Sie sind Tischler, Gärtner oder Kraftfahrzeugmechaniker. Sie haben kurze Haare und ein stilles Lächeln. »3:0 für Deutschland«, flachsten sie, als sie am Montag von den drei toten Türkinnen hörten. Dann wurde erst mal Skat gedroschen.
Der Kräftigste von ihnen, der im Betrieb neben einem Türken steht, sagt, es habe die Falschen erwischt. Und die Mädchen der Clique zogen mit den 5000 Möllnern durch die Straße und riefen: »Nazis raus!«
Als Nazis sehen sich Stefan, Michael, Fred, Martin und Matthias* nicht. »Wir haben eine rechte Einstellung«, sagen sie so feierlich, als sprächen sie von Gott. Was unterscheidet sie von Nazis? Stefan, der Hüne, sucht lange in seinem großen Schädel und findet keine Antwort.
Sie sind Möllns Glatzköpfe der zweiten Generation, sie sind 16- bis 20jährige, deren Haare schon nicht mehr ganz kurz sind und deren Reden sich geschmeidig den Tönen aus Bonn anpassen. Gegen Türken, die schon 20 Jahre hier arbeiteten und Steuern zahlten, hätten sie nichts, sagen sie.
Vor sechs, sieben Jahren war das anders. Da fuhren Möllner HSV-Fans jeden zweiten Samstag nach Hamburg, »Türken klatschen«. Und »Wöbbel« kam eines Tages mit Glatze zurück und sagte: »Oi!« Mölln hatte den ersten Skin.
Aus dem Freizeitheim flog er raus, weil er anderen Jugendlichen das Halma-Spiel auf den Kopf klatschte. Aber im Kahlschlag, dem Lüneburger Skinhead-Magazin, schrieb er Erfolgsberichte von der »Oilenspiegelfront": Er zählte »acht Skins und zwölf andere Gewalttäter«. Am Wochenende »trinken wir bei heimischen Kollegen« oder zusammen »mit den Lübeckern in ihrer Stammkneipe«.
»Über den toten Türken« wolle man kein Wort mehr verlieren, hieß es Mitte 1986 im Kahlschlag, nur noch »Freiheit für die Hamburger Helden« könne man fordern. Fünf Hamburger Skinheads hatten den Türken Ramazan Avci totgetreten. Die Türken waren damals die Lieblingsopfer der rechten Schläger.
Auch im Bonner Kabinett war das Zählen von Asylbewerbern noch nicht zur Hauptbeschäftigung geworden. _(* Namen von der Redaktion geändert. ) Kanzler Kohl forderte, die Zahl der türkischen Gastarbeiter zu reduzieren.
In Mölln und Hamburg begannen die türkischen Jugendlichen, sich wie in anderen Städten der Bundesrepublik zusammenzuschließen und zurückzuschlagen. Wöbbel kehrte von einem Ausflug nach Hamburg mit schweren Schädelverletzungen heim: Sein Schmerzzentrum war so gestört, daß er fortan kaum mehr was merkte.
In Mölln wuchs ein Gleichgewicht des Schreckens: Die Skins wußten, daß Prügel drohten, wenn sie einen Türken anrührten; die Türken wußten, daß Skins anrückten, wenn sie einen Kurzhaarigen in die Mangel nahmen.
In der Disco »Cheyenne« kam es zwar immer mal zu Rempeleien, aber die Abschreckung funktionierte. Bis das Gleichgewicht vor vier Wochen beim Möllner »Herbstmarkt« durch eine Übermacht auswärtiger Linker und Türken gestört wurde. Die Skins bezogen Prügel, Wöbbel wurde von der Polizei in Schutzhaft gerettet.
Und dann, so ist zu vermuten, forderte die kleine Möllner Skingemeinde Unterstützung an.
Als die 70jährige Erika Fröhlich in der Nacht zum Montag letzter Woche durch Schreie geweckt wird, schlagen die Flammen schon aus dem Fenster des gegenüberliegenden alten Fachwerkhauses. Sie sieht ihre Nachbarin Hava Arslan, 27, aus dem zweiten Stock springen, sieht, wie ihr Körper die aufgespannten Wolldecken niederreißt und auf das Kopfsteinpflaster schlägt.
Später hebt ein Feuerwehrmann aus einem Fenster im ersten Stock die Leiche der 51jährigen Schwiegermutter Bahide. »Sie war nur noch ein Haufen Kohle.«
Von ihrem Wohnzimmerfenster blickt Erika Fröhlich seither jeden Tag in die schwarzen Fensterlöcher der Ruine. Sie sind nur fünf Meter entfernt; Möllns Altstadt hat schmale Gassen.
Seit 1976 wohnten die Arslans in dem Haus, nachdem ihre erste deutsche Wohnung, in einem »Gastarbeiterheim«, abgebrannt war. Die Möllner Textilwerke hatten Narzin Arslan und seine Frau Bahide von der Schwarzmeerküste in die Bundesrepublik geholt.
Das Leben der Arslans nahm den gleichen Lauf wie Hunderttausende deutsch-türkischer Leben: Irgendwann brauchte das Textilwerk den Türken nicht mehr; die Frau arbeitete als Kindergehilfin und Erdbeerpflückerin, eröffnete unten im Haus einen Gemüseladen. Der wurde vor drei Jahren von der Stadt geschlossen, »weil er nicht hygienisch war«, wie eine Nachbarin spitz bemerkt. Sechs Tage vor dem Brand reichte die Stadtverwaltung die Räumungsklage ein, das Haus sollte saniert werden. Es war in den Augen der Nachbarin ein »Schandfleck«.
Erika Fröhlich war Stammkundin in Bahides Laden und verstand sich gut mit den drei Söhnen der Arslans, die ihr die Taschen trugen und das Schneeschaufeln abnahmen. Sie gehörte zu den wenigen der 17 000 Möllner, die ein unverkrampftes Verhältnis zu den 700 Türken der Stadt entwickelten. Offen feindselig waren die wenigsten, es herrschte diese unsichtbare Apartheid deutscher Kleinstädte - die sich in der Brandnacht tragisch offenbarte.
Weil kein Türke in der Freiwilligen Feuerwehr mitlöscht, standen die deutschen Brandmeister noch Tage nach ihrem lebensgefährlichen Einsatz wie Brandstifter da: Die Angehörigen der drei Toten und neun Schwerverletzten warfen ihnen vor, nur halbherzig türkisches Leben gerettet, aber sehr engagiert deutsche Häuser geschützt zu haben.
Vor der Teestube »Schwarzes Meer«, dem Treffpunkt der Möllner Türken, bekämpfte Wehrführer Neithold Bethke, im Hauptberuf Dompianist, zwei Tage nach dem Brand die Flammen der türkischen Empörung.
»Warum habt ihr Kaffee getrunken, statt zu löschen?« - »Ich kann nicht 200 Leute gleichzeitig ins brennende Haus schicken!« - »Wenn wir an der Maschine stehen, dürfen wir auch nicht Kaffee trinken, und da drin waren Menschen, da drin war meine Mutter!« - »Wir können nicht in lodernde Flammen rennen!« - »Ihr habt mich weggeschubst, als ich sagte, da sind noch zwei Menschen drin!« - »Wir sind unter Mißachtung der Unfallverhütungsvorschrift noch mal ins Haus!« - »Warum habt ihr uns keine Schutzmasken gegeben?« - »Ihr seid nicht ausgebildet!« - »Warum dürfen keine Ausländer bei der Feuerwehr sein?« - »Das ist schon lange nicht mehr so!« - »Hat man uns aber gesagt!« - »Jeder kann bei uns mitmachen!« - »Wir nicht!« - »Wo steht das?« - »Das steht nirgends, das ist so!«
Die Erniedrigung aus drei Jahrzehnten als »Gastarbeiter« macht sich in der Woche nach den Morden Luft. Warum dürfen wir nicht wählen, warum sind wir zweitklassig, warum darf man auf uns rumtrampeln, warum schützt uns nicht der Staat, dem wir Steuern zahlen?
Das deutsche Wort »Menschenrecht« blitzt in den Sätzen der Türken immer wieder auf wie ein belächeltes falsches Juwel. Viermal sei sein Sohn vom Schäferhund des Nachbarn gebissen worden, klagt ein schwerbehinderter Türke in der Teestube. Der Deutsche sei schließlich zu 4000 Mark Strafe verurteilt worden, aber statt zu zahlen, habe der seine Haustür eingetreten und seine Frau geschlagen.
Als die Präsidentin des schleswig-holsteinischen Landtages den trauernden Türken in der Teestube ihr Beileid bekundet, gibt ihr dieser Mann einen von Weinkrämpfen unterbrochenen langen Aufschrei mit auf den Weg: Jede Familie hier hat Kinder und Haus und Angst. Müssen wir in jedem Deutschen einen Feind sehen? Soll ich mein Haus verkaufen und gehen? Müssen wir Waffen kaufen? Deutschland ist stark, wenn es will! Warum will es nicht?
Nicht wenige Möllner irrten in den Tagen nach den Morden wie Asylanten durch ihre Stadt. Sie zogen zwischen den Brandruinen hin und her, mal mit Fackel, mal ohne, um Antworten zu finden. Sie schritten die Kulissen ihrer Internationalität ab, das Bistro »Chez Jeanette«, die Gaststätte »Marmaris«, die Konditorei »Cappuccino«.
Einer Dame aus der Mühlenstraße klangen die Parolen der Demonstranten so laut in den Ohren »wie die Schreie aus dem brennenden Haus«. Sie flüchtete in die Kirche, die voller war als bei jeder Konfirmation. Aber der Organist tat den Verstörten nicht den Gefallen, sie mit wohligen Klängen in Sicherheit zu wiegen. Er spielte schrill und dissonant, und der Pastor ließ singen: »Denn so, du Herr, den rechten Lohn uns geben willst nach unserm Tun, so müßt'' die ganze Welt untergehn.«
Vor jeder bösen Tat stehe das böse Wort, rief der Geistliche den Trostsuchenden in Erinnerung. Und draußen, die dunklen Augen der Ruine im Rücken, warf ihnen der wutschnaubende Günter Graß zu: »Die in Bonn mit ihrem Asylgerede sind mitverantwortlich für die Toten von Mölln.«
Das weiße Haus mit der rußgeschwärzten Fassade dürfe nicht abgerissen und nicht renoviert werden, forderte der Schriftsteller mit zornig-traurigem Blick, »es soll als Mahnmal bleiben, wie es ist«.
Schon jetzt ist es eine Begegnungsstätte für Menschen, die sich sonst nie begegnet wären: für den Kieler Arzt, der von seinen Freunden aus Genf gefragt wird, was in seinem Land los sei; für den Lübecker Kleinunternehmer, der von seinem französischen Geschäftspartner alarmiert wurde; für den Berliner Lehrer, dem aus den Vereinigten Staaten Beine gemacht wurden.
Die Ratzeburger CDU-Abgeordnete trifft hier auf den Möllner Autonomen, der ihr einen Grundkurs in Asylrecht erteilt und sie dann fragt: »Warum hat keiner auf uns gehört, als wir vor dem Rassismus gewarnt haben? Vor zwei Wochen hat man uns hier in Mölln ausgelacht.« Die Abgeordnete: »Überall ist die Gleichgültigkeit, sie ist das Problem!«
Ein Türke, der beim Retten half: »In jeder anderen Stadt hätte ich damit gerechnet, aber nicht in Mölln!« Die Abgeordnete: »Das kann überall passieren, im kleinsten Dorf.« Der Autonome: »Vor vier Wochen hat hier ein Speicher gebrannt, da sollten Asylbewerber rein. Überall klebten Hakenkreuze, warum hat das keinen aufgeregt?« Die Abgeordnete: »Diese Randerscheinungen hat es immer gegeben.« Der Türke: »Hier war Friede, jetzt ist Krieg.«
Er könne es nicht mehr hören, stöhnt der Türke, der Ibrahim Söyleyn heißt und 26 Jahre alt ist, wenn ihm Deutsche vorschwärmten, wie gastfreundlich die Türkei zu Urlaubern sei. Er gehört zur neuen Generation jener Türken, die nicht länger schulterklopfend mit dem Bekenntnis bedacht werden wollen, sie seien ja auch Menschen. Sie sind hier geboren, sie wollen die gleichen Rechte wie deutsche Staatsbürger.
Als Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Björn Engholm und Oppositionsführer Ottfried Hennig den Trümmern ihren Beileidsbesuch abstatteten, schallten ihnen die Forderungen der Türken entgegen. Engholm nickte beifällig: Seine Regierung hatte das kommunale Wahlrecht für Ausländer zum Gesetz gemacht, wenn auch die Türken ausgeschlossen blieben. Hennig guckte taub wie Stoltenberg in seinen besten Zeiten: Seine Partei hatte das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht wieder aufheben lassen.
Warum könne man nicht das Grundgesetz ändern, wenn es die Einwanderer diskriminiere, fragen die Türken. Für sie ist Mölln mehr als der Beginn des Widerstandes gegen die rechten Deutschen. Für sie ist der dreifache Mord eine letzte Warnung an alle Deutschen, sie nicht länger wie Bürger zweiter Klasse zu behandeln.
Der Tod von Ramasan Arei und die Gewalt gegen die Türken seit Mitte der achtziger Jahre hatten nichts geändert.
Jetzt sind es auch Besonnene, die eine Gegenwehr und eine militante Bürgerrechtsbewegung nach dem Vorbild der Schwarzen in den USA fordern. In Mölln ist die Kraft dieses neuen Selbstbewußtseins zu spüren: Die Türken erwarten mehr als Mitleid und Beileid.
Für viele Deutsche ist Mölln der letzte Beweis, daß der Terror von rechts bisher nur vordergründig auf die Asylbewerber zielte. In den Flammen verglimmten die konstruierten Unterschiede zwischen »Scheinasylanten«, »Asylanten« und »Ausländern« - die Gewalt gilt allen Fremden.
Jene Möllner, die gern weiter an das Gute im Rechten glauben, nähren das Gerücht, der Mord sei nicht die Tat von Rassisten, sondern von Hamburger Kriminellen, die ihren Kiez-Konkurrenten Faruk Arslan, den zweitältesten Sohn der Familie, treffen wollten.
»Wir haben auch an diese Möglichkeit gedacht«, sagt ein Sprecher der Möllner Türken. »Wir kennen Faruks Lebenswandel. Wenn er bei einem Anschlag umgekommen wäre, würden wir nicht sofort von rechter Gewalt sprechen.« Aber, fragen die Türken, warum soll jemand, der Faruk ermorden will, das Haus seiner Familie anzünden, in dem er selber schon länger nicht mehr wohnt? Warum brannte ein zweites Haus weit entfernt, das Gebäude, welches die meisten türkischen Bewohner in Mölln hat?
Die Täter riefen unmittelbar nach der Brandstiftung bei der Feuerwehr an, über den nur Ortskundigen bekannten Anschluß, und brüllten: »Heil Hitler!« Zwei Zeugen haben einen hellen Mercedes mit vier Jugendlichen und einen VW-Bus aus dem Osten zur Tatzeit aus der Mühlenstraße rasen sehen.
Für Stefan und seine vier Freunde mit der rechten Einstellung ist der 28jährige Faruk Arslan »ein Zuhälter, einer, der junge Mädchen aus Mölln in Hamburg auf den Strich schickt, ein Schläger, mit dem schon jeder in Mölln Ärger hatte": ein Prachtexemplar des bösen Ausländers also, wie geschaffen für Leute, die für Recht und Ordnung in Deutschland sorgen wollen. An der Schlägerei mit den Skinheads vor drei Wochen war Arslan beteiligt.
Den 25jährigen Michael Peters aus Gudow, der seit Mittwoch in Untersuchungshaft sitzt, kennen Stefans Gesinnungsfreunde. »Der hat schon alles mögliche angezündet«, aber er sei zu blöd, um einen Anschlag wie den in Mölln auszutüfteln. Er läuft seit fünf Jahren in Kampfanzug und Springerstiefeln herum, ist stolz auf ein Metallsuchgerät und veranstaltet auf der Wiese am See Übungen mit den Skins aus der Umgebung.
Im Wahlkampf war er für die NPD unterwegs, während die Skins aus Mölln mehr den Republikanern zugeneigt sind.
Jan, Stefans Freund, trägt seit den Morden eine Mütze. Als Glatzkopf lebt man zur Zeit gefährlich in Mölln. Sein Bruder liegt mit gebrochenem Kiefer im Lübecker Krankenhaus; er ist dem abgebrannten Haus in der Mühlenstraße zu nahe gekommen. Wöbbel liegt zu Hause im Bett, hat Urlaub, seinen tätowierten Körper in einen weißen Frotteemantel gehüllt und wartet darauf, daß die Kripo klingelt.
Einen Molotow-Wurf vom Möllner Jugendfreizeitheim entfernt sitzen die Eltern der Skinhead-Generation in der Sportklause beim Bier zusammen. Sie sind Postbeamter, Monteur, Soldat oder Tischler. Ihre Haare tragen sie kurz. Alle sind mit einem Türken zur Schule gegangen, das seien brave Steuerzahler, räumen sie ein. »Wenn ein Asylantenheim gebrannt hätte, das hätte ich verstanden«, sagt einer. Die acht Prozent der Möllner, die DVU wählen, das seien doch nur Protestwähler, keine Nazis.
Derjenige, der bei der Stadtverwaltung beschäftigt ist, ärgert sich über die türkische Fahne, die er hissen mußte, »auf Halbmast!« Er sei gespannt, fragt er lauernd in die schmunzelnde Runde, ob jetzt für die deutschen Toten des Orkans auch eine Spendenaktion anlaufe.
* Namen von der Redaktion geändert.