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»So erreiche ich Millionen«

aus DER SPIEGEL 10/1978

SPIEGEL: Herr Bundespräsident, Sie bekommen für Ihre Amtsführung inzwischen viel Beifall. Ein Jahr vor Ablauf Ihrer ersten Amtsperiode wird aber über Ihre Zukunft so gesprochen, als hänge es überhaupt nicht davon ab, wie gut Sie das Amt ausgefüllt haben. Ihre Wiederwahl hängt allein von taktischen Überlegungen der Parteien ab. Enttäuscht Sie das?

SCHEEL: Die Wahl des Bundespräsidenten ist durch die Väter des Grundgesetzes der Initiative der Parteien überlassen. Nun wäre es einfach weltfremd anzunehmen, die Parteien würden sich bei ihren Überlegungen strikt nur an die Eignung des Kandidaten halten. Nein, die Parteien werden alle politischen Probleme, die zur Wahlzeit eine Rolle spielen, mit in ihre Überlegungen einbeziehen. Ich meine, das ist legitim. Auf keinen Fall darf das Amt Teil eines politischen Handels werden.

SPIEGEL: Wir haben zum erstenmal einen Bundespräsidenten, von dem wir nicht wissen, ob er für eine Wiederwahl bereitsteht. Er hat sich nicht geäußert, er steht also, theoretisch mindestens, zur Wahl. Das ist eine besondere Situation.

SCHEEL: Ich werde keinerlei Signal geben, das die Entscheidungsfreiheit der Parteien einschränken könnte. Ich glaube, das ist das korrekte Verhalten, das man von einem Bundespräsidenten, der im Amt ist, erwarten kann ...

SPIEGEL: ... es sei denn, er sei fest entschlossen, wie Gustav Heinemann es war, nicht wieder zu kandidieren. Das kann er dann auch rechtzeitig bekanntgeben.

SCHEEL: Ich glaube, man muß hier doch einen Unterschied machen. Gustav Heinemann war fest entschlossen, nicht wieder zu kandidieren aus ganz persönlichen Gründen, wegen seines Alters und seiner Gesundheit. Da bei mir solche Gründe nicht vorliegen, ich sie auch nicht vortäuschen kann, würde im Augenblick ein Signal, nicht zu kandidieren, als politisch motiviert verstanden werden können. Dies möchte ich vermeiden.

SPIEGEL: Glauben Sie, Ihre Popularität wird es der Union schwermachen, in der von ihr beherrschten Bundesversammlung einen eigenen Kandidaten durchzusetzen?

SCHEEL: Die Parteien sind völlig frei zu entscheiden, ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung.

SPIEGEL: Sie haben in Ihrer bisherigen Amtszeit des öfteren beklagt, daß die Politiker ihre Aufgaben nur mangelhaft erfüllen. Was ist der Generalnenner Ihrer Kritik?

SCHEEL: Ich sehe, daß die Parlamente mit täglich zu lösenden Aufgaben, mit Krisenmanagement bis über die Ohren zugedeckt werden, mit ungelösten Fragen etwa des Arbeitsmarktes, der Konjunkturentwicklung, der Währung, des Terrorismus, der Renten. Die Politiker können nicht mehr Schritt halten mit der stürmischen Entwicklung in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Täglich ergeben sich Probleme, denen sie hinterherlaufen. Dabei bleibt ihnen kaum noch Zeit für mittelfristige und zukunftsorientierte Politik.

SPIEGEL: Politiker müssen sich immer erst um das Vordringliche kümmern.

SCHEEL: Lösungsmodelle für mittelfristige und zukunftsorientierte Politik würden Erleichterungen in der Tagesarbeit bringen. Sie würden die täglich notwendige Entscheidung in einen Zusammenhang stellen und sie auf ein einheitliches Ziel ausrichten. Wir müssen stärker als bisher uns vorzustellen versuchen, wie unsere Welt im Jahre 2000 und darüber hinaus aussehen wird. Wir müssen dafür sorgen, daß wir -- und damit meine ich nicht nur die Menschen in den Industriestaaten, sondern vor allem auch die in den

* Mit SPIEGEL-Redakteuren Paul Lersch, Dirk Koch und Rudolf Augstein.

Entwicklungsländern -- im Jahre 2000 menschlich leben können. Menschlich leben heißt für mich, in Würde und Freiheit leben.

SPIEGEL: Wo ist der Nutzen solcher Perspektiven für die praktische Politik?

SCHEEL: Der Bürger braucht ein Bild der Zukunft, um Vertrauen in die Zukunft zu gewinnen, Vertrauen in die Politiker. Heute erleben Sie beim Bürger eine gewisse Skepsis, ob denn unsere demokratischen Institutionen in der Lage sind, alle diese großen Aufgaben auch zu lösen, die vor uns liegen. Dem Bürger fehlen die Orientierungspunkte, ihm fehlt eine Utopie. Er braucht aber Angebote und Alternativen. Die Parteien und Politiker tun sich schwer. Das Krisenmanagement läßt ihnen kaum Zeit zum Luftholen. Sie müßten sich um Gesamtkonzepte bemühen, in denen alles zusammenpaßt: Energie- und Wirtschaftspolitik, Verkehrspolitik und Umweltschutz.

SPIEGEL: Wer soll ein Gesamtkonzept entwerfen, wenn niemand bei lebenswichtigen Fragen genau sagen kann, was richtig ist? So hat der Direktor des Instituts für Kernphysik an der Universität Münster, Erich Huster, in einem offenen Brief bedauert, daß der Bundespräsident sich ohne hinreichende Kompetenz für die friedliche Nutzung der Kernenergie einsetzt.

SCHEEL: Die Atomkraftwerke standen doch schon, als die Diskussion begann. Wie sind wir denn in diese Lage geraten? Doch nur dadurch, daß wir in der Vergangenheit blind dem Fortschritt Glauben geschenkt haben und alle diese Entwicklungen nicht etwa politischen Entscheidungen unterwarfen.

SPIEGEL: Also die Politik hat versagt?

SCHEEL: Wir sind zu spät an die politische Entscheidung gegangen. Wir haben fortschrittsgläubig jede technische Entwicklung gutgeheißen. Als Fortschritt wurde es bezeichnet, daß man mit immer mehr Automobilen fährt, daß jeder Mensch seinen Wagen hat und manche Familien sogar schon zwei. Die Folgen aber haben wir nicht bedacht, daß die Luft verschmutzt wird, daß unsere Landschaft von unendlich vielen betonierten Straßen zerschnitten wird, daß unser Energieverbrauch in rasender Geschwindigkeit sich erhöht hat. Und wir haben in die Zukunft hinein planen lassen, daß Kraftwerke der verschiedensten Art gebaut wurden.

SPIEGEL: Bei Ihrer Skepsis gegen den Fortschritt hätten Sie eigentlich nein zur Atomkraft sagen müssen.

SCHEEL: Ich habe bei meiner Entscheidung die Risiken gegeneinander abgewogen: die Gefahren der nuklearen Technologie und die Gefahren des Energiemangels. Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß Verzicht auf Atomenergie in die Katastrophe führt. Die Ölreserven sind so gering, daß der Verteilungskampf bis zum Krieg ausarten kann.

Ich habe aber auch gesagt, daß die deutlich werdenden Grenzen der Zukunft uns zwingen, über eine Umorientierung unseres Glaubens und Lebens nachzudenken. Sie würde heute noch unabsehbare Probleme mit sich bringen. Um diese zu erkennen und zu lösen, brauchen wir mindestens die Zeit einer Generation. Und in dieser Zeit kommen wir ohne Kernenergie nicht aus. Kernenergie also nicht, um uns mit immer größeren Risiken immer größeren Wohlstand zu verschaffen, sondern um die Frist zu verlängern, in der wir ohne völligen Zusammenbruch unserer Zivilisation umdenken können.

Viel ist schon gewonnen, wenn man solche Probleme breit diskutiert. Nur auf diesem Weg kann man ungerechtfertigte Ängste ausräumen.

SPIEGEL: Wie sollen die Bürger Vertrauen haben? In den wichtigsten Fragen sind Berechnungen nur schwer anzustellen. Bei den Renten -- um ein anderes Beispiel zu nennen -- haben wir es zu tun mit der Unfähigkeit, überhaupt Zukunftsprognosen zu betreiben.

SCHEEL: Das ist richtig. Vielleicht wäre es gut, man würde in der öffentlichen Diskussion immer strikt bei der Wahrheit bleiben und nicht Erwartungshorizonte aufbauen, die nachher nicht erfüllt werden können. Wir haben in die Zukunft hinein wirtschaftliche und soziale Entwicklungen projiziert bis zur dritten Stelle hinter dem Komma und haben später bemerkt, daß dies eben nicht möglich ist, weil, Gott sei Dank, in unserem Gemeinwesen das Entscheidende immer noch der Mensch ist. Und der ist unberechenbar.

SPIEGEL: Die Verhältnisse sind unberechenbar.

SCHEEL: Der Mensch prägt die Verhältnisse. Sachzwänge erkenne ich nicht an. Denn Sachzwänge sind bei Politikern meist Entschuldigungen für den Mangel an Entscheidungskraft. Auch Wissenschaft und Technik dürfen sich nicht unkontrolliert und ungehemmt entwickeln.

SPIEGEL: Ihre Skepsis gegenüber dem Fortschritt bringt Sie in den Verdacht, ein Konservativer zu sein.

SCHEEL: Ich will Ihnen mit einem Zitat von Günter Grass antworten. Er hat in einem Interview gesagt: »Wenn sie als konservativ bezeichnen, daß ich ein abgrundtiefes Mißtrauen unseren Fortschrittsbegriffen gegenüber habe, dann bin ich gern konservativ. Wer das noch nicht sieht, daß unser vulgäres technologisches Fortschrittsdenken uns von einer Sackgasse in die nächste geführt hat und weiterhin führt, der mag sich gern als progressiv begreifen. Ich glaube, daß unser Fortschrittsbegriff einer radikalen Revision bedarf, wenn wir als menschliche Gesellschaft überhaupt überleben wollen.« Das ist es. Es gibt so viel Erhaltenswertes. Nicht alles, was besteht, muß um eines Fortschrittes willen zerstört werden. Und nicht jeder Fortschritt ist gleichermaßen nützlich für die Lebensqualität der Menschen.

SPIEGEL: Zum Beispiel sind Sie gegen die Einführung der Kooperativen Schule. Sie haben vor Schülern entsprechende Andeutungen »als Vater« gemacht und damit das Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen gegen die Koop-Schule unterstützt.

SCHEEL: Wenn das zutreffen würde, daß ich aktiv in die Politik eingegriffen haben sollte in diesem Zusammenhang, dann muß ich das getan haben mit den Worten: »Ich habe nicht die Absicht, in den aktuellen Streit um diese Schulreform einzugreifen.«

SPIEGEL: Wenn Sie so argumentieren, dann kommt uns das vor, als ob ein Blatt sechs Seiten unanständige Bilder bringt und sagt, solche Bilder wollen wir nicht mehr sehen.

SCHEEL: Ich habe nie den Eindruck erweckt, daß ich allzu zimperlich bin, mich in politischen Fragen zu äußern. Nur glaube ich sagen zu dürfen, keine Partei im Bundestag wird mir vorwerfen wollen, ich hätte in politischen Fragen in einer Weise Partei genommen, daß es eine Fraktion als unangemessen empfunden hätte.

SPIEGEL: Die Union freut es mehr, die Sozialliberalen weniger. Wir haben viele Vorwürfe gehört.

SCHEEL: Ich nicht, aber wenn es welche gibt, muß ich das in Kauf nehmen. Welche Schlußfolgerungen man aus meinen Worten zieht, das ist eine Sache derjenigen, die diese Schlußfolgerungen ziehen. Immerhin, ich habe nichts gegen die öffentliche Diskussion der vermuteten Gedankengänge des Bundespräsidenten und Vaters Walter Scheel.

SPIEGEL: Haben Sie sich beim Volksbegehren in die Liste der Koop-Gegner eingetragen -- sei es auch nur als Vater Walter Scheel?

SCHEEL: Nein, die Eintragung wäre doch eine Parteinahme gewesen. Nun haben kluge Beobachter geglaubt, aus meinen Reden über allgemeine bildungspolitische Fragen meine Einstellung zur Koop-Schule ablesen zu können.

SPIEGEL: Sie haben sich gegen den Massenbetrieb in den Schulen, gegen das Kurssystem ausgesprochen. Aus all dem war sehr leicht zu entnehmen, was Sie meinen.

SCHEEL: Ich glaube, wir haben überall menschliche Bezüge und feste Bindungen aufgelöst. Die Eltern tun sich heute schwer, ein Familienleben aufrechtzuerhalten, weil es so viele Reize gibt, die die einzelnen auseinandertreiben. Zusammen vor dem Fernsehgerät zu sitzen, ist ja nicht unbedingt als Familienleben zu bezeichnen. In einer Vorstadtsiedlung in einem riesigen Silo gibt es keine nachbarschaftlichen Beziehungen. Ich habe früher als Junge, mit allen möglichen Wurfgeschossen ausgerüstet, Straßenkämpfe ausgeführt. Das gibt es immer weniger, weil es solche Straßengemeinschaften vielerorts nicht mehr gibt. Natürlich war es auch schön, Angehöriger einer Schulklasse zu sein. Das gibt es ja heute kaum noch, weil sich die Schulklassen allmählich auflösen.

SPIEGEL: Wenn man Ihnen zuhört, fällt einem unwillkürlich Helmut Kohl ein, der auch gerne von der guten alten Zeit, von seiner Penne schwärmt Ihre Nähe zu einem CDU-Politiker ist wohl kein Zufall. Sie wollen ia auch den einzelnen Menschen wieder stärker in den Mittelpunkt der Politik gerückt sehen.

SCHEEL: Ich bin fest davon überzeugt, daß SPD-Politiker und ganz bestimmt FDP-Politiker auch so denken. Das ist wohl keine Frage der Parteipolitik, es sei denn der Ideologie. Mit Sicherheit bin ich ein Gegner aller kollektivistischen Tendenzen. Das ist ganz klar.

SPIEGEL: Wenn Sie in Ihren Reden den »Sinn für Familie und Heim« preisen, das »Nachlassen der Lebensfreude« und den »Verlust an Geborgenheit« beklagen, hört sich das recht biedermeierlich an.

SCHEEL: Warum sollen wir so einfache Worte wie Liebe, Treue, Heim, Geborgenheit und ähnliches, warum sollen wir sie nicht benutzen? Das sind doch elementare Gefühle, die zwischen den Menschen bestehen, die wir ja nicht etwa ausrotten wollen, sondern, im Gegenteil, die wir um des Menschen willen fördern wollen.

SPIEGEL: Bei allem Respekt haben wir große Zweifel an der Wirkung ihrer Mahnungen und guten Absichten. Daß neue Gesamtkonzepte in der Politik nötig sind, haben vor Ihnen ebenso erfolglos schon viele gefordert. Sie sagen bloß, wie bisher geht es nicht weiter. Sie scheuen sich aber, Konsequenzen zu benennen -- ob wir neue Steuerungsinstrumente, etwa Investitionslenkung, brauchen.

SCHEEL: Ein Einzelner wird, selbst wenn er wollte, nicht in der Lage sein, eine Patentlösung anzubieten. Am allerwenigsten kann das der Bundespräsident. Es ist nicht seine Aufgabe. Ich glaube, daß wir erst am Anfang einer großen Debatte über die Grenzen der Zukunft, über den Sinn und das Ziel der Wissenschaften, der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung und über das Nord-Süd-Verhältnis stehen. Politische Konzepte und Alternativen werden sich erst allmählich herausbilden. Was ich tue, und zwar mit erkennbarem Erfolg, ist über diese Dinge öffentlich zu reden, um den Dialog zwischen Bürger und Parteien und damit den Spielraum der Politik zu erweitern.

SPIEGEL: Hat sich aufgrund Ihrer Mahnungen irgend etwas an der Politik der Parteien oder der Regierung geändert?

SCHEEL: Sie können Erfolg sicherlich nur auf ganz anderen Gebieten messen. Ich will ein Beispiel nennen, wie sich der Einfluß des Bundespräsidenten auswirkt Ich habe die Parteien angeregt, sich zusammenzusetzen, hier in meinem Hause, um zu überlegen, ob sie nicht zum Berlin-Problem ein gewisses Maß an Übereinstimmung erzielen und sich auch mal zu gemeinsamem Handeln bereitfinden können.

SPIEGEL: Das Berlin-Problem in Ehren, aber Ihre Klagen über Versäumnisse der Politik zielen in eine ganz andere Richtung. Wo sind da Erfolge?

SCHEEL: Ein anderes Beispiel: Ich habe ja in manchen Reden gesagt, wir müssen uns mit Problemen und Ursachen des Terrorismus in einer anderen Weise auseinandersetzen, als das mancher vordergründig tut. Vor kurzem hat Herr von Weizsäcker darüber eine Rede gehalten, die ich für das Beste halte, was auf diesem Gebiet bisher öffentlich gesagt worden ist. Ich lasse sie gerade den Schülern der Oberstufe zuschicken, um Diskussionen darüber in Gang zu setzen. So erreiche ich Millionen.

SPIEGEL: Wir möchten noch einmal ganz konkret fragen, Herr Bundespräsident: Denkt der Bundeskanzler über das nach, was Sie in vielen bedenkenswerten Reden geäußert haben, die ja alle als imaginären Adressaten die Bundesregierung haben?

SCHEEL: Die Reaktion, wie ich sie in Gesprächen erkannt habe, ist eine positive. Der Bundeskanzler hat mich nach manchen Reden angerufen oder mich bei anderer Gelegenheit angesprochen und ausdrücklich bestätigt, daß er in wichtigen Gedanken mit mir übereinstimmt und daß er es für nützlich hält, in der Öffentlichkeit darüber eine Diskussion in Gang zu setzen ...

SPIEGEL: ... und gesagt, er müsse nur leider eine andere Politik machen ...

SCHEEL: Nein, das kann man so nicht sagen.

SPIEGEL: ... das kann man schon. Denn obwohl Sie beispielsweise unablässig mehr Hilfe für die Entwicklungsländer fordern, beruft sich die Regierung auf leere Kassen.

SCHEEL: Ich glaube, das wird auf längere Sicht nicht so bleiben. Aber es ist ein Ärgernis, daß unsere Bemühungen so gering sind. Was ich auf diesem Gebiet tue, ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie die Wirkung sein soll. Ich will die öffentliche Meinung verändern, die Bundesregierung kann dann ihre Leistungen erhöhen, wenn das gelungen ist.

SPIEGEL: Da kann sie noch lange warten. Sie könnten ein Engel mit Flügeln sein und möglicherweise doch nicht viel ändern.

SCHEEL: Ihnen kommt es auf die Beeinflussung an mit einem Monatsausweis. Jüngste Meinungsumfragen bestätigen übrigens, daß die große Mehrheit der Bürger, vor allem der jüngeren, Entwicklungshilfe für notwendig hält. Ich vermute, daß ich dazu als Wanderprediger in Sachen Entwicklungshilfe beigetragen habe.

SPIEGEL: Glauben Sie, auch nur eine der vier Bundestagsparteien sei fähig, die notwendigen Konzeptionen zu entwickeln, um den von Ihnen beklagten Problemstau zu bewältigen?

SCHEEL: Ja, und zwar jede auf ihre Weise. Die sollen aus ihren unterschiedlichen Wertvorstellungen heraus ihre Konzepte entwickeln. Es wäre gut, wenn wir in elementaren Fragen die Parteien besser voneinander unterscheiden könnten und wenn sie längerfristige politische Perspektiven alternativ anböten.

SPIEGEL: Aus Ihren Worten kann man ableiten, daß ein Regierungswechsel keine Vorteile brächte, also überflüssig wäre?

SCHEEL: Das ist eine Auffassung, die Sie sicherlich im Lager der Regierung antreffen können. Die Opposition wird eine andere Meinung haben.

SPIEGEL: Nehmen wir mal an, Willy Brandt wäre Bundespräsident worden. Dann wären Sie mit großer Wahrscheinlichkeit Parteiführer der FDP geblieben. Würde der Parteivorsitzende Scheel ähnlich sprechen wie jetzt der Bundespräsident? Würden Sie dafür sorgen, daß die FDP wieder Motor der Politik wird?

SCHEEL: Ich weiß nicht, welche Erkenntnisse ich dann gesammelt hätte. Jetzt sind es die Erkenntnisse des die Dinge vielleicht etwas distanzierter beobachtenden Bundespräsidenten. Aber ich bin davon überzeugt, daß die FDP bei ihren ja wieder einsetzenden Beratungen über die Entwicklung politischer Perspektiven manche meiner Anregungen mit aufnimmt.

SPIEGEL: Sie könnten auch als Bundespräsident mehr Wirkung erzielen, wenn Sie Mißstände konkreter ansprechen würden, etwa die Praktiken es Erfassungsschutzes oder des MAD am Rande oder außerhalb der Legalität. Dazu schweigen Sie.

SCHEEL: In allgemeiner Form ist das, was Sie meinen, in allen meinen Reden enthalten. Aber ich bin kein Kontrollorgan der Regierung. Ich würde mich meiner Wirkungsmöglichkeiten begeben, wenn ich in einem konkreten politischen Streit Partei ergreifen würde.

SPIEGEL: Wir erwarten auch keine Mängelrüge für Innenminister Maihofer oder für Ex-MAD-Chef Scherer. Wir fragen nur, ob nicht ein paar politisch-moralische Anmerkungen des Präsidenten über Geheimdienste im Rechtsstaat angebracht wären.

SCHEEL: Ich bin der Meinung, daß sich mit den konkreten Fällen das Parlament befassen muß. Das Parlament hat ja auch die Aufsicht über die Geheimdienste.

SPIEGEL: Bei Ihren Presseschelten waren Sie weniger zimperlich. Die Journalisten haben sich nach Ihrer Ansicht zu sehr über die staatlichen Bemühungen aufgeregt, Radikale aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten.

SCHEEL: Ich habe darauf hingewiesen, daß häufig Fragen von verhältnismäßig geringer Bedeutung zu Staatsaffären hochstilisiert und so die Perspektiven für den Leser verzerrt werden.

SPIEGEL: Aber gerade die kritische Beschäftigung mit dem Radikalenerlaß scheint uns nicht das richtige Beispiel für falsche Prioritäten in der Presse zu sein. Gerade dieser Erlaß berührt eine Kernfrage des Rechtsstaates, die Berufsfreiheit.

SCHEEL: Kein Zweifel, das ist ein wichtiger Vorgang. Ich habe nur festgestellt, daß die Presse das Thema viele Wochenlang unter der falschen Überschrift »Berufsverbot« behandelt hat. Daß aber bei uns die Alarmglocken gehen, wenn auch nur das leiseste Wölkchen am Himmel andeutet, irgendwo könnte die Freiheit der einzelnen berührt werden, das habe ich positiv gewertet.

SPIEGEL: Ein leichtes Wölkchen?

SCHEEL: Durch den Umfang der Kritik und die falsche Überschrift ist tatsächlich die Diskussion verzerrt worden. Vor allem aber haben sich auch im Ausland Verzerrungen ergeben, weil dort der Eindruck entstanden ist, in Deutschland könne willkürlich jemandem verboten werden, einen bestimmten von ihm gewünschten Beruf auszuüben. Willy Brandt war damals Bundeskanzler. Und ihm wird kein Mensch nachsagen wollen, daß er die persönlichen Freiheiten abschaffen wollte.

SPIEGEL: Das wollen wir Herrn Schmidt auch nicht nachsagen. Nur das ist nicht der Punkt. Die Presse hat die Sache gar nicht hochgespielt. Man kann ihre Bedeutung gerade unter der Jugend nicht hoch genug einschätzen. Die Presse hat das erst hinterher wiedergegeben.

SCHEEL: Wenn Sie mir erlauben, ich teile diese Meinung nicht. Es gab keine Massenbewegung unter Betroffenen, sondern nur eine geschickt gesteuerte Aktion einzelner Gruppen. Und hier kann ich wieder ein Beispiel geben für die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundespräsidenten. Ich habe sehr deutlich in einer Rede in Hamburg die Wirklichkeit unserer Demokratie dargestellt und die Verzerrungen, die gerade im Ausland sichtbar geworden sind, zurechtzurücken versucht. Die Wirkung ist eindeutig ablesbar. Denn seither sind die Berichte in der Auslandspresse erheblich objektiver geworden.

SPIEGEL: Sehr schön, aber meinen Sie wirklich, es habe keine Mißbräuche gegeben, die den Alarm rechtfertigten?

SCHEEL: Ich höre immer wieder von Mißbräuchen. Ich nehme das sehr ernst. Wir müssen aufmerksam sein und alles tun, um Mißbräuche zu verhindern. Man sollte ja gerade den

gen Menschen zu erläutern versuchen, daß die Prüfungen zur Aufnahme in den öffentlichen Dienst dem Schutze der Gemeinschaft gegenüber massiven Angriffen auf die freiheitliche Demokratie dienen. Man sollte den jüngeren Menschen aber auch sagen, daß die Vereinheitlichung der Prüfungspraxis den Bewerbern mehr Rechtssicherheit geben sollte.

SPIEGEL: Aus Ihren Worten spricht der Wunsch, daß die Deutschen ein positiveres Verhältnis zum Staat finden, als es Ihr Amtsvorgänger Heinemann für notwendig hielt. Nach Lektüre Ihrer Reden hatten wir eigentlich den Eindruck, daß sich Ihr Staatsverständnis gewandelt habe. Sie sprachen von den »dunklen Seiten« und vom »Alptraumhaften« der deutschen Geschichte.

SCHEEL: Ich habe schon in einer meiner ersten Reden ganz eindeutig das Problem unseres Staates nach dem Kriege definiert. Ich habe gesagt, daß erst die volle Anerkennung der Last unserer Geschichte der jüngsten Zeit uns das Recht gibt, die 30 Jahre Demokratie und die Leistungen in diesen 30 Jahren mit Stolz vor der Welt zu vertreten. Eine freiheitliche Demokratie kann nur leben, wenn sie in der Geschichte verwurzelt ist. Aber es muß die ganze Geschichte sein.

SPIEGEL: Kann ein Deutscher überhaupt ein unbefangenes Verhältnis zur Geschichte, zu diesem Staat haben? Muß das Verhältnis nicht problematisch bleiben, wie es Heinemann verstand, als er von unserem »schwierigen Vaterland« sprach und zu »kritischer Distanz« aufforderte?

SCHEEL: Ich wünsche mir, daß die Bürger zu diesem Staat eine »kritische Sympathie« entwickeln. Der Staat ist nicht nur ein Zweckverband, der die einzige Möglichkeit bietet, die Interessen von Gruppen und einzelnen auf beste Weise zu wahren, sondern er ist ja mehr: ein freiheitlicher und sozialer Rechtsstaat. Und ich meine, er ist der beste, den wir je gehabt haben. Die junge Generation hat das Elend des Nationalsozialismus und den Niedergang der Weimarer Republik nicht mitgemacht. Sie weiß wenig von Freiheit. Denn Freiheit empfindet man überhaupt erst richtig, wenn sie verloren ist.

SPIEGEL: Herr Bundespräsident, Sie erlauben einen ketzerischen Einwurf? Den freiheitlichsten Staat der deutschen Geschichte hatten wir zu Zeiten der Großen Koalition. Wir haben ihn heute nicht mehr.

SCHEEL: Weil die Große Koalition das Notstandsgesetz durchgebracht hat?

SPIEGEL: Sicher nicht wegen des Notstandsgesetzes. Rückblickend sehen wir, daß sich seither die Zustände immer mehr verschlechtert haben.

SCHEEL: Ich muß dem widersprechen. Man kann nicht sagen, daß dieser Staat an Freiheit verloren hat. Wenn er gegen Einzelne, die in diesem Staat die Freiheit abschaffen wollen, Schutzmaßnahmen trifft -- ich muß sagen, in einem Umfange, über den vergleichbare Länder an unseren Grenzen nur milde lächeln -, dann kann von Verminderung der Freiheit keine Rede sein.

SPIEGEL: Hier werden nicht nur einige Terroristen getroffen oder einige, die durch Zufall als solche verdächtigt worden sind. Wenn ein Rechtsanwalt, und zwar einer, der nicht einmal Terroristen verteidigt, die Hose runterlassen muß, wenn er Mandanten in der Haft besucht, dann ist doch eine gewisse Irritation angebracht.

SCHEEL: Sie werden verstehen, daß ich mich zu einem solchen Thema nur äußern kann, wenn ich über ganz präzise Informationen verfüge, und solche Informationen fehlen mir hier. Im übrigen ist die Gesetzgebung und die Handhabung der Gesetze zum Terrorismus zur Zeit derart im Parteienstreit, daß ich mich dazu nicht äußern kann. Ich würde das nur tun, wenn wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien verletzt würden. Das sehe ich bisher nicht.

SPIEGEL: Im Bundestag werden derzeit viele Gesetze vorbereitet, nicht nur gegen den Terrorismus -- Stichwort Meldegesetz, Stichwort Datenschutz -, die auch die Freiheit der vielen einschränken. Scheint es Ihnen nicht an der Zeit, daß der Bundespräsident mit der Autorität seines Amtes solchen Tendenzen entgegenwirkt?

SCHEEL: Ich habe das in der Vergangenheit schon getan. Vor der Universität Tübingen zum Beispiel habe ich darauf hingewiesen, daß trotz Terrorismus auf gar keinen Fall Emotionalisierung gefördert werden sollte. Natürlich muß eine freiheitliche Demokratie dafür sorgen, daß jeder einzelne ein Höchstmaß an individuellen Freiheiten hat, aber sie muß auch dafür sorgen, daß die Mehrheit der Bürger vor den Gewaltabsichten anderer geschützt wird. Eine gewisse gelassene Betrachtungsweise sollte Grundlage der Überlegungen und des Handelns sein.

SPIEGEL: Herr Bundespräsident, Sie haben in diesem Gespräch dargelegt, daß wir in der Bundesrepublik mit einem großen Problemstau fertig werden müssen. Dazu sind aber unpopuläre Entscheidungen nötig, die keine der Parteien im Alleingang treffen möchte. Braucht eine Regierung, die sich daran machen will, eine breite Mehrheit?

SCHEEL: Sie können sich vorstellen, daß ich nie die Meinung vertreten habe, wichtige politische Fragen seien am besten zu lösen ...

SPIEGEL: ... Ohne die FDP ...

SCHEEL: ... nein, mit großen Mehrheiten. Ich habe ja selbst erlebt, daß eine der wichtigsten politischen Fragen in der Vergangenheit sich eben nur mit einer kleinen Mehrheit überhaupt anfassen ließ: die Ost- und Deutschlandpolitik. Dazu war die Große Koalition ja nicht in der Lage. Ich glaube, wichtige Probleme zu losen, das ist einfach die Frage der inneren Kraft einer Mehrheit, unabhängig von ihrer Größe.

SPIEGEL: Sie haben früher einmal davon gesprochen, daß der Vorrat an Gemeinsamkeiten in jeder Koalition allmählich abnimmt und damit auch deren innere Dynamik. Könnte eine neue Koalition neuen Schwung in die Politik bringen?

SCHEEL: Ich will auf diese Frage keinerlei Antwort geben, weil sie in den Überlegungsbereich gehört, den die Parteien füglich sich selbst vorbehalten müssen. Der Bundespräsident hat zu dieser Frage keinerlei Beiträge zu leisten.

SPIEGEL: Theodor Heuss war der Präsident der bürgerlichen Koalition zwischen CDU und FDP, Heinrich Lübke der Präsident der Großen Koalition. Gustav Heinemann gab das Signal für den Machtwechsel der Sozialliberalen. Sie begannen Ihr Amt als Garant des SPD/FDP-Bündnisses. Fühlen Sie sich inzwischen als ein Präsident des Übergangs?

SCHEEL: Nein, ich habe mich nicht empfunden als Garant eines Bündnisses, sondern als ein Kandidat, der von der Mehrheit vorgeschlagen wurde, die jetzt die Regierung bildet.

Die Wahl eines Bundespräsidenten kann natürlich politische Signalwirkung haben. Sie kann entweder eine vorhandene politische Struktur bestätigen oder eine neue, sich abzeichnende ankündigen. Der Bundespräsident selbst aber ist nicht aktiv Handelnder in dieser Frage, sondern Beobachter.

SPIEGEL: Welches Berufsziel hat der Erste Mann im Staat, wenn seine Wiederwahl trotz allem nicht klappt?

SCHEEL: Ich stelle mir vor, daß ein Bundespräsident wie ich, der in jedem Fall in arbeitsfähigem Alter aus dem Amt scheidet, seine Pflichten dem Staate gegenüber dadurch wahrnimmt, daß er für politische, notabene ehrenamtliche, Aufgaben zur Verfügung steht, die den Typ erfordern, den man im anglo-amerikanischen Raum Elder Statesman nennt ...

SPIEGEL: Sie wären der jüngste Elder Statesman der Geschichte.

SCHEEL: Ich werde ja auch der jüngste Bundespräsident außer Dienst in der Bundesrepublik sein, gleichgültig wann ich aus dem Amt ausscheide. Ich möchte dann Aufgaben übernehmen, die im Interesse aller liegen, sei es im Inland oder im Ausland. Ich trage mich jedenfalls nicht mit dem Gedanken, in die Parteipolitik zurückzukehren.

SPIEGEL: Sie werden also nicht Nachfolger Ihres eigenen Nachfolgers sein, als Parteivorsitzender der FDP?

SCHEEL: Nein, das beabsichtige ich nicht. Ich möchte meinem Land meine Erfahrungen, meine gewonnene Unabhängigkeit zur Verfügung stellen, sozusagen als freier Mitarbeiter der Bundesrepublik Deutschland.

SPIEGEL: Herr Bundespräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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