
Ich werde hier vorgeführt
Lachen
so als Test, ob ich noch mehr oder weniger zurechnungsfähig wäre.«
Erneute Heiterkeit
Getreu der Devise, daß der Angriff die beste Verteidigung sei, ging Konrad Adenauer dann die westfälischen Anhänger des gestürzten Ministers Theodor Blank an, der während der Kabinettsreform versucht hatte, sich das Ministeramt durch ein ärztliches Attest zu retten, das ihn gesund schrieb. Konrad Adenauer: »Ich bin vollkommen darauf gefaßt, daß man nachher an mich herankommt und von mir verlangt, ich solle mich einer Untersuchung durch Frau Dr. Steinbiss* unterziehen. Aber Herr Marx, ich bin auch dazu bereit ...«
Dann wurde der Kanzler ernst: »Nun möchte ich aber doch ein Wort zu dieser Frage sagen. Man sollte wirklich nicht der Auffassung sein, daß nun die ganze CDU und ihre Politik auf zwei Augen stehen, das ist immer gefährlich, gleichgültig, wie alt die beiden Augen sind. Seien Sie vielmehr überzeugt, daß innerhalb der CDU/ CSU, ich will nun nicht sagen außerordentlich viele, aber immerhin doch eine ganze Anzahl von Leuten sind, die genau dieselbe Politik weiterführen würden, die ich eingeschlagen habe, und mit denen ich so eng zusammenarbeite, daß ganz bestimmt daraus auch einer kommen würde, der dann die Führung, und zwar ohne große innere Kämpfe - ich wiederhole: große, kleine wird es immer geben - in die Hand nehmen würde. Seien Sie also überzeugt, lieber Herr Marx, gleich werde ich zu Frau Steinbiss gehen und mir ein schriftliches Attest geben lassen. Das können Sie dann veröffentlichen. Die ganze Sache würde ich aber nicht so tragisch nehmen.«
Die Heiterkeit, die nach Konrad Adenauers ersten Äußerungen im Goldsaal herrschte, war verstummt. Im Gegensatz zum Kanzler selbst schienen einige seiner Anhänger geneigt, seinen derzeitigen Zustand doch als tragisch zu betrachten. Dazu trugen Äußerungen bei, die der Kanzler im Laufe dieses Tages gemacht hatte, und deren Schlichtheit sich wenig von der jener Kernsätze unterschied, deren ständige Wiederholung bei den Christdemokraten in den letzten Jahren eine steigende Beunruhigung hervorgerufen hatte. An jenem Sonntag erklärte der Kanzler unter anderem:
- Die Welt ist sehr unruhig. Sie ist eigentlich so unruhig, im politischen Sinne gesehen - wie sie seit 1945 fast nicht gewesen ist. Ich brauche hier nur die drei Worte Suezkanal, Ägypten, Vorderer Orient zu sagen, dann wissen Sie alle Bescheid.«
- »Das entstalinisierte Rußland ist noch
gefährlicher als das stalinistische Rußland selbst. Lesen Sie darüber nur einmal eine Broschüre, die von dem Chefredakteur der ,Neuen Zürcher Zeitung' herausgegeben wurde, die zu genau demselben Ergebnis kommt.«
- »Wenn die SPD uns nicht immer wieder verdächtigte, wir versuchten nicht, die Wiedervereinigung herbeizuführen,wenn sie nicht diesen neutralistischen Kurs verfolgte, dann wären wir, glaube ich, in der Frage der Verhandlungen mit Rußland schon viel weiter, als wir jetzt sind.«
Aktuelle Kanzler-Kernsätze, die an jenem Sonntag im Goldsaal der Dortmunder Westfalen-Halle fielen, galten schließlich jenem Thema, das Konrad Adenauer schon am Vormittag vor der Jungen Union angeschnitten hatte, den Vorgängen im Ostblock: »Wir können nur hoffen und wünschen, daß es den Polen gelingt, aus der Abhängigkeit von Moskau herauszukommen.«
Lebhafte Zustimmung
»Wenn das kommt, dann haben wir auch den ersten, und zwar sehr großen Schritt zum Abbau der DDR und damit zur Wiedervereinigung getan. Die Polen waren immer ein tapferes Volk.
»Sicher, wir haben schwerwiegende Differenzen mit Polen wegen der Oder-Neiße-Linie, aber ich kann nur das wiederholen, was ich schon vor Jahr und Tag gesagt habe: Wir werden deswegen keinen Krieg führen ...
»Was aus den Vorgängen wird, wissen wir noch nicht. Wir können es noch nicht überschauen. Aber daß eine Lockerung des ganzen Gefüges daraus hervorgehen wird, das ist ganz sicher. Daß diese Lockerung des Gefüges die Sowjets geneigter machen wird - namentlich wenn wir die Wahlen gewonnen haben -, vernünftig mit uns zu sprechen, das ist allerdings meine Überzeugung. Zuruf: Aber Tito?
»Was soll der Tito hier? Wissen Sie, was Tito will? Zuruf. Nein
»Ich weiß es auch nicht.
Lachen
»Aber ich ahne, was er will. Tito ist ein sehr kluger Mann. Glauben Sie, das Beispiel Jugoslawien hat doch mitgeholfen, auch in Polen so zu wirken, und das Beispiel Polens wird auf Ungarn einwirken. Und jetzt sind die Rumänen nach Jugoslawien gegangen, um sich dort zu erkundigen. Alles müssen wir tun, alles, um so stark, so kräftig zu werden im Westen, wie nur möglich, damit dieses doch Risse zeigende Gebäude im Osten auch wirklich weitere Risse bekommt, und damit endlich einmal ein wahrhafter Friede in Europa und in der Welt kommt.«
Gestärkt durch diese eindrucksvolle Analyse der politischen Bewegung rundum können nun die westfälischen Parteifreunde des Kanzlers dem Wahlkampf entgegenschreiten.
* Viktoria Steinbiss, 64, CDU-Bundestagsabgeordnete aus Bielefeld und Ärztin.
Bundeskanzler Adenauer in Dortmund: Altes Eisen oder noch »der Alte«?