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ASYLRECHT So drastisch

Die Stuttgarter Landesregierung will Bonn zu härteren Maßnahmen gegen Asylbewerber zwingen.
aus DER SPIEGEL 8/1980

Jeden Abend um halb zehn, wenn in Stuttgart die planmäßige Maschine der »Alitalia« aus Rom und Mailand landet, machen sich die Beamten der Grenzschutzstelle auf ungeladene Gäste gefaßt. Denn immer häufiger befinden sich unter den Reisenden Gruppen von äthiopischen Staatsangehörigen, die bei der Paßkontrolle sogleich um Asyl in der Bundesrepublik Deutschland nachsuchen.

Vor zwei Wochen kamen an einem einzigen Wochenende 105, und vor Neujahr begehrten innerhalb von zwei Tagen 74 Äthiopier, darunter 20 Kinder, in Stuttgart Schutz vor politischer Verfolgung -- insgesamt mehr als 700 seit Oktober vergangenen Jahres.

Meist kommen die Flüchtlinge aus dem Sudan, gelegentlich aus Italien. Von Khartum aus ist Stuttgart, via Rom, von allen deutschen Flughäfen am billigsten und am schnellsten zu erreichen.

Ein großer Teil der Passagiere aus Afrika zeigt gefälschte Pässe vor, und die Erklärung, die sie den Grenzschützern geben, lautet immer ähnlich: Die falschen Dokumente seien Fluchtpapiere, als Eritreer fürchteten sie Verfolgung in der Heimat, seit dort eine Befreiungsfront für ein unabhängiges Eritrea gegen das Militärregime in Addis Abeba kämpft.

Da die Grenzbeamten Anweisung vom Bonner Innenministerium haben, »grundsätzlich die Richtigkeit des Vorbringens des Asylbegehrenden« zu »unterstellen« und »Zweifelsfälle« nicht »zu Lasten des Asylbegehrenden« zu entscheiden, verzichten die Kontrolleure in der Regel auf weitere Nachprüfung, stellen eine Meldebescheinigung aus und verweisen die Eritreer an die Ausländerbehörde der Stadt Leinfelden-Echterdingen, in deren Zuständigkeit der Flughafen liegt.

So drastisch stieg die Zahl der eritreischen Asylbewerber in den letzten Monaten, daß die 35 000-Einwohner-Stadt mit dem Ansturm kaum noch fertig wird. Weil Heime und Notunterkünfte überfüllt sind, mußte das Bürgermeisteramt Flüchtlinge in feinen Hotels unterbringen -- für Preise bis zu 140 Mark pro Nacht und Person.

Erbost kündigte Oberbürgermeister Walter Schweizer Anfang Februar an, die Stadt werde beim Verwaltungsgericht Stuttgart eine Einstweilige Anordnung gegen das Land erwirken, wenn Baden-Württemberg die Flüchtlinge nicht unverzüglich auf andere Kommunen verteile, wozu das Land nach dem Asylbewerber-Zuweisungsgesetz vom 3. April 1979 verpflichtet ist.

Mitten im Wahlkampf -- der neue Landtag wird am 16. März gewählt -mochte sich die CDU-Regierung im Musterländle nur ungern Versäumnisse vorhalten lassen. Flink präsentierten Ministerpräsident Lothar Späth und sein Innenminister Guntram Palm der Öffentlichkeit einen anderen Schuldigen: Bundesinnenminister Gerhart Baum von der FDP.

Schriftlich ließ Palm den »sehr geehrten Herrn Kollegen« in Bonn wissen, für die großzügigen Kontrollen des Bundesgrenzschutzes auf dem Stuttgarter Flughafen könne er »kein Verständnis« aufbringen. Mit »Besorgnis und Verwunderung« habe er gehört, daß sich viele asylheischende Eritreer vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik nicht nur vorübergehend, sondern jahrelang in Drittländern wie Italien und dem Sudan aufgehalten hätten.

Folglich, argumentierte der Landesminister, sei davon auszugehen, daß sie dort schon Schutz vor Vertolgung gefunden hätten -- zumal Italien und der Sudan die Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahre 1951 unterzeichnet haben und deshalb zu jenen Staaten gehören, die grundsätzlich Asyl gewähren.

Palm glaubte sich seiner Sache sicher. Denn nach der Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz bleibt jedem Asylbewerber die Aufnahme versagt, wenn er schon in einem anderen Staat als Flüchtling anerkannt ist.

Beim nächsten Gespräch der Ministerpräsidenten mit Helmut Schmidt am 29. Februar, verkündete der Baden-Württemberger, werde Landeschef Späth den Bundeskanzler »unmißverständlich mit der Frage konfrontieren, S.25 ob er weiterhin tatenlos zusehen wolle, wie das Land mit unechten Asylbewerbern überschwemmt werde«.

Auch Späth selbst sparte nicht mit starken Worten. Die »Schein-Asylanten-Lawine« müsse gestoppt werden, verlangte der Ministerpräsident letzte Woche und drohte Schmidt eine Untätigkeitsklage Baden-Württembergs gegen die Bundesregierung an, wenn Bonn nicht Maßnahmen ergreife, »um den Zustrom von Wirtschaftsflüchtlingen zu unterbinden«.

Die Bonner Sozialliberalen vermuten hinter den Attacken aus Stuttgart einen Streit ums Prinzip, der über die lokalen Ausländerprobleme der Stadt Leinfelden weit hinausreicht. Baum: »Der Palm hat genug Kasernen und Schulen, wo er die Leute unterbringen kann. Wenn der von Hotelpreisen redet, so ist das rein provokativ.«

Tatsächlich versucht die Union seit langem, die rasch steigende Flut von Asylbewerbern aus aller Welt möglichst schon an den Grenzen einzudämmen -- statt, wie bisher, die Flüchtlinge erst einmal ins Land zu lassen und den Asylanspruch dann in einem langwierigen Rechtsverfahren feststellen zu lassen.

Bayerns CSU-Innenminister Gerold Tandler war mit diesem Konzept schmählich gescheitert, als im vergangenen November publik wurde, daß seine Grenzpolizisten zwei Bittsteller aus der Tschechoslowakei in die Heimat zurückgeschickt hatten.

Vom Mißgeschick des Münchners keineswegs entmutigt, versuchen jetzt die Baden-Württemberger, Bonn unter Druck zu setzen: »Dem offensichtlichen Mißbrauch des deutschen Asylrechts«, so Späth, »muß endlich Einhalt geboten werden«, sonst befürchte er »bürgerkriegsähnliche Diskussionen« und das Ausbrechen einer »ungewollten Ausländerfeindlichkeit«.

Daß sich viele Zuwanderer mehr von den vergleichsweise üppigen Sozialhilfesätzen der Bundesrepublik anlocken lassen als von der Aussicht auf Recht und Freiheit, mag auch Baum nicht bestreiten. Die Zahlen sind eindrucksvoll genug: Während sich vor zwei Jahren 33 136 Personen um Asyl bewarben, waren es 1979 ungefähr 52 000, und im Januar dieses Jahres gingen allein 9700 Anträge für rund 11 000 Personen ein -- mehr als im ganzen Jahr 1976 zusammengenommen.

Um die Attraktivität des Flüchtlingslandes Bundesrepublik zu schmälern, einigten sich Bundestag und Bundesrat schon Mitte 1978 auf ein beschleunigtes Asylverfahren. Seither kann kein abgewiesener Antragsteller mehr in die Berufung gehen, wenn das Verwaltungsgericht seine Klage einstimmig als offensichtlich unbegründet zurückweist.

Die Zahl der Ausschüsse beim »Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge« in Zirndorf wurde »bis an die Grenze der Schreibkraft-Kapazität« (ein Baum-Berater) von sechs auf 28 erhöht, und seit dem 1. Januar dieses Jahres sind statt bisher eines Verwaltungsgerichtes (Ansbach) 17 für die Klagen nicht anerkannter Bewerber zuständig.

Im Bonner Innenministerium hoffen die Experten, daß derlei Maßnahmen die Verfahren auf anderthalb Jahre verkürzen -- früher dauerte es oft acht, bis ein abgewiesener Bewerber endgültig abgeschoben werden konnte. Die enorme Sogwirkung, die das liberale deutsche Asylrecht auf Ausländer ausübt, wäre damit zweifellos entscheidend geschwächt.

Viel mehr geht freilich nicht, wenn nicht das Grundgesetz geändert werden soll, das in Artikel 16 jedem politisch Verfolgten ein Recht auf Asyl garantiert.

Klassische Asylländer wie die Schweiz kennen dagegen nur das Recht des Staates, verfolgten Ausländern Schutz zu gewähren.

Auch zunehmender Mißbrauch, so die Position der Bonner, rechtfertige es nicht, diesen Grundsatz in Frage zu stellen -- eben das aber wäre der Fall, wenn der Grenzbeamte, mit quasi richterlichen Funktionen versehen, unter Ausschluß des Rechtsweges über die Zulässigkeit eines Asylbegehrens zu urteilen hätte.

Schon die Festellung, ob ein Äthiopier, der eine Zeitlang in Italien oder dem Sudan gelebt hat, dort Schutz vor Verfolgung gefunden habe oder nicht, müsse die Paßkontrolleure überfordern.

Denn Italien, so belehrte Baum den Beschwerdeführer Palm in seinem Antwortschreiben, habe die Genfer Konvention mit der Einschränkung unterschrieben, das Abkommen nur auf europäische Flüchtlinge anwenden zu wollen, und der Sudan erkennt als Asylgrund lediglich Ereignisse an, die vor 1951 stattfanden.

Baums Fazit: »Ein längerer Aufenthalt in einem Konventionsstaat genügt allein nicht für die Annahme, der Ausländer habe bereits Schutz vor Verfolgung gefunden.«

S.24Am 31. Januar in Leinfelden.*

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