BERLIN-SITZUNG So, so
Biergarten und Kurfürstendamm,
Grunewald und Ost-Berlins Wuhlheide glichen akustisch den Dschungeltälern Nordvietnams. Sowjetische Düsen-Jabos der Typen Mig 19 und Mig 21 jagten über die Dächer der Stadt, warfen sich knallend durch die Schallmauer, feuerten Salven ab. Ein entfesselter Satrap demonstrierte Macht und Ohnmacht zugleich. Er ließ die Sowjetflieger Benzin und Platzpatronen verjuxen, Schaufensterscheiben zertrümmern und Berlins Hunde unter Sofas heulen.
Während der Bundestag am Mittwochnachmittag letzter Woche in der Kongreßhalle über Fragen der Kriegsgräberfürsorge diskutierte, hatten die Fraktionsgeschäftsführer Mühe, die Abgeordneten im Saal festzuhalten. Immer wieder entwischten einzelne auf die Terrasse, um die Demonstration gegen die Berliner Präsenz des Deutschen Bundestages zu beobachten.
Ulbricht hatte seinen Wutanfall zu Lande, zu Wasser und in der Luft generalstabsmäßig organisieren können. Am 15. März hatte Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier den 7. April als den Tag der Berliner Bundesstagssitzung bekanntgegeben. Rund 14 Tage später, am Montag vorletzter Woche, setzte die Gegenaktion Ost-Berlins ein - wie es sich nach marxistischer Doktrin gehört: mit Empörungskundgebungen des arbeitenden Volkes.
So durfte die »leidgeprüfte Mutter des ... von Frontstadt-Terroristen ermordeten jungen Unteroffiziers und Lehrers Egon Schulz« im »Neuen Deutschland« der »Scharfmachertagung des Bonner Parlaments« wegen der Berlin-Sitzung eine Absage erteilen und die Angestellte Martha Viek sich aus gleichem Anlaß aufregen: »Was sollen die Störmanöver?«
Der proletarischen folgte die diplomatische Empörung: DDR-Außenminister Lothar Bolz protestierte in Bonn, Pankows Ministerpräsident Willi Stoph schickte einen Briefboten ins Schöneberger Rathaus.
Ab Freitag vorletzter Woche aber begann Ulbricht, mit Schlagbäumen, Polizeikellen und Jabos an den »essentials« Berlins zu knabbern - jenen »lebenswichtigen« Erfordernissen West-Berlins, die einst Präsident Kennedys Berlin -Berater, General Lucius D. Clay, beschworen hatte:
- »Wir werden die alliierten Rechte auf Zugang zu Lande und völlige Freiheit des Zugangs in der Luft wahren.«
- »Wir werden auf der Lebensfähigkeit West-Berlins bestehen, das heißt der Freiheit der Bewegung von Personen und Gütern nach West-Berlin.«
Die Schikanen setzten an der Zonen-Grenze ein. Die DDR-Grenzler fertigten Berlin-Reisende schleppend ab. Bundestagsabgeordneten und zeitweilig sogar deren Frauen wurde die Passage verweigert. Berlins Regierender Bürgermeister mußte am Lauenburger Zonenübergang umkehren, und das »Neue Deutschland.« freute sich, daß Brandt nur mit »So, so« reagiert habe. Über Wochenende und Wochenanfang steigerte sich das Schikane-Unternehmen über stundenlange Passage-Stopps auf Autobahn, Straße und Kanal bis zu gefährlichen Schein-Angriffen gegen Passagierflüge - und zeitweilig sogar zu Behinderungen alliierter Berlin-Transporte.
Bereits am Montag aber zeichnete sich in den Hauptquartieren der drei West-Berliner Stadtkommandanten ab, daß die Ost-Berliner Störaktion zwar darauf angelegt war, durch verwirrende Wechsel der Maßnahmen und Schauplätze ein dramatisches Bild zu erwecken, aber niemals dahin zielte, eine totale Blokkade West-Berlins zu verwirklichen und mithin West-Berlins »essentals« zu verletzen.
Zu keinem Zeitpunkt des Schikane-Unternehmens waren sämtliche Straßen nach Berlin gleichzeitig blockiert. Der Luftverkehr wurde nicht ernsthaft, der alliierte Zugang auf der Straße nur geringfügig behindert.
Der Hauptgesichtspunkt, nach dem Ulbricht seine Aktion hatte anlegen lassen, war offenkundig der, die westlichen Schutzmächte so wenig wie möglich, die Westdeutschen und West-Berliner aber so heftig wie möglich zu belästigen. Zweck dieser Strategie: Ohnehin vorhandene Differenzen zwischen Bonn und seinen Verbündeten in der Beurteilung der West-Berliner Situation zu vertiefen.
Tatsächlich gibt es diese Differenzen seit April 1949. Damals verweigerten die Alliierten dem Parlamentarischen Rat, Berlin als Bundesland zu benennen und den Berliner Bundestagsabgeordneten Stimmrecht zu verleihen.
Ein Jahr später verlangten die Schutzmächte von der Berliner Stadtverordnetenversammlung, sie möge den Artikel 1 der Berliner Verfassung »zurückstellen«. Der Artikel proklamierte: »Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland.«
Im Deutschlandvertrag von 1954 schließlich, behielten Amerikaner, Englander und Franzosen sich unter anderen »die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten' in bezug auf Berlin« vor.
Seither ist es eine Streitfrage, ob die von den Berliner Schutzmächten bis 1954 ausgeübten und laut Deutschland-Vertrag weiterhin gültigen Rechte auch ein alliiertes Genehmigungsrecht für Bundestagssitzungen und ähnliche Hoheitsakte beinhaltet. Bundestagspräsident Gerstenmaier letzte Woche: »Wir brauchen niemanden zu fragen, wenn wir hierherkommen wollen. Es gehört sich aber, daß den Schutzmächten eine solche Sitzung angezeigt wird.«
Praktisch haben die Alliierten, die allein den Schutz West-Berlins garantieren, ihren Anspruch, über West-Berlin zu wachen, jahrelang nachsichtig vertreten.
Sie akzeptierten bis zur Bundestagssitzung letzte Woche, daß
- der Bundestag zwischen 1949 und 1958 viermal nach Berlin kam (Oktober 1955, 1956, 1957 und 1958);
- dreimal in Berlin ein Bundespräsident gewählt wurde (1954 Wiederwahl von Heuss, 1959 erste Wahl von Lübke, 1964 Wiederwahl von Lübke);
- der turnusmäßige Aufenthalt des Bundespräsidenten in West-Berlin zur Gewohnheit wurde;
- in regelmäßigen Abständen Bundestagsausschüsse und Fraktions-Vorstände in West-Berlin tagen;
- der Berliner Regierende Bürgermeister als Mitglied des Bundesrats gelegentlich die Rechte des Staatsoberhauptes der Bundesrepublik ausübt;
- die Berliner Abgeordneten (seit 1959)
in den Bundesversammlungen bei der Wahl des Bundespräsidenten uneingeschränkt mitstimmen.
Andererseits hat die Bundesrepublik den prinzipiellen Anspruch der Alliierten auf das letzte Wort in Berliner Angelegenheiten meistens respektiert. Das Bundesverfassungsgericht kam 1957 zu der Ansicht: Zwar sei Berlin ein Bundesland, doch gelte das Grundgesetz in Berlin nur, »soweit nicht aus der Besatzungszeit stammende und noch heute aufrechterhaltene Maßnahmen der Drei Mächte seine Anwendung beschränken«.
Jahrelang hatte Walter Ulbricht Bundestagssitzungen in West-Berlin unwidersprochen hingenommen oder nur mit papierenen Protesten beantwortet.
1955, als der Bundestag zum erstenmal in Berlin tagte, hatte sich das »Neue Deutschland« noch gefreut: »Wir begrüßen es, daß die Bundestagsabgeordneten endlich den Weg nach Berlin gefunden haben.«
Im Januar 1958 allerdings befand Ost-Berlin durch einen Artikel des DDR-Staatsrechtlers Kröger - einst SS -Oberscharführer und lange Zeit Ulbrichts Schreibhand -, daß Gesamt-Berlin schon seit 1945 »zum Gebietsstand der sowjetischen Besatzungszone gehörte«.
Zehn Monate spät& schloß sich Chruschtschow dieser Ansicht an. Am 27. November 1958 verlangte er die Räumung West-Berlins durch die Westmächte. West-Berlin sollte, wie er meinte, in »eine selbständige politische Einheit, eine Freistadt«, verwandelt werden. Angesichts dieser Drohung rieten die westlichen Botschafter in Bonn über sechs Jahre lang stets ab, wenn sie nach der Opportunität von Bundestags-Plenarsitzungen in West-Berlin gefragt wurden. Und Bonn hielt sechs Jahre lang still - bis zum 12. Januar des Wahljahres 1965, an dem Erich Mende seinen Parteigenossen, den Bundestagsabgeordneten Mertes, in den in Berlin tagenden Ältestenrat des Bundestags schickte, um dort die Fahne der Berlin-Treue zu entfalten: Mertes schlug vor, die gerade aus Anlaß zahlreicher Ausschußsitzungen in West-Berlin anwesenden Abgeordneten zu einer Plenarsitzung einzuberufen.
Obwohl CDU/CSU und SPD wegen des Propaganda-Coups der Freien Demokraten verärgert waren und die sofortige Einberufung ablehnten, sahen sie sich gezwungen, der einmal ausgegebenen Parole zu folgen.
Am 26. Februar lud Eugen Gerstenmaier die drei Botschafter George McGhee, Francois Seydoux und Frank Roberts zu einem Essen in seine Godesberger Amtswohnung. Dort »notifizierte« er (so Bundestagsdirektor Troßmann) den Verbündeten seine Absicht, den Bundestag im Frühjahr zu einer Plenarsitzung nach Berlin einzuberufen. Angesichts der teils undurchsichtigen, teils überraschten Mienen seiner Gesprächspartner trumpfte Gerstenmaier auf: Schließlich sei er seinen Loyalitätspflichten gegenüber den Berliner Schutzmächten immer nachgekommen. Seine ablehnende Haltung gegenüber dem plötzlichen Vorstoß der FDP im Januar beweise das.
Am klarsten sprach sich der Botschafter des nach westdeutschen Devisen hungrigen Englands aus. Die Regierung seiner Majestät habe nichts gegen den Zusammentritt des Bundestags in Berlin, erklärte Sir Frank.
McGhee und Seydoux warnten wie bisher - allerdings etwas schwächer. Andererseits war Gerstenmaiers Entschlossenheit, Warnungen zu überhören, stärker als sonst.
Dafür versprach Gerstenmaier seinen Gesprächspartnern eine Routinesitzung ohne politisches Schwergewicht und ohne brisante Themen aus dem Bereich der Berliner Problematik. Dieses Versprechen Gerstenmaiers wurde dann in Berlin letzte Woche zum Ausgangspunkt von Zänkereien zwischen den Christdemokraten und Willy Brandt, wobei auch protokollarische Differenzen eine Rolle spielten.
Bundeskanzler Erhard war - in Abänderung seines Planes, am Mittwochvormittag nach Berlin zu kommen - schon Dienstag abend in Tempelhof gelandet. Brandt, der an diesem Abend anderweitig engagiert war, entsandte Bundessenator Schütz zum Flughafen. Erhard war empört. Den hellen Mantel, in dem Schütz erschienen war, beanstandete er als protokollwidrig. Brandts Wunsch, am Mittwochnachmittag Seite an Seite mit dem Kanzler die Kongreßhalle zu betreten, lehnte Erhard ab.
So unterblieb auch eine andere, von Brandt geplante Demonstration der Einmütigkeit von Berlin und Bonn. Brandt hatte in seiner Eigenschaft als Bundesratsmitglied eine Erklärung zur Berliner Lage vor dem Plenum abgeben wollen.
Es war Gerstenmaier, der diesen Plan Brandts unter Hinweis auf das Versprechen gegenüber den drei Botschaftern zu Fall brachte. Bestehe Brandt auf seiner Absicht, dann werde er, Gerstenmaier, auf seine bereits angekündigte Eröffnungserklärung verzichten. Angesichts dieser Perspektive gab Brandt nach.
Schon vorher hatte der christdemokratische Fraktionschef Rainer Barzel drohend wissen lassen: Er freue sich, daß Brandt sich endlich dem Bundestag stelle. Am Horizont der Berliner Bundestagssitzung zeichnete sich so ein hitziges Streitgespräch der Parteien über die Berlin-Politik ab. Gerstenmaiers Horror vor Brandts Absicht war dadurch noch vertieft worden.
Auch sonst meldete sich Unbehagen. Das Ausmaß der Ost-Berliner Reaktion auf die Berliner Sitzung hatten Bundesregierung und Bundestag überrascht. Zukünftige Pressionen Ost-Berlins werden befürchtet. Brandt: »Es kann durchaus sein, daß die Kommunisten bei den nächsten. Passierschein-Verhandlungen von uns eine sogenannte Wohlverhaltensklausel verlangen. Dann sollen die Verhandlungen scheitern. So etwas unterschreiben wir nicht.«
Aber auch im Ost-Berliner SED-Politbüro zeigte man sich letzte Woche beklommen. Deutlich hatte der sowjetische Parteichef Breschnew am Donnerstag Ulbrichts Schikane-Unternehmen entschärft: »Heute«, sagte der Russe in Warschau, »gibt es hier (in Europa) keine unmittelbare Kriegsgefahr.«
Sowjet-Düsenjäger über dem Reichstag
Ein entfesselter Satrap...
Bundestagssitzung in der Kongreßhalle
... demonstrierte Macht und Ohnmacht
Neues Deutschland
DDR-Karikatur zur Berlin-Sitzung: Mit Jabos und Bordwaffen...
... gegen Fragen der Kriegsgräberfürsorge: DDR-Sperre am Kontrollpunkt Staaken