»So groß wie eine Ananas ...«
2. Fortsetzung Die britische Gegenoffensive
Seit die britische Abwehr im Sommer 1941 erfahren hatte, daß Deutschland die norwegische Schwerwasser-Anlage Vemork bei Rjukan in zunehmendem Maße ausbeutete, verfolgte sie die Uran-Versuche deutscher Physiker mit erhöhter Aufmerksamkeit.
Ihre Recherchen liefen im »Amt für wissenschaftliche und industrielle Forschung« in der Londoner Old Queen Street 16 zusammen, wo sich unter dem Decknamen »Verwaltung für Rohrlegierungen« die Zentrale des britischen Atomprojekts etabliert hatte.
Ihr Posteingang war zufriedenstellend: Sowohl aus Deutschland als auch aus Norwegen trafen -- meist über Schweden -- aufschlußreiche Informationen ein:
> Aus Berlin schrieb Dr. Paul Rosbaud, gebürtiger Österreicher und Redakteur der Zeitschrift »Naturwissenschaften«. Der Bruder des Dirigenten Hans Rosbaud und Englandfreund, den der Intelligence Service 1945 in englischer Offiziersuniform nach London brachte, genoß das Vertrauen vieler deutscher Gelehrter und weihte die Alliierten über alle deutschen Atomvorhaben ein.
> Aus Rjukan funkte der Norweger Einar Skinnarland. Er hatte während eines Geheimbesuchs in Schottland im Frühjahr 1942 eine Eilausbildung als Agent erhalten, war über Norwegen mit dem Fallschirm abgesprungen und unterhielt nun Verbindung zu Ingenieuren der Schwerwasser-Anlage.
* In einem Ausbildungslager bei Manchester.
Copyright William Kimber & Co. Ltd., London, 1967. Die deutsche Ausgabe erscheint im Herbst im Verlag Sigbert Mohn, Gütersloh.
Schon im Juni 1942 erwiesen sich Skinnarlands Kontakte als überaus nützlich: Vemork-Ingenieur Dr. Jomar Bruun besorgte Photographien und Zeichnungen von der Hochkonzentrierungsanlage Vemork und Unterlagen über die deutschen Aufträge; die Dokumente wurden mikrophotographiert und, in Zahnpastatuben versteckt, über Schweden nach London geschmuggelt.
Während die Deutschen die Verwaltung der »Norsk-Hydro« in Vemork zu erhöhter Schwerwasser-Produktion und die Leitung der »Degussa« in Frankfurt zu beschleunigter Uran-Lieferung antrieben, bereiteten die britische Abwehr und die Spionageabteilung des norwegischen Verteidigungsstabes in London nunmehr ein kühnes Kommando-Unternehmen vor.
In diesem Sommer 1942 schmolz der Vorsprung, den Deutschlands Physiker in den Jahren 1940 und 1941 noch gehabt hatten, schnell zusammen: Sechs Monate nach Hitlers Kriegserklärung an die USA bahnte sich auf der anderen Seite des Atlantiks das bis dahin größte industrielle Unternehmen der Geschichte an.
Die ersten Etappen auf dem Weg zu dieser gewaltigen Leistung waren schnell zurückgelegt worden: Im Winter hatte der italo-amerikanische Kernforscher Enrico Fermi in Chicago die Anordnung der Substanzen für einen Uran-Graphit-Meiler errechnet.
Im März war der US-Forschungsbeauftragte Dr. Vannevar Bush bei Präsident Roosevelt zum Vortrag erschienen und hatte ihm alle theoretisch denkbaren -- und auch den Deutschen bekannten -- Verfahren zur Nutzung der Kernenergie erläutert (siehe Kasten Seite 73).
Und Mitte Juni hatte Bush dem Präsidenten in Aussicht gestellt, daß eine Atomwaffe wahrscheinlich zeitig genug einsatzbereit sein könne, um der Ausgang dieses Krieges noch zu beeinflussen.
Nun handelte Washington: Im frühen Sommer 1942 wurden auf Veranlassung der Regierung 350 Tonnen Uranoxyd bestellt, elektromagnetische Trennanlagen (für Uran 235) in Auftrag gegeben und die Arbeiten an einem Reaktor begonnen.
Ende Juli waren für die Errichtung eines Atom-Zentrums in Oak Ridge im US-Staat Tennessee 23 600 Hektar Gelände ausgewählt, und Ihr Erwerb durch die Regierung hing nur noch vom Ausgang der Fermi-Versuche in Chicago ab.
Fermi war überzeugt: Um eine Kettenreaktion auslösen zu können, benötigte er lediglich extrem reine Ausgangssubstanzen -- Uran und Graphit.
Bis dahin hatte allerdings noch niemand experimentell bewiesen, ob Graphit sich tatsächlich für einen Meiler eignen würde. Die Deutschen arbeiteten weiterhin ausschließlich mit schwerem Wasser, und sie verfügten noch immer über die einzige Schwerwasser-Fabrik der Welt: die Anlage von Vemork in Norwegen.
Doch das britische Kriegskabinett war entschlossen, den Deutschen auch diesen schmalen Vorteil mi Wettlauf um die Atombombe abzujagen. Im Juli 1942 wurde die Dienststelle für »Combined Operations« angewiesen, die Anlage in Vemork zu zerstören.
Ein Bombenangriff kam nicht in Frage: Die Explosion der Ammoniak-Tanks hätte die Zivilbevölkerung der Umgebung in größte Gefahr gebracht. Der Stab der »Combined Operations« arbeitete einen anderen Plan aus:
Ein Vorauskommando von vier Exil-Norwegern sollte sich mit dem Fallschirm absetzen lassen und auf der Hochebene Hardanger-Vidda, etwa 50 Kilometer nordwestlich von Rjukan, ein Ausgangslager aufschlagen. Ihm hatten zu gegebener Zeit -- während einer Mondnacht -- in zwei großen Segelflugzeugen 34 Pioniere der 1. Luftlandedivision zu folgen. Die Männer sollten sich auf der Landstraße formieren und in voller Uniform auf die Anlage Vemork marschieren. Nach ihrem Sabotage-Akt mußten sie versuchen, nach Schweden zu entkommen.
Das Unternehmen -- es erhielt den Decknamen »Freshman« -- erschien den Norwegern zumindest als sehr bedenklich, doch die britischen Planungsoffiziere sahen in ihm eine Chance: Ein kühner Schlag, so hofften sie, eine rasche Flucht -- und der Alptraum von der deutschen Uranbombe wäre vorüber.
Die Stunde Null des Unternehmens schlug in der Nacht zum 19. Oktober, als die vier Norweger des Voraustrupps über der Hardanger-Vidda absprangen. Auf dem Plateau brach ein heftiger Schneesturm los. Die Männer erreichten ihre Einsatzbasis in Sandvatn erst am 6. November. Drei Tage später hatten sie endlich Funkverbindung mit London.
Ihre erste Meldung war eine schlechte Nachricht: Im Gebiet von Vemork lag eine starke deutsche Garnison, und rund um das Werk hatten die Besatzer Sperren errichtet.
Kurz darauf traf der Norweger Jomar Bruun, einst Leitender Ingenieur und Mit-Konstrukteur des Schwerwasser-Werks von Vemork, in London ein; er war Ende Oktober aus Vemork geflohen. Bruun brachte eine Reihe weiterer Mikroaufnahmen mit und entwarf detaillierte Zeichnungen von der Anlage, ihren verletzbaren Punkten und der näheren Umgebung.
Am Abend des 19. November bestiegen die 34 freiwilligen Pioniere der »Freshman«-Truppe auf dem schottischen Flugplatz Wick die beiden Lastensegler, die von Halifax-Bombern nach Norwegen geschleppt werden sollten. Was während der folgenden Stunden tatsächlich geschah, wird nie ganz geklärt werden können.
Das erste der fliegenden Gespanne scheiterte 60 Kilometer westlich von Rjukan -- die Tragflächen vereisten. Der schleppende Halifax-Bomber wendete. Doch in dem Augenblick, da die beiden Flugzeuge die Küste wieder westwärts überquerten, riß das Schlepptau. Der Funker der Halifax meldete, der Segler sei ins Meer gestürzt.
Das zweite Tandem erreichte die Küste bei Egersund und zerschellte etwa 15 Kilometer landeinwärts an einem Gebirgshang. Die Bomberbesatzung war tot, von den Pionieren in dem Segler wurden drei getötet und sechs schwer verletzt.
Die 14 Überlebenden, die durchweg britische Khakiuniform trugen, wurden, als man sie fand, der deutschen 280. Infanterie-Division in Egersund übergeben und aufgrund des neuen Führerbefehls über die Behandlung allierter Kommandoeinheiten noch am gleichen Abend erschossen*.
Die überstürzte Erschießung der Briten bedeutete für die deutsche Abwehr und die Dienststellen der Sicherheitspolizei eine Katastrophe. Reichskommissar Josef Terboven protestierte gegen das Vorgehen der Infanterie-Division, Norwegens Höherer SS- und Polizeiführer Wilhelm Rediess ließ per Fernschreiben nach Berlin melden:
»Am 20. 11. morgens gegen 3 Uhr sind in der Nähe von Egersund ein englisches Flugzeug und ein Segelflugzeug im Schlepp abgestürzt. Unfallursache zunächst noch unbekannt. Die Besatzung der Zugmaschine -- soweit bisher bekannt: Militärbesatzung, darunter ein Neger -- ist tot. In der Schleppmaschine befanden sich 17 Personen, wahrscheinlich Agenten. Von ihnen sind 3 tot, 6 schwerverletzt. Die Besatzung der Schleppmaschine war im Besitz großer Mengen norwegischen Geldes. Wehrmacht hat leider die Überlebenden sofort exekutiert, sodaß Erklärung kaum mehr möglich.«
Hitler hatte am 18. Oktober 1942 den Geheimbefehl erlassen, daß »von jetzt ab alle bei sogenannten Kommandounternehmungen von deutschen Truppen gestellten Gegner, auch wenn es sich äußerlich um Soldaten In Uniform oder Zerstörertrupps mit und ohne Waffen handelt, Im Kampf oder auf der Flucht bis auf den letzten Mann niederzumachen« seien.
Der Wehrmachtbefehlshaber Norwegen. General Nikolaus von Falkenhorst, wies seine Kommandeure an, aus Vernehmungsgründen seien ein oder zwei Mann zunächst »auszusparen«.
Die Ermahnung erreichte die Offiziere im letzten Augenblick, denn im Laufe des 21. November entdeckten die Deutschen Überlebende aus dem anderen Segler, der nicht ins Meer, sondern am Nordufer des Lyse-Fjord abgestürzt war.
Die Unglücklichen wurden eingehend nach dem Ziel ihres Unternehmens befragt -- und dann gleichfalls erschossen. Die Vernehmungen, so berichtete Falkenhorst dem OKW hätten »wertvolle Erkenntnisse über Feindabsichten« erbracht.
Am 4. Dezember ließen die Deutschen in Rjukan falschen Luftalarm geben. Während die Einwohner die Schutzräume aufsuchten, durchkämmten 200 uniformierte Deutsche sämtliche Häuser. Darauf wurden mehrere Norweger verhaftet, und Rediess meldete nach Berlin, vielerlei Anzeichen ließen erkennen, wie groß das »feindliche Interesse an der Zerstörung der wichtigsten wehrwirtschaftlichen Betriebe in Norwegen« sei.
Und als schließlich Terboven und Falkenhorst sich der Mühe unterzogen. Vemork persönlich zu inspizieren, konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß die Deutschen über die Absichten der Kommandoeinheiten unterrichtet waren. Tatsächlich wurde die Garnison in Rjukan abermals verstärkt, die nähere Umgebung der Schwerwasser-Anlage vermint.
Damit war die erste Phase im Kampf um die Atomwaffe beendet -- jene Phase, in der jede Seite gehofft hatte, die andere kenne ihre Absichten nicht.
Nun mußten die Deutschen annehmen, daß die Alliierten über die Vorgänge in Deutschland unterrichtet waren; und sie mußten befürchten, daß die Alliierten auf demselben Gebiet tätig waren.
Die britische Abwehr gab sich indessen nicht geschlagen. Sie bereitete unverzüglich ein neues Kommandounternehmen vor und wartete nur auf die nächste Vollmondnacht.
Zu jener Zeit kennzeichneten Zank und Eifersucht das deutsche Uran-Vorhaben.
Die Physiker Professor Carl-Friedrich Freiherr von Weizsäcker und Dr. Karl Wirtz hatten die Leitung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin überreden können, den angesehenen Theoretiker und Nobelpreisträger Professor Werner Heisenberg nun endlich zum Direktor des Instituts für Physik zu berufen.
Da der bisherige Direktor, der niederländische Nobelpreisträger Peter Debye, von einer »Vorlesungsreise« in die USA aus politischen Gründen nicht zurückgekehrt, von seinem Posten aber auch nie offiziell zurückgetreten war, wurde Heisenberg am 1. Oktober 1942 zum »Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik« ernannt.
Die Spötter am Institut deuteten von nun an das »WHW«-Symbol des deutschen Winterhilfswerks so. »Heisenberg zwischen Weizsäcker und Wirtz.«
Der von Heisenberg abgelöste Debye-Vertreter und »kommissarische Leiter« Dr. Kurt Diebner, Experte des Heeres für Sprengstoffe und Kernphysik, verzog sich schmollend aus Dahlem und präparierte sich in Gottow, auf dem Forschungsgelände des Heereswaffenamtes, für neue Kämpfe mit den Rivalen.
Die Fehde zwischen Heisenbergs Anbetern und Diebners Anhängern wurde nie beigelegt. Sie schlug sieh in Memoranden und Aktennotizen an die Naziführer nieder.
Diebner wurde als Mann charakterisiert, der überhaupt nicht aus der Hochschullaufbahn hervorging, keinen Dr. habil. besaß Und bei seiner anerkannten Unfähigkeit sich nur unter Berufung auf Geheimparagraphen halten konnte.
Und andererseits wurde Heisenberg angefeindet -- als »Chef dieser theoretisierenden Richtung, der heute noch den dänischen Halbjuden Niels Bohr als größtes Genie feiert«.
Beide Gruppen arbeiteten nun nebeneinander her und ohne jeweils die andere zu verständigen. Gottow experimentierte mit Würfeln aus Uran, Dahlem arbeitete weiterhin mit Schichten aus Uran -- die Ergebnisse wurden zusehends schlechter.
Und während die Sowjets im November 1942 zur entscheidenden Gegenoffensive bei Stalingrad antraten, warteten die Dahlemer Forscher noch immer auf die Fertigstellung ihres großen unterirdischen Bunker-Labors, in dem sie ihre entscheidenden Versuche zu unternehmen gedachten.
Doch zu Beginn dieses vierten Kriegswinters waren die Rollen bereits vertauscht. Nun machte Amerika Atom-Geschichte. Am 2. Dezember 1942 empfing der Chef des US-Atombombenprojekts, Generalleutnant Leslie R. Groves, die historische Nachricht:
»Der italienische Navigator ist soeben in der Neuen Welt gelandet.«
Das bedeutete im Klartext: In Fermis Versuchsmeiler -- in einer Squash-Tennis-Halle unter der Stadiontribüne der Universität Chicago errichtet, beschickt mit 5,6 Tonnen Uran, 36,6 Tonnen Uranoxyd und 350 Tonnen Graphit -- hatte die Atom-
* In der Universität von Chicago, Dezember 1942 (Gemälde von Gary Sheehan).
kettenreaktion eingesetzt. Damit war die Voraussetzung für den Bau der Atombombe geschaffen. Zwölf Tage später wurden die Pläne zur Produktion von Bombenmaterial entworfen.
In Hanford im US-Staat Washington sollten im Abstand von jeweils 1,5 Kilometer vier wassergekühlte Meiler angelegt werden. Nach dreimonatigem Betrieb wollte man sie abstellen und das hochradioaktive Material in Sonderwaggons in entlegene Speicher schaffen. Sobald es -- ständig unter Wasser gehalten genügend Radioaktivität verloren hatte, sollte es zwei Werken zugeleitet werden, die dann aus dem bestrahlten Uranbrennstoff das für Bomben geeignete Plutonium zu extrahieren hatten.
Daneben wurde in Oak Ridge, Tennessee, mit dem Bau der ausgedehnten Industrieanlagen für die Gewinnung des Uran-Isotops 235 begonnen: Zwei Werke -- das eine für elektromagnetische Trennung und das andere für die Gasdiffusion -- wurden 25 Kilometer voneinander entfernt errichtet.
Die Roosevelt-Berater schätzten die Kosten für beide Verfahren zu jener Zeit auf 400 Millionen Dollar, also auf gut anderthalb Milliarden Mark. Tatsächliche Kosten bis 1945: rund acht Milliarden Mark.
Später, im August 1945, ließen sich die Amerikaner die Gelegenheit, beide Verfahren auch praktisch zu erproben, nicht entgehen:
> Die Hiroshima-Bombe »Little Boy« (80 000 Tote, 70 000 Verwundete) enthielt Uran aus Oak Ridge.
> Die Nagasaki-Bombe »Fat Man« (40 000 Tote, 25 000 Verletzte) enthielt Plutonium aus Hanford. Zum Jahresende 1942 drohten die Befürchtungen auf beiden Seiten des Ozeans sich in Hysterie zu verwandeln.
In Deutschland bestürmte der Reichspostminister Ohnesorge den Reichsführer-SS Himmler mit der Nachricht, daß in Amerika sämtliche Physiker und Chemiker zusammengezogen würden; er wollte dringend von seinem Führer empfangen werden.
In Amerika lieferte der aus Ungarn stammende Physiker Eugene Wigner im Verlauf einer Besprechung mit dem US-Nobelpreisträger Arthur H. Compton einen »Beweis« an der Wandtafel, wonach die erste deutsche Uranbombe »allerspätestens bis Dezember 1944« einsatzbereit sein müßte.
Die Aufregung der Deutschen war nur zu begründet; der Argwohn der Amerikaner sollte sich als unnötig erweisen. Denn als die Vereinigten Staaten die Schwelle zum Atomzeitalter überschritten, drohte Deutschlands Uran-Vorhaben in einem bürokratischen Chaos zu ersticken.
Während die Sparten des Reichsforschungsrats bis in den Herbst hinein mit ihrer eigenen Neuorganisation beschäftigt gewesen und Briefe oft monatelang unerledigt liegengeblieben waren, hatten sich plötzlich zahlreiche Instanzen an einer möglichen Nutzung des Uran-Projekts interessiert gezeigt. So erhoffte sich von der Kernenergie
> die Marine einen Antriebsreaktor für U-Boote mit einem Aktionsradius von 40 000 Kilometer,
> die Luftwaffe Radium-Ersatzstoffe für die Leuchtzeichen ihrer Instrumente -- Ende 1942 verfügte das Reich nur noch über 60 Gramm Radium, Vorrat für allenfalls drei Jahre,
> die Medizin Mittel zur Erforschung biologischer und genetischer Wirkungen der Strahlung.
Schließlich meldete sich im Labor der Reichspost auch noch die Raketenversuchsanstalt Peenemünde; Manfred Baron von Ardenne, der. agile Außenseiter der deutschen Atomforschung, sollte untersuchen, ob die Kettenreaktion für den Raketenantrieb zu nutzen sei.
In einem Schreiben an den Leiter des Geschäftsführenden Beirats des Reichsforschungsrats, Professor Rudolf Mentzel, forderte der Chef der Fachsparte Physik, Professor Abraham Esau, nunmehr die Zentralisierung sämtlicher Vorhaben und vor allem die Bewilligung von Dringlichkeitsstufen für die Beschaffung von Geräten und Arbeitskräften.
Mentzel entwarf daraufhin einen Erlaß, der die Gründung einer »Arbeitsgemeinschaft für Kernphysik« verordnen und von Reichsmarschall Hermann Göring unterschrieben werden sollte.
Seit Otto Hahns Entdeckung der Kernspaltung, so mahnte Mentzel in einem Brief an Görings persönlichen Referenten Dr. Fritz Görnnert, hätten Physiker der ganzen Welt, besonders in den Vereinigten Staaten, sich diesem Problem intensiv gewidmet.
Mentzel schlug Göring vor, Esau zum »Bevollmächtigten des Reichsmarschalls für Kernphysik« im Reichsforschungsrat zu ernennen.
* Mit Norwegens König Haakon (oben).
Wenige Tage nachdem Mentzels Schreiben bei Görnnert eingegangen war, landete auf dessen Schreibtisch eine anonyme Aktennotiz:
»Auf dem Gebiet der Physik herrscht heute der Personenkreis, der einst hinter Einstein und seiner Relativitätstheorie geschlossen stand. Die Besetzung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik mit dem Chef dieser theoretisierenden Richtung, Heisenberg, ist hierfür bezeichnend.
Der anonyme Schreiber fuhr fort: Alte Parteigenossen, die nun schon seit mehr als 20 Jahren gegen Einstein ankämpften, würden von Mentzel ohne jeden Grund aus ihren Instituten entfernt.
Schließlich unterstellte er: Das Übelste sei der von Mentzel geförderte »große Schwindel mit der angeblichen Uran-Maschine«.
Doch Göring hatte den von Mentzel entworfenen Erlaß, der Esau zum Chef des gesamten deutschen Uran-Vorhabens ernannte, mittlerweile schon unterzeichnet:
»Hiermit ordne ich die Übernahme der bestehenden und von Ihnen geleiteten »Arbeitsgemeinschaft für Kernphysik' in den Reichsforschungsrat an. Ich ernenne Sie zu meinem Bevollmächtigten für alle Fragen der Kernphysik und bitte Sie, den folgenden Fragen Ihr besonderes Interesse zuzuwenden:
1. Weiterführung der kernphysikalischen Arbeiten mit dem Ziel der Nutzbarmachung der Kernenergie des Urans,
2. Herstellung von Leuchtfarben ohne Anwendung von Radium,
3. Herstellung energiereicher Neutronenquellen,
4. Untersuchungen über Schutzmaßnahmen beim Arbeiten mit Neutronen.
Heil Hitler! gez. Göring«
Görings Entscheidung scheint nicht sonderlich glücklich gewesen zu sein. Ostpreuße Esau, von bäuerlicher Herkunft und bei den Forschern nicht übermäßig beliebt« zeigte zwar viel Gefallen an seinem neuen Briefkopf, doch nur wenig Verständnis für das Reaktor-Programm der deutschen Uran-Physiker.
Als der Hamburger Professor Paul Harteck, der sich so energisch um die Kettenreaktion bemühte, ihn um die Bewilligung von Dringlichkeitsstufen bat, erwiderte Esau: Harteck könne haben, was er wolle -- aber erst« wenn er ihm mit dem Thermometer nachgewiesen habe, daß die Temperatur in seinem Meiler um mindestens ein Zehntel Grad gestiegen sei.
Kurz vor dem Fall von Stalingrad -- zur gleichen Zeit, als Churchill und Roosevelt auf der Konferenz von Casablanca übereinkamen, daß Deutschland bedingungslos zu kapitulieren habe -- erwog Esau offenbar, das Vorhaben überhaupt einzustellen.
»Esau bereitet auf Abbaumaßnahmen im Januar und Februar 1943 vor«, notierte Physiker Erich Bagge nach einer Besprechung in der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. » Man ist offenbar der Meinung, daß die Lösung eines gewissen Problems doch nicht kriegsentscheidend sein könne.«
Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mißbilligte Esaus Ernennung, und auch der Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer, schenkte dem »Bevollmächtigten des Reichsmarschalls« nie sein Vertrauen.
Wie richtig Speer -- im Gegensatz zu zahlreichen anderen Führern des Reiches -- die Kernphysik einschätzte, bewies der Minister Ende 1942: Er bewilligte den Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die Dringlichkeitsstufe »DE«, die zu dieser Zeit nicht einmal die Projekte der Wunderwaffen »V1« und »V2« besaßen.
Inzwischen hatte die britische Abwehr ihren neuen Schlag gegen die Schwerwasser-Fabrik Vemork vorbereitet. Nach dem Fiasko des Unternehmens »Freshman« überließ das Büro für »Combined Operations« die Verantwortung für die Zerstörung Vemorks einer anderen Organisation: Die »Dienststelle für Sondereinsätze« ("Special Operations Executive« SOE) sollte nun diese Aufgabe übernehmen.
SOE-Chef Generalmajor Sir Colin Gubbins hatte zunächst zwar Bedenken. »Das läßt sich nicht machen«, sagte er. Doch der Leiter seiner Norwegen-Abteilung, Oberst Jack Wilson, konnte ihn überreden, und innerhalb kürzester Frist lag vom Kabinett die Genehmigung für ein Sabotage-Unternehmen vor.
Bei den Vorbereitungen leisteten zwei Miterbauer der Hochkonzentrierungsanlage wertvolle Dienste: Professor Leif Tronstad und Dr. Jomar Bruun, die zusammen die Fabrik in Vemork entworfen hatten, befanden sich nunmehr im Dienst des Norwegischen Oberkommandos in London; sie rekonstruierten die gesamte Anlage und konnten auch ungesicherte Zugänge, so zum Beispiel einen verborgenen Kabelkanal, angeben.
Mit dem Nachtschnellzug fuhren Oberst Wilson und Professor Tronstad nach Schottland und suchten das Norweger-Lager der SOE in Aviemore auf.
Sämtliche Soldaten dieses Lagers hatten neben der üblichen Infanterieausbildung Sonderkurse durchlaufen. Sie verstanden sich auf die Handhabung von Dynamit, Schießbaumwolle und Trinitrotoluol (TNT) wie auf die fachgerechte Anbringung von Sprengladungen, Haftminen und Handgranaten.
Nun sollten sich sechs von ihnen für einen Sondereinsatz gegen »eine industrielle Anlage« freiwillig melden.
Leutnant Joachim Rönneberg übernahm den Auftrag und wählte fünf geübte Skiläufer als Begleiter aus: die Leutnante Knut Haukelid und Kasper Idland sowie die Feldwebel Fredrik Kayser, Hans Storhaug und Birger Stromsheim.
Sie wurden nach London gebracht und erst dort von Vertretern des norwegischen Verteidigungsstabes unter General Wilhelm Hansteen im einzelnen unterrichtet. Sie erfuhren, daß
> der Funker Einar Skinnarland seit mehr als einem halben Jahr als Agent in Rjukan tätig war,
> ein vier Mann starkes Vorauskommando unter Führung von Jens Poulsson bereits am 18. Oktober über der Hardanger-Vidda abgesprungen war und
> 34 Freiwillige des Unternehmens »Freshman« einen Monat später ums Leben gekommen waren. Nachdem die Gruppe den Decknamen »Gunnerside« erhalten hatte, erklärte Tronstad den Männern ihren Auftrag:
Sie sollten in einer Mondnacht über Norwegen abspringen, mit dem Vorauskommando Kontakt aufnehmen, nach Rjukan vorrücken und die Hochkonzentrierungsanlage Vemork sprengen. Danach mußten Haukelid und drei Männer vom Vorauskommando In Norwegen untertauchen, um eine militärische Organisation aufzubauen; Rönneberg und die anderen erhielten die Order, nach Schweden zu entkommen.
An Modellen in einer abgedunkelten Baracke übten die Männer, wie sie die Sprengladungen später schnell und sicher anbringen, konnten, und auf Luftaufnahmen machten sie sich mit der Anlage und ihrer Umgebung vertraut.
Zur Jahreswende wurden sie in ein abgeschiedenes Lager nach Cambridgeshire versetzt. Dort warteten sie auf den nächsten Vollmond.
In der Zwischenzeit harrten die vier Männer des Vorauskommandos auf der eisigen Hardanger-Vidda aus. Sie litten bereits an Unterernährung, und ihr Vorrat an trockenem Holz War nahezu erschöpft.
Am 23. Januar 1943 entnahmen sie ihrem schwächer werdenden Funkgerät, daß »Gunnerside« nun endlich anlief. Sobald ein britischer Bomber sich ihrem Lager näherte, sollten sie durch Lichtzeichen die Absprungzone für Rönnebergs Leute markieren.
Auf einem schottischen Flugplatz wurden die sechs Saboteure von Tronstad und Wilson ein letztes Mal in Ihre Aufgabe eingewiesen; jedem verabreichte man zum Abschied eine Zyankali-Kapsel -- denn falls sie in Gefangenschaft gerieten, durften sie ohnehin nicht erwarten, am Leben zu bleiben.
Wenige Stunden später kreiste der viermotorige britische Bomber mit den sechs unerschrockenen Norwegern über der Felswüste der Hardanger-Vidda. Doch der Pilot konnte keinerlei Lichter erkennen, und obgleich die Männer ihn bedrängten, sie nach dem Augenschein springen zu lassen, flog er auftragsgemäß nach Schottland zurück.
»Gunnerside« wurde bis zum nächsten Vollmond verschoben. Rönnebergs Leute kamen in ein Lager an der schottischen Westküste. Die vier Voraus-Männer auf der Hardanger-Vidda begannen Rentierflechte zu essen.
Bei ihrem zweiten Anlauf wollte die britische Abwehr sichergehen: Um die deutschen Wachen in Vemork nicht vorzeitig zu warnen, sollten Rönneberg und seine Männer nicht in der Nähe des Rjukan-Tals abspringen, sondern über dem See Skrykken, fast 40 Kilometer vom Lager des Vorauskommandos bei Sandvatn entfernt.
Und diesmal klappten Start und Landung plangerecht: Die Saboteure bestiegen ihren Bomber am Abend des 16. Februar 1943, und gegen Mitternacht lösten sie sich mit ihren Fallschirmen und den Versorgungstrommeln vom Flugzeug -- in 300 Meter Höhe über der weiten weißen Fläche des gefrorenen Skrykken-Sees.
Währenddessen lagen in der SOE-Zentrale in London letzte Briefe von ihnen -- denn sie waren schließlich zu einem Unternehmen aufgebrochen, von dem es möglicherweise keine Wiederkehr gab.
Die Hardanger-Vidda ist eine gottverlassene Gegend, abgeschlossen vom größten Gebirgszug Nordeuropas und im Winter von mörderischen Schneestürmen heimgesucht. Die Vegetation besteht fast nur aus verkrüppelten Wacholderbüschen, und die einzigen größeren Lebewesen in dieser weißen Einöde sind wandernde Rentiere.
Doch für die Männer vom Unternehmen »Gunnerside« war die Unwirtlichkeit der Gegend zugleich auch von Nutzen; kein Deutscher würde so leicht wagen, sich dieser grausamen Natur auszusetzen.
Um vier Uhr morgens hatten die Saboteure alle Versorgungstrommeln eingesammelt und am Rande des Sees im Schnee vergraben. Dann erhob der Wind sich zum Orkan, und er tobte so heftig, daß sie zwei Tage und zwei Nächte lang in einer verlassenen Hütte ausharren mußten.
Der Sturm verwehte zwar alle Spuren ihrer Landung, doch die Schneewehen deckten auch die Markierungen für ihr Vorratslager zu, und die Männer mußten stundenlang suchen und graben, bis sie ihren ersten Kanister wiedergefunden hatten.
Erst fünf Tage nach ihrer Landung konnte Rönneberg den Befehl zum Abmarsch geben. Die Männer beluden zwei Schlitten, schulterten jeweils 30 Kilogramm Gepäck, schnallten die Skier an und liefen einen Tag und eine Nacht lang nahezu ununterbrochen nach Süden.
Am nächsten Tag begegneten sie plötzlich zwei bärtigen Skiläufern -- doch dem Schreck folgte schnell die Erlösung: Es waren die Feldwebel Arne Kjelstrup und Claus Helberg vom Vorauskommando. Die beiden lotsten die Neuen zum Lager Sandvatn, 70 Kilometer von Rjukan entfernt, wo die nun insgesamt zehn Saboteure zählende Gruppe die Lage besprach.
Jeder notierte Fragen, von denen er annahm, daß sie beantwortet werden müßten; so etwa: Wo befanden sich Wachtposten und wo MG-Stellungen? Wie streng waren die Sicherheitsvorkehrungen? Und wo lag der beste Angriffsweg?
Bis zum Morgengrauen hatten sie eine Liste von 40 Fragen zusammengestellt. Helberg, der aus Rjukan stammte, machte sich auf den Weg in die Stadt, um die Fragen von V-Männern beantworten zu lassen.
Nach den bis dahin letzten Meldungen über Vemork lagen 15 Deutsche in einer Baracke zwischen der Turbinenhalle und dem Elektrolyse-Haus, und ein Doppelposten stand auf einer schmalen Hängebrücke über der Schlucht, die das Werk so schwer zugänglich machte. Nachts hielten zusätzlich einige Norweger Wache: zwei auf dem Werksgelände, einer am Haupttor und einer an der Turbinenzuleitung. Bei Alarm patrouillierten drei weitere Deutsche auf dem Werksgelände; außerdem wurde die Zufahrtstraße von Scheinwerfern bestrahlt.
Am Nachmittag des 26. Februar -- Helberg war noch in Rjukan -- brachen sieben Männer in Schneeanzügen auf; zwei Saboteure blieben an den Funkgeräten zurück.
Am späten Abend hatten die sieben ihr Ziel nahezu erreicht. Sie rasteten in einer Hütte im Wald nördlich von Rjukan, nur drei Kilometer von Vemork entfernt, und warteten nur noch auf Helberg. Sobald der Wind von Süden wehte, vernahmen sie bereits das monotone Summen des Kraftwerks.
Helberg brachte schlechte Nachrichten aus der Stadt: Die Wachen im Werk waren verstärkt, auf dem Dach MG-Nester und Scheinwerfer postiert und die Zugänge zum Werk und zu seinen Rohrleitungen vermint worden.
Die Männer beratschlagten, wie sie unter diesen Umständen am besten ihren Auftrag erfüllen und sich danach noch in Sicherheit bringen konnten.
Der Weg über die Hängebrücke schien ihnen zunächst bequem und sehr verlockend. Denn warum sollten sie zweimal die Schlucht durchqueren und an den hohen, tief verschneiten Hängen ihre Kräfte verschleißen?
Doch sofern sie die Brücke wählten, mußten sie die beiden deutschen Posten töten; sie würden möglicherweise einen verwundeten Kameraden zurücklassen und gewiß mit schweren deutschen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung rechnen müssen.
So blieb ihnen als einziger Weg also doch nur der doppelte Ab- und Aufstieg.
Kurz vor 20 Uhr brachen sie zur letzten und alles entscheidenden Etappe ihres Unternehmens auf. Und noch einmal rief Rönneberg ihnen den letzten Satz ihres Befehls in Erinnerung: »Bevor ein Mann in Gefangenschaft gerät, ist er verpflichtet, seinem Leben selbst ein Ende zu machen.«
Bald erreichten sie eine weitere, offenbar verlassene Hütte. Sie stießen die Türe auf -- und entdeckten zu ihrer Überraschung zwei junge norwegische Liebespaare, die gerade miteinander überaus beschäftigt waren.
Rönneberg befahl den vier verstörten Verliebten, ihre Zärtlichkeiten fortzusetzen und die Hütte auf keinen Fall vor Mittag des nächsten Tages zu verlassen.
Die vier schienen gern bereit, sich dem Befehl zu fügen.
Und die acht Saboteure glitten auf ihren Skiern dem leise summenden Rjukan-Tal entgegen.
Dann lag Vemork vor ihnen: riesig und unzugänglich auf einem grünschwarzen Felsvorsprung auf der anderen Seite der Schlucht -- die Dächer von Schnee bedeckt und von Mondlicht überflutet.
Es war 22 Uhr. In Vemork mußte jetzt Wachablösung und bald darauf Schichtwechsel sein.
Die Männer rutschten über den steilen Berghang. Am Rande einer Lichtung legten sie ihre Schneeanzüge ab, verstauten Skier und Rucksäcke und luden Sprengladungen und Drahtscheren auf. Sie trugen nun die Uniform der britischen Armee.
Es hatte zu tauen begonnen. In das Summen der Turbinen mischten sich das Donnern kleiner Lawinen und das Plätschern des Schmelzwassers.
Die Saboteure durchquerten die Schlucht und erklommen die 150 Meter hohe Steilwand zu dem Felsvorsprung, auf dem sich das Werk Vemork erhob.
Im Schutz eines Transformatorenhäuschens teilte Rönneberg seinen Trupp in eine Deckungsgruppe und in eine Sprenggruppe:
> Die Deckungsgruppe, von Haukelid geführt, war dazu ausersehen, den Zaun um das Werkgelände zu durchschneiden und Stellungen zu beziehen, um im Alarmfall jeden sich nähernden Deutschen unschädlich zu machen. Die Männer sollten ihre Stellungen bis zur Explosion halten; zu diesem Zeitpunkt mußte die Sprenggruppe bereits entkommen sein.
> Die Sprenggruppe, von Rönneberg geführt, hatte zunächst zu versuchen, die Tür zum Keller der Hochkonzentrierungsanlage aufzubrechen. Falls das nicht gelang, sollte sie die Tür zum Erdgeschoß knacken. Als letzter Weg in die Anlage war der Kabeltunnel vorgesehen.
Um 0.30 Uhr griffen sie an. Arne Kjelstrup durchschnitt die Torkette, Poulsson und Haukelid sicherten die deutsche Wachbaracke, und Rönneberg führte seine Sprenggruppe zum Elektrolyse-Haus.
Da alle Türen fest verschlossen waren, zwängten sie sich durch den Kabeltunnel.
In der Anlage befand sich ein einziger norwegischer Arbeiter, und Rönneberg und Kayser konnten ihn leicht überrumpeln. Während Kayser ihn mit der Pistole in Schach hielt, brachte Rönneberg an den Elektrolyse-Zellen die Sprengladungen an.
Kurz nach ein Uhr setzte er die Zündschnüre in Brand und rief dem Arbeiter zu, er solle laufen und sich im oberen Stockwerk in Sicherheit bringen.
Der Arbeiter erwiderte, er habe eben seine Brille verloren und würde während des Krieges gewiß keine neue bekommen. Eine hastige Suche förderte das Gestell zutage, und der Mann konnte verschwinden.
Die Sprenggruppe hatte sich kaum zwanzig Schritte von dem Gebäude entfernt, als die Explosion ihrer Ladungen die Nacht erschütterte. Gleich darauf tauchten die Männer in der schützenden Dunkelheit unter.
Aus der Wachbaracke stürzte ein deutscher Soldat, ohne Waffe und ohne Kopfbedeckung, er blickte um sich, eilte zurück, kehrte mit Gewehr und Stahlheim wieder, und der Strahl seiner Taschenlampe geisterte über den Hof der Anlage.
Poulsson hob seine Maschinenpistole und zielte, doch Haukelid drückte die Waffe geistesgegenwärtig herunter.
Während die Alarmsirenen nun ihr Jammern anstimmten das in der Schlucht ohrenbetäubend widerhallte -, traten die Männer vom Unternehmen »Gunnerside« eilig ihren Rückzug an.
Sie durchquerten die Schlucht, nahmen im Waldversteck neben der Lichtung ihre Ausrüstungen auf und trennten sich; jeder für sich begann den 300 Kilometer langen Marsch nach Schweden.
Auf diesem Weg wurde Claus Helberg von einer deutschen Streife gestellt, und es folgte am seltsames und verzweifeltes Duell: Jeder sah das Gesicht des anderen. SS-Chef Rediess berichtete darüber nach Berlin: »Ein MG-Schütze einer Jagdgruppe, der als solcher nur mit einer 0,8-Pistole ausgerüstet war, konnte ihn eine Zeitlang verfolgen und schließlich auf ungefähr 30 Meter stellen.«
Helberg meldete später nach London, an diesem 25. März 1943 habe er sich plötzlich drei Deutschen gegenübergesehen, die keine hundert Meter entfernt gewesen seien. Er habe sich umgedreht, um zu fliehen, doch nach zwei Stunden angestrengten Laufens habe er erkannt, daß einer der Feinde ihn leicht einholen werde: »Ich wandte mich deshalb um, zog die Pistole und feuerte aus meinem Neun-Millimeter-Colt einen Schuß. Ich sah zu meiner Freude, daß der Deutsche nur eine Luger-Pistole besaß, und mir wurde klar, daß der Mann, der als erster auf diese Entfernung zwei Magazine leerte, unterliegen müsse; deshalb feuerte ich nicht, sondern blieb als Zielscheibe auf 50 Meter Abstand stehen. Der Deutsche schoß seine zwei
Von norwegischen Agenten für den baltischen Geheimdienst angefertigt. Magazine auf mich ab, wandte sich um und lief zurück. Ich schoß. Er stolperte und blieb schließlich stehen, in den Skistöcken hängend.«
Rediess behauptete, die Feuerüberlegenheit des verfolgten Norwegers sei so groß gewesen, daß er den Jäger zum Rückzug gezwungen habe. Der Gejagte sei dann in der hereinbrechenden Nacht verschwunden. Und das war das letzte, was die Deutschen von den Männern sahen, die das Schwerwasser-Werk zerstört hatten.
Erst eine Woche später empfing die SOE-Zentrale in London den verschlüsselten Funkspruch: »Hochkonzentrierungsanlage in Vemork in der Nacht vom 27. zum 28. völlig zerstört. »Gunnerside' ist nach Schweden gegangen. Grüße.«
Die Schwerwasser-Anlage war tatsächlich zerstört. Noch in der Nacht des Anschlags besichtigten die verantwortlichen Herren der »Norsk-Hydro« und der deutschen Garnison die zertrümmerten Werkseinrichtungen.
Direktor Bjarne Nilssen kam mit Verspätung: Er alarmierte den deutschen Kommandanten; danach hatte er einige Schwierigkeiten, den Holzgasgenerator seines Automobils in Gang zu setzen. Oberingenieur Alf Larsen, Nachfolger von Dr. Jomar Bruun, eilte direkt vom Bridge-Tisch ins Werk, als er die Detonation und die Sirenen hörte.
Der Sabotage-Akt war ein vollendetes Stück Arbeit gewesen. Aus allen 18 Elektrolyse-Zellen waren die Böden gerissen, und die kostbare Flüssigkeit -- eine halbe Tonne schweren Wassers -- war durch den Abfluß gelaufen.
Wiederum bemühte General von Falkenhorst sich persönlich nach Vemork. Alle Anwesenden wurden streng vernommen. Doch die Verhöre ergaben keinerlei Hinweise auf die Attentäter. 50 Werksangehörige wurden verhaftet, mußten alsbald aber wieder freigelassen werden.
Obergruppenführer Rediess, Höherer SS- und Polizeiführer Norwegen, konnte nach Berlin lediglich melden: »Im Werke Vemork bei Rjukan wurde in der Nacht vom 27. zum 28. 2. 1943 gegen 1.15 Uhr eine wehrwirtschaftlich wichtige Anlage durch Explosion zerstört, Der Anschlag wurde von bewaffneten, mit graugrüner Uniform bekleideten Personen ausgeführt.«
Nun wurden die Sicherheitsvorkehrungen abermals verstärkt: Das Fernsprechamt Rjukan schlossen die Deutschen, und die Eisenbahnstation der Stadt wurde für jeden Zivilverkehr gesperrt. Die Deutschen verhängten den Teilbelagerungszustand und verordneten nächtliches Ausgehverbot. Sie errichteten Straßensperren, verstärkten das Minenfeld und stellten Nebel- und Rauchgeneratoren auf.
Das Unternehmen »Gunnerside« war also ein kompletter Erfolg: Auf beiden Seiten war niemand ums Leben gekommen, die Saboteure kehrten unversehrt nach Großbritannien zurück -- und der Schwerwasser-Anlage war der größtmögliche Schaden zugefügt, ohne daß man die eigentliche, für die Zivilwirtschaft Norwegens lebenswichtige Kraftstation auch nur beschädigt hatte.
Dem deutschen Uran-Vorhaben war damit ein schwerer Schlag versetzt worden.
IM NÄCHSTEN HEFT
Das deutsche Atomprogramm versandet im bürokratischen Chaos -- England zerschlägt Deutschlands letzte Schwerwasser-Reserven -- Niels Bohr flüchtet nach England