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Artikel 41 / 76

»So würde ich den Krieg beenden ...«

aus DER SPIEGEL 16/1968

1. Fortsetzung

Kampf um eine neue Gesellschaft Man hat dem politischen Krieg in

Vietnam viele Namen gegeben: Befriedung, Aktion Bürgersinn, Wehrdorf-Bewegung »Neues Leben« und Revolutionäre Entwicklung. Seit 1966 nennt man ihn häufig den »anderen Krieg«, um ihn von den großen aktiven Operationen, vor allem der US-Truppen, zu unterscheiden.

Aber wer schon die Bezeichnung »anderer Krieg« benutzt, gibt damit zu erkennen, daß für ihn »richtiger Krieg« eben doch der militärische Großeinsatz Ist. Dennoch ist der »andere Krieg«, der politische Wettstreit um die Loyalität des Volkes von Vietnam, in Wirklichkeit der eigentliche Krieg. Und dieser »andere Krieg« ist in den letzten zwei Jahrzehnten wiederholt verloren worden: zuerst von den Franzosen, dann von dem Diktator Diem und dessen Nachfolgern.

Er wurde verloren nicht nur wegen der Stärke der Kommunisten, sondern vor allem wegen der Schwäche, Ignoranz und Habgier der südvietnamesischen Regierungen.

Die Franzosen verweigerten Indochina die Selbstregierung, und die Vietminh

1968 Bertelsmann Sachbuchverlag Reinhard Mohn, Gütersloh.

wurden Repräsentanten, Führer und Organisatoren all derer, die für ihre Nation die Unabhängigkeit wünschten. Wie wichtig ihnen diese Position war, zeigt sich darin, daß die Vietminh andere nationalistische Gruppen, oft mit blutiger Gewalt, ausschalteten.

Das Diem-Regime war in seiner Endphase so repressiv, daß es sich der Bevölkerung entfremdete und viele Südvietnamesen den Aufständischen in die Arme trieb; zugleich aber war es zu korrupt und zu unfähig, die Rebellen niederzuwerfen.

Nachdem Diem von seinen eigenen Generälen gestürzt worden war, folgten 15 Monate des Chaos und der inneren Machtkämpfe, so daß -- wie Senator Mansfield ausführte -- im Jahre 1865 der »totale Zusammenbruch der Regierungsgewalt Saigons« unmittelbar bevorstand. Es· ist dieses politische Versagen, das zur immer stärkeren Ausweitung des Krieges geführt hat,

Betrachten wir zunächst das Problem der Landreform. Vietnam ist vorwiegend ein Agrarland; die Frage des Bodens ist daher für die soziale und politische Struktur von zentraler Bedeutung.

Im größten Teil von Südvietnam sind 45 Prozent des Bodens in der Hand von 6300 meist abwesenden Großgrundbesitzern (zwei Prozent aller Grundbesitzer überhaupt), während den 183 000 Kleinbauern (72 Prozent aller Grundbesitzer) ganze 15 Prozent des Bodens gehören. Vier Millionen sind arbeitslos -- Bauern ohne Land und ohne Einkommensquelle; noch weit höher ist die Zahl der Pächter.

Seit 1945 hat praktisch jeder Beobachter in Vietnam erklärt, daß die Landreform, die sowohl die Umverteilung des Besitzes als auch die Beschränkung der Befugnisse der Großgrundbesitzer gegenüber ihren Pächtern umfaßt, ein zentrales Element der Auseinandersetzung bildet.

Heute hat der Anti-Amerikanismus die Landreform als Propagandathema der Vietcong weitgehend ersetzt. Aber viele Jahre lang war sie eines der wichtigsten Anliegen der Aufständischen; und selbst heute ist die Parole der Landreform noch recht wirksam.

Aber trotz aller Versprechungen, Gesetze, Verordnungen und Erlasse hat keine nichtkommunistische vietnamesische Regierung je eine ernsthafte Landreform durchgeführt.

Zwei Verordnungen Diems aus den Jahren 1955 und 1956 begrenzten den Besitz von Reisland auf 100 Hektar pro Person und die Pacht auf 25 Prozent des Ernte-Ertrags. Die durchgreifenden Landreformen in Formosa und Japan haben dagegen den Besitz jeder Familie auf sieben beziehungsweise zehn Hektar beschränkt.

Doch selbst die bescheidenen Verordnungen Diems wurden nicht durchgesetzt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten müssen die Pächter (70 Prozent der Bauern im Mekong-Delta) immer noch 50 oder mehr Prozent ihrer Reisernte an die Großgrundbesitzer abgeben.

Wenn Regierungstruppen in Vietcong-Gebiete einrücken, finden sich in ihrem Troß zuweilen immer noch die Grundbesitzer. Sie erwarten von den Truppen nicht nur, daß sie ihnen ihre Ländereien wiedergewinnen, sondern auch, daß sie die rückständige Pacht eintreiben für die Jahre, die sie selbst in Sicherheit verbracht haben.

In jenen Gebieten, die sich fest in der Hand der Regierung befinden, ließen sich sehr wohl einfache und praktische Landreform-Maßnahmen einführen und durchsetzen. Damit wäre automatisch anderen Gebieten ein Anreiz geboten, sich unter die Herrschaft der Regierung zu begeben.

Man könnte den Boden an die Bauern verteilen, die ihn bestellen, und allen Landbesitz auf eine (entsprechend den örtlichen Bedingungen unterschiedliche) Anzahl von Hektar beschränken, ähnlich wie in Japan und Formosa; man könnte den Pachtzins völlig abschaffen.

Die Kosten einer Entschädigung der Grundbesitzer wären relativ gering. Wir hätten immer sagen können: Es soll der Vietcong sein, der die Bauern besteuert und ausbeutet, nicht die südvietnamesische Regierung.

Ohne Zweifel wäre die Umverteilung des Bodens inmitten dieses grausamen Krieges schwierig. Aber der ganze Krieg ist schwierig, besonders für die jungen Amerikaner, die kämpfen und sterben, und für deren Familien; es muß einen besseren Grund für das Ausbleiben von Reformen geben, als daß sie »schwierig« durchzuführen wären.

Auf der Honolulu-Konferenz vom Februar 1966 haben die Vereinigten Staaten in ihrer Erklärung »volle Unterstützung von Maßnahmen der sozialen Revolution, einschließlich der Landreform« versprochen. Sowohl in der vietnamesischen Erklärung auf derselben Konferenz wie auch in der gemeinsamen Erklärung beider Regierungen fehlte jedoch jeder Hinweis auf die Landreform.

Das war kein Zufall. Jahrelang haben sich die Regierungen Südvietnams geweigert, die echten Landreformen zu verwirklichen, zu denen wir sie drängten. Allenfalls haben sie symbolische Schritte unternommen, sie erließen Verordnungen und Gesetze, die dann in den Landgebieten nicht durchgesetzt werden.

Die Regierungen Südvietnams -- nicht nur die Kabinettsmitglieder, sondern auch die Beamten, die Offiziere und die Provinzgouverneure -- bestanden und bestehen großenteils aus Angehörigen oder Verbündeten der privilegierten Klasse, für die der Landbesitz die Basis von Reichtum und Macht ist.

Angesichts der Wahl zwischen dem Wohl ihrer Nation und der Erhaltung ihrer Privilegien haben sie sich für ihre privaten Vorrechte entschieden. Für die allermeisten von ihnen lohnt es sich nicht, den Krieg zu gewinnen, wenn sie dabei ihren Landbesitz, ihr Vermögen und ihre Macht verlieren.

Diese fortgesetzte Herrschaft der Reichen und Privilegierten, nicht der Krieg oder der kommunistische Terror, ist der Grund dafür, daß die Landreform früher wie heute verhindert wurde.

Das Problem der Korruption bietet ein zweites Beispiel. Wir wissen seit Jahren, daß in Südvietnam die Korruption allgegenwärtig ist; wir mögen über ihr Ausmaß angesichts des Sterbens von Amerikanern bekümmert sein, dennoch sind wir geneigt, sie als eine Randerscheinung des Krieges zu betrachten.

Aber die Korruption ist nicht bloß eine Sache von spektakulären Einzelfällen wie dem jenes Kabinettsmitglieds, das fast eine Million Dollar von US-Firmen kassierte, die Medikamente an die Regierung verkauften.

Es ist ein ganzes System, mit dessen Hilfe die Armee und die gesellschaftliche Elite die Masse der Bevölkerung zusätzlich ausbeuten: durch den Verkauf von Regierungsämtern, durch das Abschöpfen der amerikanischen Hilfslieferungen auf einem Dutzend Stufen, bevor sie die Bauern erreichen, und durch die fortgesetzte Beschäftigung unfähiger Beamter.

Wenn Generäle und Regierungsvertreter in einem Luxus leben, der ihren

* Stehend von links: Bruder Nhu, Chef der Geheimpolizei; Diem; Bruder Thuc, Erzbischof von Hué; Schwester van Am; Schwägerin Nhu; Bruder Canh, Gouverneur von Mittelvietnam; Bruder Luyen, Botschafter in London.

offiziellen Gehältern nicht im entferntesten angemessen ist, bedeutet das für unsere Anstrengungen weit mehr als nur vergeudetes Geld. Es hat auch einen allgemeinen Zynismus und politische Niederlagen zur Folge.

Oberstleutnant William Carson, Leiter des Gemeinsamen Aktionsprogramms der Marineinfanterie in Da Nang, hat diesen Vorgang prägnant dargestellt: »Der Bauer sieht, daß wir eine lokale Verwaltungsstruktur unterstützen, von der er weiß, daß sie korrupt ist. Also nimmt er an, daß wir entweder dumm oder daran mitschuldig sind. Und er kommt zu dem Schluß, daß wir nicht dumm sind.«

Die soziale Frage erstreckt sich auch sehr weit auf die Armee, die trotz aller unserer Bemühungen noch immer in dem System der Korruption und Mißwirtschaft gefangen ist und allzu häufig von Angehörigen der Elite gleichgültig geführt wird.

Der einfache Soldat, der zuweilen ein tapferer und ausdauernder Kämpfer ist, leidet immer noch unter schwersten Belastungen: Er wird schlecht bezahlt, schlecht ernährt, erhält wenig oder gar keine Unterstützung für seine Familie; jahrelang kämpft er gegen die Vietcong und damit zugleich für die Erhaltung desselben Systems, das ihn und seine Familie ausbeutet.

Die Ergebnisse lassen sich an der bestürzenden Desertionsquote ablesen. Das amerikanische Oberkommando in Vietnam gab bekannt, daß allein in den ersten drei Monaten des vergangenen Jahres 18 000 Soldaten der Armee der Republik Vietnam (ARVN) desertierten. Gegenüber früheren Jahren hat sich die Zahl der Desertionen immerhin verringert.

Ein gut informierter Beobachter hat jedoch erklärt, daß »in Vietnam alle Statistiken Dichtung sind«; sie machen zum Beispiel nicht deutlich, daß die meisten Deserteure nicht zu den Vietcong überlaufen, sondern einfach nach Hause gehen. Aber wie ungenau die Statistiken im einzelnen auch sein mögen -- ihre allgemeine Aussage über das moralische Engagement der ARVN läßt sich nicht leugnen.

Ein Anzeichen für die Schwäche der ARVN ist die wachsende Kampflast der amerikanischen Streitkräfte. die nach einer Verlautbarung seit Ende 1966 alle offensiven und größeren Operationen übernommen haben, so daß der südvietnamesischen Armee nur noch der Schutz des Hinterlandes und die Befriedungsaktionen verbleiben.

Selbst in den Gebieten, wo die ARVN Kampfaufgaben behalten hat, fanden 1967 immer weniger Kampfhandlungen statt: Das Verhältnis von je einer einzigen Feindberührung bei 200 Einsätzen kleinerer Einheiten im Jahr 1965 fiel 1967 auf 1:400. (Bei den amerikanischen Streitkräften lautet das Verhältnis 1:38.)

Da das Befriedungsprogramm nicht vorwärtskommt, erheben sich jetzt Stimmen, man brauche mehr Amerikaner, damit sie auch noch diese Aufgabe übernehmen können; einige amerikanische Kommandeure, besonders die Führer der Marineinfanterie, haben es bereits für nötig gehalten, ihre Truppen bei der Befriedungsarbeit einzusetzen.

Die Tatsache, daß wir in Vietnam überhaupt dorthin gekommen sind, wo wir heute stehen, ist deshalb ein Beweis für die Tapferkeit und Tüchtigkeit unserer jungen Männer, die sich mit der Leistung jeder amerikanischen Armee der Geschichte messen können.

Unsere Hochachtung gilt aber auch den Bewohnern isolierter Dörfer, in denen der Widerstandswille gegen die Vietcong trotz des Versagens der Saigoner Regierung überlebt hat, schließlich jenen Südvietnamesen, vor allem in den Elite-Einheiten, die den Kampf ungeachtet der Apathie oder Untüchtigkeit eines so großen Teiles der ARVN fortgesetzt haben. Sie sind jedoch für die südvietnamesische Armee nicht repräsentativ.

Das Ausbleiben von Reformen, die Korruption und Schwäche, eine Armee, die sich auf die Befriedungsarbeit beschränkt, während amerikanische Truppen die Last des Kampfes auf sich nehmen -- all das läßt erkennen, in welchem Maß dieser Krieg zu einem amerikanischen Krieg geworden ist. Und dies ist unser eigentliches Problem in Vietnam.

Im Rahmen eines weltweiten Kampfes gegen die Ausweitung der kommunistischen Macht und zum Schutz der Selbstbestimmung des Volkes von Südvietnam haben wir uns zur Unterstützung seiner Regierung verpflichtet. Bis zum heutigen Tag sind die Interessen der Bevölkerung des Landes und nicht die der Regierung Hauptgrund für unsere fortgesetzte Unterstützung Vietnams.

Aber dabei wurden wir zu Verbündeten eines Regimes und einer Klasse, die weder den Willen noch die Fähigkeit zeigt, den Bedürfnissen ihres eigenen Volkes Rechnung zu tragen. Es war stets unsere Hoffnung und unser Ziel, die Regierung zur Durchführung der notwendigen Reformen zu veranlassen und ihr dabei Beistand zu leisten.

Unsere Anstrengungen beruhten nicht nur auf der Einsicht, daß der Kampf sonst scheitern müßte, sondern sie ergaben sich auch aus unserer Verpflichtung, die dem südvietnamesischen Volk als Ganzem galt, nicht irgendeiner kleinen Gruppe. Aber die Halsstarrigkeit der Regierung hat dem eigenen Volk geschadet und den Kommunisten genützt -- um den Preis amerikanischer Menschenleben.

Dennoch müssen wir uns einen Sinn für Proportionen bewahren. Manche Amerikaner sind derart abgestoßen von der Tatsache, daß wir eine eigensüchtige und repressive Regierung unterstützen, daß sie ins andere Extrem fallen und unsere Gegner idealisieren: In dem gütigen »Onkel Ho« und den von ihm geführten vietnamesischen Kommunisten sehen sie nichts anderes als eine relativ gutartige nationalistische Kraft.

Nur eine beängstigende Gleichgültigkeit gegenüber den menschlichen Opfern des nordvietnamesischen Nationalismus kann dessen Ausbreitung für wünschenswert halten. Das nordvietnamesische Regime ist weit repressiver und in seinen Methoden rücksichtsloser als irgendeine Regierung im Süden.

Das nordvietnamesische »Landreform«-Programm von 1954/55 war eine Zwangskollektivierung nach chinesischem Vorbild; die von ihr ausgelöste Bauernrevolte wurde von Ho Tschi-minhs Armee brutal niedergeschlagen, über 100 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Es gibt heute in Nordvietnam nichts, das wir als Freiheit gelten lassen würden.

Im Süden wird das Vietcong-Programm durch grausamsten Terror vorangetrieben: durch Enthauptungen und Verstümmelungen, durch das Töten von Frauen und Kindern. Dies war wirksamer -- weil selektiver -als unsere Luft- und Artilleriebombardements. Das ist jedoch kein Grund, derlei Vietcong-Siege moralisch zu billigen oder gar zu bejubeln.

Deshalb geht es bei der Untersuchung der Mängel des Saigoner Regimes nicht darum, zu entscheiden, ob es stürzen »sollte« oder ob seine Feinde zu siegen »verdienen«. Verlierer ist in beiden Fällen das Volk von Vietnam, dessen Mehrzahl allem Anschein nach wenig Lust verspürt, von den Generälen in Saigon oder den Vietcong in den Landgebieten regiert zu werden.

Es gilt vielmehr herauszufinden, wo das nationale Interesse der Vereinigten Staaten liegt und wie man ihm am besten dienen kann, Es ist uns nicht immer möglich, unsere Verbündeten auszusuchen oder uns nur mit solchen Regierungen zu. verbünden, deren Verhalten wir gutheißen.

Bei aller Tapferkeit seiner Armee und seiner Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg hatte unser sowjetischer Kriegsverbündeter bei der großen Säuberung gerade drei Jahre zuvor Millionen seiner eigenen Bürger, Parteiführer und Offiziere ermordet; und während des ganzen Krieges unterhielt Stalin seine Todeslager in der Arktis und in Asien, die von 1925 bis 1950 viele Millionen Opfer forderten.

Die offenkundige Notwendigkeit des Bündnisses gegen den Nationalsozialismus legt nahe, daß Antipathie gegen eine Regierung nicht der einzige Maßstab für den Abschluß von Bündnissen sein sollte und sein kann. Aber unsere Selbstachtung und das nationale Interesse verlangen durchaus, daß Notwendigkeit und Wirksamkeit solcher Bündnisse genau abgewogen werden.

Dies sind Betrachtungen allgemeiner Art. Was sie konkreter bedeuten, offenbart eine quälende Frage: die Kriegsverluste unter der Zivilbevölkerung.

Seit dem Beginn des direkten amerikanischen Eingreifens wird oft von unseren eigenen Experten warnend darauf hingewiesen, daß der wahllose Einsatz von Flugzeugen und schwerer Artillerie gegen Dörfer Tausende unschuldiger Zivilisten das Leben kosten und doch damit nur mehr Vietcong schaffen würde, als unsere Waffen vernichten können.

Trotz dieser Warnungen ist Artilleriebeschuß ohne Beobachter nach wie vor ein wichtiges Element des Krieges; Luftangriffe werden immer noch häufig auf Grund ungenügender Informationen befohlen; und weite Gebiete sind zu »freien Bombardierungszonen« erklärt, wo jede Person und jede Hütte als zu den Vietcong gehörig betrachtet wird und angegriffen werden darf.

Niemand vermag abzuschätzen, wie viele Menschen sich als Konsequenz solcher willkürlichen Zerstörung den Vietcong angeschlossen haben. Wir wissen aber, daß jeder achte Südvietnamese Flüchtling ist, auf der Flucht in erster Linie vor den Bomben und Granaten.

Wir wissen, daß die Verluste unter den Zivilisten in die Hunderttausende gehen, für einen hohen Prozentsatz tragen wir Amerikaner die Verantwortung. Und wir wissen auch, daß die geschätzte Stärke der Vietcong von maximal 115 000 Mann im Jahr 1965 auf mindestens 250 000 im Jahr 1967 gestiegen ist.

Laut »New York Times« hat der US-Geheimdienst CIA geschätzt, daß dem Feind zu Beginn der Tet-Offensive im Januar 1968 Truppen in der Stärke von 515 000 bis 600 000 Mann zur Verfügung standen. Ganz offensichtlich haben die Vietcong ihre Rekrutierung in Südvietnam beträchtlich erhöht.

Viele Kritiker des Krieges erregen sich über die Verluste, die den Zivilisten zugeführt werden, und über das Fehlen ausreichender Bemühungen zur Betreuung der Opfer. Niemand kann unberührt bleiben beim Anblick der Photographien von verbrannten oder ertrunkenen oder von Bomben zermalmten Kindern, die wir täglich sehen.

Die Fürsprecher des Krieges fordern dagegen, die Kritiker sollten auch die Vietcong verdammen. Gewiß ist deren Terrorismus nicht weniger unmenschlich und brutal als alles andere in diesem Krieg: Gefoltert und getötet werden nicht nur Dorfälteste und Milizsoldaten, sondern auch Lehrer, Krankenschwestern und gewöhnliche Bärger, Frauen und Kinder jener, die eingeschüchtert werden sollen.

Die Befürworter des Krieges haben unbestreitbar recht, wenn sie die moralische Blindheit jener Leute verurteilen, die nur die Vereinigten Staaten anklagen und sich weigern, die Tatsache des Vietcong-Terrors anzuerkennen. Es gibt keine moralischen Entschuldigungen für den brutalen Terror der Vietcong.

Aber die Moral unseres Handelns wird nicht durch die Sünden anderer erhöht. Außerdem haben die Vietcong trotz ihres Terrors eine große Zahl von Südvietnamesen durch Überzeugung zur Arbeit und zum Kampf, ja zu Opfern für ihre Sache gewonnen, während alles darauf hindeutet, daß das Zerstörungswerk unserer modernen Waffen in den Landgebieten große Teile der Bevölkerung in die Apathie eines verbitterten Flüchtlingsdaseins oder ins Lager des Feindes getrieben hat.

Es sind nicht Amerikaner, sondern Vietnamesen, die unser Tun mit anderen Maßstäben zu messen scheinen als das der Vietcong. Das kann auch nicht überraschen, denn: Was immer sie sonst sein mögen -- die Vietcong sind Vietnamesen, und wir kämpfen einen Krieg des weißen Mannes in einem asiatischen Land.

Der Asien-Experte John Fairbank schrieb über die Vereinigten Staaten in Vietnam, daß »wir im gleichen Bett schlafen, in dem die Franzosen schliefen, wenn wir auch andere Träume haben«. Wir wollen keine Kolonien, kein Territorium, keine permanenten Stützpunkte. Aber was zählt, dürfte das Bett sein.

Denn unsere Präsenz in Vietnam hat uns dahin gebracht, uns mit denselben Gruppen zu identifizieren und uns auf dieselben Leute zu stützen wie die Franzosen. Präsident Thieu, Vizepräsident Ky und die meisten ihrer älteren Kollegen kämpften auf seiten der Franzosen.

Außerdem sind die Saigoner Machthaber in ihrer großen Mehrzahl katholisch -- in einem vorwiegend buddhistischen Land; sie stammen aus Nordvietnam (Thieu selbst freilich aus dem Süden) -- in einem Land, in dem regionale Loyalitäten ebenso stark wie nationale sein können. Sie sind Militärs -- in einer Gesellschaft, in der das Militär kein hohes Ansehen genießt, sie sind jung -- in einer Kultur, wo man das Alter verehrt.

Das alles wirft kein schlechtes Licht auf sie -- schließlich können sie nichts für ihre Herkunft -, sondern es macht deutlich, wie schwach unsere Position ist, wenn wir uns so stark mit ihnen identifizieren.

Dies sind Tatsachen, die wir oft übersehen, weil wir die Kommunisten immer zunächst als Kommunisten und erst dann als Vietnamesen betrachten. Viele Jahre lang erlebten wir, daß die kommunistischen Parteien des Westens, auch der Vereinigten Staaten, dem Kreml sklavisch Gehorsam leisteten, auch zum größten Schaden ihrer eigenen Interessen.

Nur wenige werden das abstoßende und entwürdigende Schauspiel vergessen, wie Kommunisten Hitler verteidigten und die Demokratien verdammten, sobald der deutsch-sowjetische Pakt 1939 unterzeichnet war, und wie sie dann die Bildung antifaschistischer Volksfronten forderten, als die Sowjet-Union überfallen wurde.

Die vietnamesischen Kommunisten sind Kommunisten, und sie haben Ihre nationalen Interessen in der Vergangenheit denen der Sowjet-Union untergeordnet; 1954 in Genf, an der Schwelle des vollständigen Sieges über die Franzosen, ließ sich Ho Tschi-minh bewegen, den halben Sieg vorerst aus der Hand zu geben, anscheinend aus Gründen, die nur die Interessen der Sowjet-Union und Chinas betrafen.

Aber die Vietcong sind auch vietnamesische Nationalisten, Erben der Vietminh, die Frankreich besiegten und die Unabhängigkeit gewannen. Ho Tschi-minh ist Führer und Symbol ihres Unabhängigkeitskampf es. Die stolzeste Leistung der modernen vietnamesischen Geschichte, der Sieg über die Franzosen, wurde von den Vietminh vollbracht.

Vielleicht deshalb, so schreibt Neu Sheehan, ein erfahrener und wohlinformierter Beobachter des Krieges seit 1962, »bleiben die Kommunisten trotz ihrer Brutalität und ihrer Täuschungen die einzigen Vietnamesen, die fähig sind, Millionen ihrer Landsleute für Opfer und Mühsal im Namen der Nation zu gewinnen, und die einzige Gruppe, deren Existenz nicht von ausländischen Bajonetten abhängt«.

Sheehan kommt zu dem Schluß, daß »Vietnamesen bereitwilliger für ein Regime sterben, das, wenn auch kommunistisch, wenigstens wahrhaft vietnamesisch ist und ihnen etwas Hoffnung auf eine Verbesserung ihres Lebens bietet, als für ein Regime, das sich dem Status quo verschrieben hat und die Kreatur Washingtons ist«.

Das mag etwas übertrieben sein. Immerhin sollte es uns die Fruchtlosigkeit eines jeden Programms erkennen lassen, das die Bevölkerung nur im Namen des Antikommunismus zum Kampf auffordert.

Die Mehrheit der Bevölkerung will zweifellos keine kommunistische Regierung, aber sie will auch die gegenwärtigen Regierenden in Saigon nicht; keine politische Kraft vertritt wirksam die Interessen der Bevölkerung.

Gewiß gibt es opferbereite vietnamesische Nationalisten, die entschiedene Gegner der Kommunisten sind; einige von ihnen sind Veteranen des Unabhängigkeitskampf es. Aber sie sitzen nicht in der südvietnamesischen Regierung.

Im Frühjahr 1966 demonstrierten Buddhisten im Norden Südvietnams gegen die Regierung des Ministerpräsidenten Ky. Nach einer Zeit der Verwirrung und Unentschlossenheit unterdrückte Ky die Demonstrationen, mußte aber freie Wahlen innerhalb eines Jahres versprechen.

Während der Jahre 1966 und 1967 erhofften sich die Amerikaner immer mehr von diesen Wahlen einen möglichen Wendepunkt im »anderen Krieg«, witterten sie eine Gelegenheit, die Energien und die Loyalität der Bevölkerung für die Regierung in Saigon zu gewinnen und eine nationale Kraft zu schmieden, die fähig ist, mit den Vietcong zu konkurrieren.

Marineinfanterie-Oberst Carson formulierte es besonders plastisch: »Was die Wahlen angeht -- wenn sie eine Führung schaffen, dann haben wir eine Chance. Wenn nicht, dann ist das Spiel aus.«

Warum waren diese Wahlen so wichtig? Nicht nur um ihrer selbst willen; in Südvietnam gab es 1955 und 1961 Präsidentschaftswahlen und 1956, 1959, 1968 und 1966 Parlamentswahlen.

Sie waren nicht deshalb wichtig, weil sie dem Lind eine zivile Regierung wiedergeben konnten; Präsident Diem war ein Zivilist, der unter einer Verfassung regierte. Sie waren auch nicht deshalb wichtig, weil sie eine abstrakte Bewährungsprobe der Demokratie oder eine Demonstration fairer Praktiken bieten konnten.

Bei den Wahlen vom 3. September 1967 war nur eine Frage relevant: ob sie zu einer wirklichen Anstrengung und zu Fortschritten in dem »anderen Krieg« führen, also der Regierung die Loyalität und zukünftige Unterstützung der südvietnamesischen Bevölkerung gewinnen würden.

Es ist durchaus möglich, daß die Wahl für die herrschenden Kreise die letzte Gelegenheit darstellte, ihre Bereitschaft zu Opfern zu demonstrieren, die denen unserer jungen Männer vergleichbar sind.

Leider war diese Frage beantwortet, noch lange bevor eine Stimme abgegeben wurde. Zwar war eine Verfassunggebende Versammlung zugelassen worden, die Südvietnams gegenwärtige Verfassung entwarf, doch die Versammlung war weit davon entfernt, die Hoffnungen der Bauern zu erfüllen.

Dr. Phan Quang Dan, ein entschiedener Antikommunist und Befürworter der amerikanischen Intervention, unterbreitete der Versammlung einen Artikel, der den Bauern das Recht garantieren sollte, das von ihnen bestellte Land zu besitzen, Der Antrag erhielt 3 von 117 Stimmen. Ohne Schwierigkeit wurde indessen durchgesetzt, daß die Verfassung das Eigentum der Grundbesitzer garantiert.

Die Versuche der Verfassunggebenden Versammlung, ihre Unabhängigkeit von dem militärischen Direktorium zu bekunden, wurden -- unter ständiger Überwachung und Einschüchterung durch die Militärpolizei -- ignoriert oder vereitelt.

Das Wahlgesetz schloß nicht nur Kommunisten, sondern auch »Neutralisten« von der Wahl aus. Die Anhänger jedes als »neutralistisch« bezeichneten Kandidaten laufen Gefahr, nach südvietnamesischem Gesetz mit fünf Jahren Gefängnis wegen Befürwortung des Neutralismus bestraft zu werden.

Andere Kandidaten wurden disqualifiziert, weil ihre Ansichten »unannehmbar« seien. Einer von Ihnen, General Duong Van Minh, war vielleicht der Südvietnamese mit der höchsten Popularität Und dem größten Anhängerkreis.

Obwohl seine führende Rolle Im Putsch gegen Diem 1963 ihn in die Lüge versetzt hätte, erfolgreich mit den Vietcong zu konkurrieren, erhielt er nicht die Erlaubnis, aus dem Exil in Thailand zurückzukehren -- vielleicht, weil seine Erfolgschancen zu groß waren, wie viele Beobachter meinen.

Einem anderen Kandidaten, Au Truong Thanh, wurde die Teilnahme verwehrt, weil man sein Eintreten für den Frieden als Beweis prokommunistischer Gesinnung betrachtete; er war bis 1966 Finanzminister in Saigon -- von derselben Regierung ernannt, die ihn jetzt von der Wahl ausschloß und einst für seine Amtsführung Worte höchster Anerkennung gefunden hatte.

Es wurde kein Kandidat zugelassen, der die Auffassungen und Interessen der militanten Buddhisten vertrat. Eine Stichwahl zwischen den beiden führenden Kandidaten für den Fall, daß niemand eine absolute Mehrheit erhielt, wurde nicht gestattet, weil dies mit Sicherheit zum Sieg eines Zivilisten geführt hätte.

Auch die nichtkommunistische Gewerkschaftsbewegung wurde von den Senatswahlen ausgeschlossen, während jener ehemalige Minister und enge Freund Kys, der eine Million Dollar »Provision« für importierte amerikanische Medikamente eingestrichen hatte, Spitzenkandidat einer wichtigen Wahlliste blieb.

Die militärischen Kandidaten setzten alle Machtmittel des Staates zur Förderung Ihrer eigenen Sache ein. Dabei bestimmte das Wahlgesetz, daß »Regierungsbeamte und Militärs, wenn sie kandidieren wollen, sich für die Dauer des Wahlkampfes beurlauben lassen müssen«

Am Vorabend der Wahlen wurden zwei Saigoner Zeitungen verboten, und ein früherer Chef der Staatspolizei, der einen unliebsamen Kandidaten unterstützte, wurde verhaftet.

In den September-Wahlen gingen 4,9 Millionen Wähler zu den Urnen, das sind 83 Prozent der Wahlberechtigten (etwa drei Fünftel der erwachsenen Bevölkerung). Die Zahl ist eindrucksvoll, wenngleich wir nicht wissen, wieweit sie von der Tatsache beeinflußt war, daß die Wahlausweise bei der Stimmabgabe von Polizisten abgestempelt wurden und daß Bürger ohne den Stempel als Vietcong-Anhänger verhaftet werden konnten.

Wie mir der frühere französische Ministerpräsident Pierre Mendès France sagte, war in Algerien bei den Wahlen, die von den Franzosen während der anderthalb Jahre vor ihrem unfreiwilligen Abzug durchgeführt wurden, die Wahlbeteiligung noch weit höher.

Am bemerkenswertesten ist jedoch das Wahlergebnis: Denn trotz aller Vorteile der Regierungskandidaten

* Polizisten treiben am 30. September 1961 mit Schlagstöcken eine Protestkundgebung vor der Nationalversammlung auseinander.

vermochten die militärischen Kandidaten nur 34 Prozent der Stimmen von drei Fünfteln der Nation auf sich zu ziehen. Das direkte Ergebnis ist eine Regierung, die von zwei Dritteln der Wähler abgelehnt wird -- von den Aufständischen ganz zu schweigen.

General Thieu erklärte vor der Wahl warnend, daß mindestens eine Mehrheit die Voraussetzung für eine wirklich leistungsfähige Regierung sei. Es gibt wenig Grund, an diesem Urteil zu zweifeln.

So war das Ergebnis der Wahlen von 1967 ein Sieg derselben herrschenden Schicht, die für den verhängnisvollen Verfall Südvietnams während der letzten 13 Jahre verantwortlich ist. Die Wahlen haben einer herrschenden Gruppe, die kraft amerikanischer Waffengewalt überlebt, einen hauchdünnen Anstrich von Ansehen gegeben.

Sie haben die Einstellung des südvietnamesischen Volkes zu seiner Regierung nicht berührt, wenngleich sie uns gestatten, uns etwas vorzumachen, falls wir darauf Wert legen. Die Wahlen von 1967 erscheinen deshalb als ein neuer Meilenstein in der langen Geschichte verpaßter Gelegenheiten, versäumter politischer Maßnahmen -- Versäumnisse, die jedesmal durch Anwendung noch größerer militärischer Gewalt aufgefangen werden mußten.

So unglücklich dieses Ergebnis für die Bevölkerung Südvietnams ist, es hat auch ernste Konsequenzen für die Vereinigten Staaten. Denn während wir mehr Truppen schickten und unsere Luftangriffe ausweiteten, haben die Südvietnamesen immer weniger getan und damit die Forderung nach mehr Bomben, mehr amerikanischen Truppen zur Unterstützung der bereits eingesetzten Soldaten genährt.

Schon in den ersten Monaten des Jahres 1967 war die Zahl der amerikanischen Verluste höher als die der südvietnamesischen Einberufenen. Das Einberufungsalter liegt in Südvietnam ein Jahr über dem amerikanischen (18 Jahre). Die Saigoner Regierung hat zwar im März bekanntgegeben, daß in Zukunft 18jährige eingezogen werden sollen, doch ein Termin für die Verwirklichung dieses Plans wurde nicht festgesetzt.

Präsident Kennedy erklärte 1963: »Es ist ihr Krieg. Sie sind es, die ihn zu gewinnen oder zu verlieren haben. Wir können ihnen helfen, ihnen Ausrüstung geben, wir können unsere Männer als Berater hinschicken, aber gewinnen müssen sie ihn selber -- sie, die Menschen von Vietnam.«

Ähnlich befahl Präsident Eisenhower, als er 1958 amerikanische Truppen in den Libanon sandte, es solle nur die Hauptstadt und der wichtigste Flugplatz von US-Soldaten besetzt werden. »Wenn die libanesische Armee dann nicht in der Lage gewesen wäre, die Rebellen niederzuwerfen«, schrieb er, »dann hätten wir einer Regierung beigestanden, die so wenig Unterstützung bei der Bevölkerung genoß, daß wir wahrscheinlich gar nicht hätten dort sein sollen.«

Wir können nicht die südvietnamesische Gesellschaft ummodeln oder das südvietnamesische Volk aufrufen, seine nationale Loyalität den Vereinigten Staaten zu schenken. Ebensowenig können amerikanische Truppen bei all ihrer echten Einsatzbereitschaft den »anderen Krieg« führen.

Amerikanische Truppen können, wie sie es mit Engagement und großer Geschicklichkeit getan haben, Sanitätsstationen betreiben, Schulen bauen, Brunnen bohren und auf andere Weise ihre Beziehungen zur Bevölkerung verbessern.

Aber wenn die südvietnamesische Regierung nicht selbst weit größere Anstrengungen unternimmt, dann könnten vielleicht die amerikanischen Maßnahmen die Regierung In den Augen der Bevölkerung nur noch weiter schwächen.

Nur eigene politische Bemühungen Südvietnams in den Dörfern, auf dem Land, in Saigon können dem Kampf gegen die Vietcong Zusammenhalt und Durchschlagskraft verleihen. Noch entscheidender: Ein grundlegender und dauerhafter sozialer Wandel kann nur von Vietnamesen erreicht werden.

Ohne diesen Wandel werden alle unsere Anstrengungen, ob militärischer oder politischer Art, vergebens bleiben. Aber der Wandel ist nicht eingetreten. Und auch für die Zukunft ist er kaum wahrscheinlich.

Wenn es nach 13 Jahren amerikanischer Beteiligung und nach mehr als zwei Jahren umfangreicher Teilnahme an den Kampfhandlungen nicht gelungen ist, in dem »anderen Krieg« die Loyalität des Volkes von Vietnam zu gewinnen, dann müssen wir uns fragen, ob etwa alle Opfer nur zugunsten vergessener Generäle und einer eigensüchtigen Elite gebracht worden sein sollten.

Drei mögliche Wege zur Lösung der Vietnam-Frage liegen vor uns: das Anstreben eines militärischen Sieges, eine auf Verhandlungen gegründete Regelung oder der Abzug.

Der Rückzug ist heute unmöglich. Die übermächtige Tatsache der amerikanischen Intervention hat ihre eigene Wirklichkeit geschaffen. Die Jahre des Krieges haben unsere Freunde wie unsere Gegner zutiefst beeinflußt -- in einer Weise, die wir nicht messen und vielleicht nicht erkennen können.

Zudem haben Zehntausende Vietnamesen ihr Leben und ihr Schicksal auf unsere Anwesenheit und unseren Schutz gesetzt: die Milizsoldaten, Lehrer und Ärzte in den Dörfern; Bergstämme im Hochland; viele, die für das gegenwärtige Wohl der Bevölkerung tätig sind, ohne zu den Vietcong übergegangen zu sein, wenngleich sie die Regierung in Saigon vielleicht nicht unterstützen.

Viele sind schon einmal der Diktatur im Norden entflohen. Diese Menschen, deren alte Lebensgewohnheiten und Kraftquellen von der amerikanischen Präsenz verschüttet wurden, können nicht plötzlich der gewaltsamen Eroberung durch eine Minderheit preisgegeben werden.

Darüber hinaus gibt es die weitreichende Frage der amerikanischen Verpflichtung und der Auswirkungen unseres Abzugs auf Amerikas Position in der ganzen Welt.

Zweifellos stellt die sogenannte »Domino-Theorie« eine grobe Vereinfachung der internationalen Politik dar. in Asien selbst ist China der größte aller denkbaren Dominosteine; dennoch führte der Sieg der Kommunisten im Jahr 1950 nicht zu kommunistischen Machtergreifungen in den Nachbarstaaten (obwohl China in den Korea-Krieg eingriff und auch die bereits bestehende Vietminh-Rebellion unterstützte).

Burma. das amerikanische Militär- und Wirtschaftshilfe ablehnte, schlug zwei kommunistische Aufstände ohne chinesische Einmischung oder Störung nieder. Der kubanische Dominostein löste, allen Bemühungen Castros zum Trotz, keine kommunistischen Machtübernahmen im übrigen Lateinamerika aus.

Auf der anderen Seite scheint der Zusammenbruch des Kommunismus in Indonesien 1965 das kommunistische Regime in Nordvietnam durchaus nicht geschwächt zu haben. Außerdem ziehen Nordvietnam und die Vietcong ihre Kraft nicht aus der kommunistischen Theorie, sondern aus der eigenen Dynamik der nationalen Revolution und aus der beispiellosen Schwäche der Regierung in Saigon.

Bei den Nachbarstaaten Vietnams findet sich diese Kombination von Schwäche der Regierung und Stärke der Revolution nicht; sonst wären dort ganz sicherlich schon längst Aufstände ausgebrochen, während die Vereinigten Staaten so intensiv in Vietnam engagiert sind.

Wenngleich die Domino-Theorie eine unbefriedigende Metapher ist, enthält sie doch ein Körnchen Wahrheit. Die Weltpolitik setzt sich aus Macht und Interessen zusammen; zu ihren Elementen gehören aber auch Geist und Bewegung.

Eine Großmacht hört nicht auf, Großmacht zu sein, weil sie eine Niederlage auf einem Gebiet erleidet, das am Rande ihrer zentralen Interessen liegt. Die Sowjet-Union ist ungeachtet des Scheiterns ihres kubanischen Abenteuers von 1962 noch immer eine Großmacht.

Aber bis zu einem gewissen Grad folgte der Kuba-Affäre ein merklicher Rückgang des Prestiges und der Fähigkeit Moskaus, die Entwicklung in vielen Teilen der Welt zu beeinflussen. Ich erfuhr, daß dies besonders für Lateinamerika galt, als ich das Gebiet zwei Jahre später besuchte,

Ebenso würde eine Niederlage oder ein überstürzter Rückzug in Vietnam meines Erachtens unsere Position in der Welt schwächen. Wir würden nicht plötzlich zusammenbrechen; es würden keine kommunistischen Flotten in den Häfen von Honolulu und San Francisco aufkreuzen. Aber es hätte ernste Konsequenzen, vor allem in Südostasien selbst.

Prinz Norodom Sihanouk von Kambodscha erklärte 1965, in Südostasien wäre das Resultat von Intervention (die er ablehnte) und Rückzug, daß »alle anderen asiatischen Nationen, eine nach der anderen (zu allererst die Verbündeten der Vereinigten Staaten), wenn nicht unter kommunistische Herrschaft, so doch unter einen sehr starken kommunistischen Einfluß geraten würden«.

Ministerpräsident Lee Kuan Yew von Singapur, ein unabhängiger Staatsmann, der häufig anderer Meinung ist als die Vereinigten Staaten, hat ähnliche Ansichten geäußert.

Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß Prinz Sihanouk, während er jetzt die prochinesischen Elemente aus seinem Kabinett entfernt und andere Maßnahmen gegen den Einfluß Chinas in seinem Land ergriffen hat, nach wie vor glaubt, daß die Sicherheit Kambodschas durch den Abzug der Amerikaner aus Vietnam erhöht würde.

In anderen Nationen jedoch, die ihre Sicherheit auf amerikanische Verpflichtungen aufgebaut haben, würde ein plötzlicher einseitiger Abzug Zweifel an der Zuverlässigkeit der Vereinigten Staaten wecken.

Unsere Investition in Vietnam, nicht nur von Menschenleben und Mitteln, sondern auch von öffentlichen Versprechungen unserer Präsidenten und führenden Politiker, ist gewaltig. Es mag sein, wie manche behaupten, daß die Investition in einem groben Mißverhältnis zum strategischen Wert des Gebietes oder zu jedem erreichbaren Zweck steht.

Aber unsere Investition in Südvietnam einfach aufzugeben, unsere Gelöbnisse zu widerrufen und die Menschenleben abzuschreiben, würde zu bedenklichen Fragen darüber Anlaß geben, welche anderen Investitionen, Verpflichtungen und Interessen in ähnlicher Weise angesichts von Gefahr oder Unannehmlichkeiten abgeschrieben werden könnten.

Natürlich werden andere Nationen sich weiterhin selbst verteidigen und sich nicht unseren Gegnern ergeben, nur weil sie uns nicht mehr als verläßliche Beschützer betrachten. Aber die Beziehungen, die sie mit anderen Ländern entwickeln könnten, wären vielleicht nicht ganz nach unserem Geschmack.

Wir können die wahrscheinlichen Auswirkungen auf die Stimmung in anderen Nationen nicht unberücksichtigt lassen, besonders nicht in Ländern, die heute ungewiß zwischen stabilem Fortschritt und revolutionären Umwälzungen schwanken.

Die uns feindlichen Kräfte in diesen Ländern würden gestärkt -- wie etwa die indische Kommunistische Partei -- und die Bindungen dieser Nationen zu Amerika geschwächt oder belastet.

Zwei andere häufig vorgebrachte Argumente sind meines Erachtens von zweifelhaftem Wert. Das eine besagt, der Abzug der US-Truppen aus Südvietnam würde die chinesische Expansion fördern. Ein permanentes Element der vietnamesischen Geschichte ist jedoch offenbar Haß und Furcht gegenüber China.

Nordvietnam scheint seine Unabhängigkeit von China trotz des Bedarfs an chinesischen Lieferungen bewahrt zu haben. In jedem Fall erhöht der Krieg aller Wahrscheinlichkeit nach die Abhängigkeit Vietnams von China, statt sie zu verringern.

Jeder Ausweitung des chinesischen Machtbereichs würde vermutlich die Sowjet-Union entgegentreten, wie es in Laos der Fall war. Ferner hat auch Nordkorea trotz der Hunderttausenden von Gefallenen, die China dort ließ, nachdrücklich seine Unabhängigkeit von China behauptet.

Ein zweites, ähnliches Argument in diesem Zusammenhang lautet, daß der 17. Breitengrad in Vietnam eine jener nach dem Zweiten Weltkrieg gezogenen Waffenstillstandslinien markiert, deren Überschreitung ebensowenig zugelassen werden dürfe wie das Überschreiten des 38. Breitengrades in Korea oder der deutschen Teilungslinie.

Die Vertreter dieses Arguments übersehen, daß die bipolare Welt der Vergangenheit angehört; jedenfalls haben Länder wie Indonesien, Ghana, Jugoslawien, Ägypten und Algerien diese Linie, soweit sie existiert, in den letzten Jahren entweder überschritten oder sich daraufgesetzt. Die »Linie« ist nicht mehr unbeweglich und wird es im Lauf der Zeit immer weniger sein.

Die zweite Schwäche der Korea-Analogie liegt darin, daß es so gut wie keine südkoreanischen Aufständischen gab, sondern nur zwei Nationen, wo einst eine einzige gewesen war.

Unsere Truppen wurden nicht gebeten, Südkorea zu besetzen, sondern eine direkte Invasion zurückzuschlagen. Außerdem war Syngman Rhee bei all seinen Fehlern eine bedeutende nationale Führerpersönlichkeit; in Vietnam entspricht ihm am ehesten Ho Tschi-minh.

Dies sind die Argumente gegen den Abzug. Aber diese Argumente sprechen in keiner Weise für eine Fortsetzung des gegenwärtigen Kurses im Vietnam-Konflikt oder für seine Fortsetzung in der gegenwärtigen Größenordnung oder mit den gleichen Methoden. Noch weniger rechtfertigen sie die Suche nach nicht vorhandenen Wegen zum militärischen Sieg.

Die zunehmende Verwüstung Südvietnams unterminiert die Struktur dieser Gesellschaft immer mehr, macht ihren Wiederaufbau immer schwieriger und rückt ihn in immer weitere Ferne. Doch ein dauerhafter Friede hängt von der Stärke der Nation ab, die wir hinterlassen.

Der Krieg hat auch die vielversprechenden Bemühungen um neue Verständigung und um einen Abbau der Spannungen zwischen den beiden Atom-Großmächten -- den Vereinigten Staaten und der Sowjet-Union -- außerordentlich erschwert.

Aller Wahrscheinlichkeit nach können wir deshalb keine Übereinkunft über die Frage der Raketen-Abwehr-Systeme erreichen, was zu Milliardenausgaben in einer weiteren und äußerst gefährlichen Runde des Wettrüstens führt.

Der Krieg hat uns Amerikas engsten Freunden in der westlichen Allianz entfremdet. Kein einziger von ihnen hält es für ratsam, uns in Vietnam zu unterstützen; sie setzen ihren Handel mit Nordvietnam wie mit China fort; einige europäische kirchliche Organisationen leisten Nord- und Südvietnam Hilfe -- ein Verhalten, das in Korea oder im Zweiten Weltkrieg undenkbar gewesen wäre.

Ich fand In Europa bei Menschen und Regierungen, die den Vereinigten Staaten nur Gutes wünschen, tiefe Unruhe, ernste Sorge und grundsätzliche Ablehnung gegenüber unserer Politik; wir verrennen uns, so meinen sie, in eine gefährlich unrealistische Politik.

Außerhalb Europas, im Nahen Osten, in Lateinamerika und Afrika, hat die Ablenkung unserer Aufmerksamkeit Amerikas Fähigkeit bedenklich beschränkt, die Entwicklung und die Sicherung weit wichtigerer nationaler Interessen zu beeinflussen.

Während wir 30 Milliarden Dollar jährlich in einem Land von geringer strategischer Bedeutung ausgeben, gerät Indien, eines der wirklich wichtigen Gebiete der Erde, in Hungersnot und vielleicht in Chaos, größtenteils aus Mangel an Entwicklungskapital.

Der Krieg verschlingt gleichfalls Mittel, die zur Beseitigung der Armut in den Vereinigten Staaten, zur Verbesserung der Bildung unserer Kinder, zur Erhöhung der Qualität unseres nationalen Lebens benutzt werden könnten -- vielleicht sogar dazu, unsere Nation vor Gewalttätigkeit und Chaos im Innern zu bewahren.

Weniger leicht abschätzbar, aber ebenso schwerwiegend ist, daß der Krieg die Amerikaner untereinander und einige mit ihrer Regierung entzweit hat -- und das sind Auswirkungen, die wir womöglich noch viele Jahre lang spüren werden.

Es gibt also noch eine andere Domino-Theorie, eine andere Art der Eigenbewegung dieses Krieges. Die steigenden Kosten verhindern in zunehmendem Maße Aktionen an anderen Fronten.

Obwohl der Krieg in Vietnam gern dargestellt wird als notwendiger Beweis unserer Entschlossenheit und Fähigkeit, »unsere Verpflichtungen einzulösen«, wird er sehr wahrscheinlich die entgegengesetzte Wirkung haben. Es wird immer unwahrscheinlicher, daß wir neue Verpflichtungen eingehen und die bestehenden mit erheblichen Mitteln oder mit besonderer Begeisterung erfüllen.

Während der Tage unmittelbar vor der arabisch-israelischen Konfrontation war deutlich erkennbar, daß die Verwicklung in Vietnam unser festes und langjähriges Engagement für Israel erheblich gemindert hatte.

Im Kongreß haben Liberale ebenso wie Konservative nachdrücklich ihre Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß die Vereinigten Staaten sich nie wieder in ein Unternehmen wie Vietnam einlassen sollten.

Nach Auffassung mancher Leute sollen wir in Vietnam beweisen, daß »nationale Befreiungskriege keinen Erfolg haben können«. Aber je länger der Krieg anhält, mit desto größerer Wahrscheinlichkeit werden wir »beweisen«, daß die Vereinigten Staaten sich künftigen nationalen Befreiungsbewegungen nicht entgegenstellen werden.

Ganz gewiß muß das Schauspiel, wie die größte und mächtigste Nation der Erde von einer der kleinsten und schwächsten Nationen in so große Verlegenheit gebracht wird, jene zuversichtlich stimmen, die an den revolutionären Krieg und die Wirksamkeit der kommunistischen Organisationstaktik glauben.

Die wachsende Einsicht in diese Realitäten hatte manche dazu veranlaßt, eine schnellere Beendigung des Krieges durch die Anwendung größerer militärischer Gewalt zu fordern: das Anstreben des totalen militärischen Sieges. Aber das ist ein Trugbild.

Der militärische Sieg würde voraussetzen, daß wir sowohl die Streitkräfte unseres Gegners als auch seinen Kampf willen vernichten; daß die Truppen aus dem Norden gezwungen werden, sich hinter die Grenze zurückzuziehen, daß ein großer Teil Vietnams zerstört wird, und daß wir Südvietnam weiter besetzt halten, solange unsere Anwesenheit notwendig ist, um das Wiederaufleben der Feindseligkeiten einschließlich der Guerillatätigkeit zu verhindern. IM NÄCHSTEN HEFT

1966 verpaßte Amerika die Chance, mit Hanoi zu verhandeln -- Robert Kennedys Programm für den Frieden -- »Es ist sinnlos, den Sieg zu erstreben«

Robert Kennedy
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