SPIEGEL Essay Soldaten in der Demokratie
Die Tradition der Bundeswehr ist (wieder einmal) ins Gerede gekommen. Die Krawalle in Bremen in Zusammenhang mit dem feierlichen Gelöbnis wehrpflichtiger Soldaten haben im 25. Jahr des Bestehens der Bundeswehr eine öffentliche Debatte ausgelöst, die über den eigentlichen Anlaß hinaus anhält.
Ein Teil der Kritik in Worten und Taten wird aber überhaupt nicht von der Absicht geleitet, Traditionspflege, Traditionsverständnis und damit auch das Selbstverständnis und die Rolle der Bundeswehr im Sinne unseres Demokratieverständnisses heute zu hinterfragen. Was diese Leute beabsichtigen, ist mir nur zu deutlich: ihnen ist Kritik und öffentliche Aufmerksamkeit lediglich ein willkommenes Vehikel, um das zu bewerkstelligen, was ihnen bisher mit anderen Mitteln nicht gelungen ist. Sie wollen die Notwendigkeit der Bundeswehr, unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik, das Fortbestehen des Bündnisses einschließlich des Doppelbeschlusses der NATO vom 12. Dezember 1979 zur Rüstungskontrolle und Nachrüstung in Frage stellen, wenn möglich alles kippen oder jedenfalls schwächen.
Ihnen sind Ereignisse wie das Gelöbnis nur zu willkommene Angriffspunkte. Diese Absicht steckt augenfällig als Antrieb dahinter. Diese Leute sind an der sachbezogenen Debatte mit uns nicht interessiert, allenfalls aus augenblicklichen taktischen Erwägungen.
Wichtig ist mir jedoch die Debatte mit den Bürgern, vor allem den jüngeren, die Zweifel an den Argumenten für die Begründung von Tradition und der inneren Struktur der Bundeswehr haben, die zweifeln oder nicht zu sehen vermögen, daß es überhaupt Zusammenhänge zwischen der deutschen Geschichte und unserer gegenwärtigen Situation geben kann, die auch grundsätzliche Bedenken gegen Traditionsbildung in einer Gruppe unserer Gesellschaft haben.
Ihre Fragen und ihre Kritik nehme ich sehr ernst, mit ihnen will ich ins Gespräch kommen. Ihre Bedenken helfen der Bundeswehr und damit der Gesellschaft in der Fortentwicklung ihres eigenen Selbstverständnisses. Das sind die gleichen jungen Menschen, wie sie in der Bundeswehr dienen, die ihre Wehrpflicht ableisten und sich fragen, wofür eigentlich sie diesem Staate 15 Monate ihres Lebens schenken sollen.
Da sind aber auch die anderen in den gesellschaftlichen Organisationen wie den Gewerkschaften, den Kirchen und den Parteien, die Kritik an der Tradition in der Bundeswehr üben. Ihnen scheint es ein erstaunlicher Gedanke zu sein, daß sie sich auf der anderen Seite auch nach ihren Traditionsvorstellungen fragen lassen müssen.
Gewiß, man kann fragen, ob das, was die Bundeswehr als Teil ihrer militärischen Tradition nicht selbst entwickelt, sondern aus der deutschen Geschichte übernommen hat, vordemokratisch sei. Dann aber wird man ebenso fragen müssen, was es mit anderen Traditionsformen auf sich hat, die noch heute in unserer Gesellschaft lebendig sind: z. B. den alten Liedern bei bestimmten Anlässen, den alten Fahnen von Organisationen und Verbänden, die sich nicht auf unsere Vorstellung von Staat und Gesellschaft gründen, den traditionellen Festen der Kirchen oder schlimmer: Kanzelworten zu Wahltagen.
Es kann nicht so sein, daß eine Gruppe unserer Gesellschaft, von der wir wollen, daß sie integriert sein soll, daß sie nicht isoliert hinter Kasernenmauern nach eigenen Vorstellungen leben soll, vorgeladen werden kann, um ihre Formen und Vorstellungen von Tradition zu rechtfertigen, während sich die Fragesteller zurücklehnen und das angenehme Gefühl genießen, selbst nicht gefragt zu sein, zudem als Ankläger und Richter in einer Person agieren zu können.
In einer ähnlichen Situation hat sich die Bundeswehr bereits Mitte der 50er Jahre bei ihrer Aufstellung befunden. Sie ist die erste und wohl auch die einzige Organisation in unserem Staat gewesen, deren Geschichtsbezüge und Traditionsvorstellungen öffentlich debattiert worden sind, häufig kontrovers, letztlich aber zum Nutzen der Bundeswehr. Seien wir doch ehrlich: wo sonst ist denn die Debatte geführt worden, ich meine die öffentliche, über das, was aus der Geschichte für neue demokratische Traditionen der Bundesrepublik Deutschland Gültigkeit und Bestand haben könnte.
Die Grundgesetzväter haben sich dieser Debatte unterziehen müssen, ohne die das Grundgesetz wohl kaum zustande gekommen wäre. Die Bürger unseres Landes jedoch haben sich an den materiellen Wiederaufbau gemacht, aber die Trümmerwüste, die der Nationalsozialismus uns aus deutschen Traditionen übrigließ, umgangen.
Geschichtsverständnis war nicht gefragt. Man hatte sich um das tägliche Brot zu kümmern, später um die Dinge, die anzuschaffen waren, den Kühlschrank, das Auto, das Haus. Wer war denn überhaupt noch scharf auf so eine Debatte?
Zeigte nicht die weitere Entwicklung, daß wir auch so den richtigen Weg gefunden hatten, der uns aus den Tiefen der Geschichte in das Wunderland führte?
Die Beschäftigung mit unserer Geschichte, als Voraussetzung eines gewandelten, neuen Traditionsverständnisses, ist, wenn überhaupt, von den Historikern geleistet worden. Die öffentliche Diskussion blieb Episode, sie hat kaum stattgefunden.
Mit einer Ausnahme: Um die Bundeswehr und in der Bundeswehr ist die Debatte um die Vergangenheit, unsere Geschichte und die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sein würden, durchaus geführt worden. Auf Grund dieser Debatte hat die Bundeswehr eine andere Struktur erhalten als die Reichswehr oder die Wehrmacht. Der Streit zwischen den »Traditionalisten« und den »Reformern« war Ausdruck der Auseinandersetzungen um den richtigen Weg.
Daß wir mit der Bundeswehr den richtigen Weg gefunden haben, wenn er vielleicht auch nicht immer ganz gradlinig verlaufen sein mag, steht für mich nach diesen 25 Jahren außer Zweifel. Das entläßt uns jedoch nicht aus der Notwendigkeit, das Ergebnis immer wieder kritisch zu überprüfen. Tradition ist nicht etwas Statisches. Sie wächst und verändert sich.
Der Traditionserlaß in der Bundeswehr von 1965 war ein erster Versuch, das, was sich inzwischen in der mehr als zehnjährigen Praxis der Bundeswehr an Tragfähigem hatte herausarbeiten lassen, zur Richtungsweisung zusammenzufassen. Man kann sich darüber streiten, ob dieser Versuch richtig ansetzte; ich bezweifele auch, ob ein Erlaß geeignet ist, die Traditionsrichtung für eine Organisation wie die der Bundeswehr anzugeben.
Ich meine aber, unabhängig von solchen eher beckmesserischen Überlegungen und von Formulierungen, die man heute wohl so kaum treffen würde, gibt es keinen Grund, diesen Erlaß außer Kraft zu setzen, einen neuen an seine Stelle zu setzen oder gar eine Novellierung zu versuchen. Betrachten wir ihn als eine Station in einem bestimmten Entwicklungsstadium der Bundeswehr, die dazu beigetragen hat, die Diskussion über Tradition in der Bundeswehr im positiven Sinne zu klären. Seitdem hat sich gezeigt, daß Traditionen auch heute eigenständig und lebendig sind.
Inzwischen ist eine neue Generation selbst unter der höheren Führung der Bundeswehr in die Verantwortung eingetreten. Mitte der achtziger Jahre wird S.59 der letzte Offizier die Bundeswehr verlassen haben, der noch in der Wehrmacht gedient hat. Die Behauptung, der Streit zwischen »Traditionalisten« und »Reformern« sei noch nicht ausgestanden, ist deshalb in meinen Augen absurd. Solche Aussagen finden sich bei denen, die meinen, man könne die Debatte um Tradition und ihre Erscheinungsformen in der Bundeswehr damit beginnen, die deutsche Geschichte erst einmal auf den Müll zu kippen, um bei Null anzufangen.
Ich habe das Gerede von der »Gnade des Nullpunkts« immer abgelehnt. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun. Man mag es bedauern, aber es ist nun einmal so, das Bewußtsein von Menschen ist nicht wie ein Computerband zu löschen und dann mit einem neuen Programm zu versehen. Menschen verfügen über bewußte und unbewußte Erfahrungen, in die die von ihren Eltern aufgenommenen Erfahrungen wiederum in gewisser Weise mit einfließen, die nicht einfach über Bord gekippt werden können.
Gehirn- und Seelenwäsche setzt den Akt physischer oder psychischer Gewalt voraus. Deshalb: Soviel der Nationalsozialismus in den 12 Jahren seiner Herrschaft auch gebrochen und zerstört hat, es ist noch genügend von den Menschen aus der Zeit davon tradiert worden, was heute noch unser tägliches Leben bestimmt.
Die Bundeswehr hat inzwischen eigene Traditionen entwickelt, die sehr wohl vorzeigbar sind. Nicht zuletzt das angefeindete feierliche Gelöbnis, das Rekruten öffentlich vor den Bürgern unseres Staates, dem sie sich verpflichten, ablegen, ist eine ureigene Tradition der Bundeswehr. Reichswehr und Wehrmacht legten den Eid in der Regel in der Kaserne ab, öffentlich stellten sie sich durch Paraden der Soldaten und ihrer Waffen dar. Sie waren Staat im Staate und zeigten dem Bürger ihre militärische Macht. Das wollen wir heute nicht mehr.
Mir scheint, daß die Mischung aus überlieferten Traditionen der mehrhundertjährigen deutschen Militärgeschichte und dem, was in den vergangenen 25 Jahren eigenständig ist, sich sehen lassen kann und die Bundeswehr keineswegs von ihrer Umwelt isoliert.
Wer im Zusammenhang mit den Orden, die am 25. Gründungstag der Bundeswehr erstmals öffentlich verliehen werden sollen, die Restauration auf dem Vormarsch sieht, hat sich von dem Gedankengut der Vergangenheit, gerade der bitteren Jahre noch nicht freimachen können. Mit den Ehrenzeichen der Bundeswehr beginnt nicht die Ära der sogenannten »Sitzfleischorden«, die also für das beharrliche Halten eines Stuhles über einen bestimmten längeren Zeitraum bei gesicherter Bezahlung verliehen werden.
Es ist auch Abschied zu nehmen von der Vorstellung, daß hier die neuen Helden ausgezeichnet werden sollen. In diesen Ehrenzeichen manifestiert sich vielmehr ein Verständnis derer, die im Ernstfall Frieden (Heinemann) mehr als nur ihre Pflicht getan haben, die sich um die Bundeswehr und die Erfüllung ihres Auftrages verdient gemacht haben, sei es nun Soldat, Mitarbeiter in Zivil, Bürger außerhalb der Bundeswehr oder Soldat unserer Verbündeten.
Wer hier einen Rückfall in militärische Verhaltensweisen zu entdecken glaubt, vergißt, daß es in dem geschilderten Sinne durchaus lebendige Beispiele gibt, die von der Tragfähigkeit einer solchen Tradition als Dank und Anerkennung beachtliches Zeugnis geben: Sowohl bei den Bergleuten wie bei den Feuerwehrleuten gibt es in der Verleihung von solchen Ehrenzeichen Traditionen, die sehr wohl in unsere republikanische Landschaft passen und keineswegs als Korrumpierung des einzelnen mißdeutet werden können. Ich sehe hier vielmehr einen Weg, wie diese Republik ihr Danke anschaulich machen kann.
Außerdem: wer hier neue Gefahren wittert, muß sich fragen lassen, ob er sich zu der Auffassung versteigen will, daß durch diese Ehrenzeichen in der Bundeswehr ein Zuwachs an repressiver persönlicher Macht zu befürchten ist. Ich glaube, das kann niemand im Ernst behaupten.
Jede ernsthafte Debatte um die Tradition der Bundeswehr wird nach kurzer Zeit auf die Position und Rolle der Bundeswehr stoßen müssen. Sie hat sich nicht als Fremdkörper in unserer Gesellschaft erwiesen, sondern trotz der schwierigen Gründerjahre in die staatliche Struktur einbauen und die Soldaten in unsere Gesellschaft integrieren lassen.
In 25 Jahren hat sich gezeigt, daß Soldat in unserer Demokratie zu sein nicht bedeutet, ein »amputierter« Staatsbürger zu sein, der Außenseiter unserer Gesellschaft ist. Vielmehr bedeutet es, als »Staatsbürger in Uniform« Dienst zu tun in einer Einrichtung, deren Auftrag der Schutz dieses Staates und seiner Verfassung gegen Einwirkungen von außen ist. Aus den Funktionsnotwendigkeiten der Bundeswehr erklärt sich, daß in der Bundeswehr das Prinzip von Befehl und Gehorsam gelten muß.
Aber sicherzustellen ist, daß die Bundeswehr sich an dem Menschenbild orientiert, das das Grundgesetz vorgibt, und daß die in der militärischen Organisation möglichen Mitwirkungsmöglichkeiten voll genutzt werden.
Diesen Grundsätzen entspricht die »Innere Führung«. Wer immer wieder klagt, daß ihre Prinzipien nicht bei Gründung der Bundeswehr in der Art der 10 Gebote gleichsam mit ehernen Lettern ein für alle Mal an die Wand geschlagen wurden, der übersieht, daß die Innere Führung ähnlich wie die Tradition fortzuentwickeln ist. Das ist keineswegs als Anpassung an den »Zeitgeist« mißzuverstehen, sondern Ausdruck der Tatsache, daß sich auch Vorstellungen und Wertgefühle innerhalb der Gesellschaft fortentwickeln.
Wer das Jahr 1980 mit dem Aufstellungsjahr der Bundeswehr 1955 vergleicht, dem wird sich die Richtigkeit dieser Feststellung rasch erschließen. Das bedeutet, auch nach 25 Jahren gibt es für die Fortentwicklung der Inneren Führung, aber auch für den Ausbau der Mitwirkung -- so z. B. in der Stärkung der Rolle des Vertrauensmannes -- noch ausreichend zu tun. Ich bin dazu fest entschlossen.
Dabei wird dann das Spannungsverhältnis zwischen Partizipation einerseits und Befehl und Gehorsam andererseits noch deutlicher werden und nur in der Bewährung des Alltags und nicht durch Direktiven überbrückt werden können.
Mein Fazit: Die Bundeswehr ist nicht auf Sand gebaut. Sie hat eine solide demokratische Fundierung. Das haben die vergangenen 25 Jahre erwiesen. Diese Feststellung bedeutet keineswegs die Aufforderung an die Bundeswehr, sich nun auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Im Gegenteil: Sie hat die Jahre seit ihrer Aufstellung deshalb erfolgreich bestanden, weil sie sich der Debatte nicht verschlossen hat, im Inneren wie nach außen.
Tradition in der Bundeswehr muß vom Geist der Verfassung durchdrungen sein. Sie darf nicht im Widerspruch zum gesellschaftlichen Werte- und Normensystem stehen. Sie muß auf den Frieden bezogen sein und kann sich nicht nur auf ihre eigene Geschichte beschränken.
Tradition in der Bundeswehr darf nicht auf Ereignisse und Gestalten der Militär- und Kriegsgeschichte begrenzt sein, sie muß zur Verständigung zwischen den Völkern und zur Überwindung von Nationalsozialismus beitragen.
Tradition in der Bundeswehr darf nicht zum Traditionalismus entarten, zum unkritischen Festhalten am Vergangenen zum Schaden der Gegenwart und Zukunft. Tradition in der Bundeswehr, die verordnet und vorgeschrieben wird, verträgt sich nicht mit dem Leitbild vom mündigen Staatsbürger. Tradition in der Bundeswehr bedarf der kritischen Anteilnahme der zivilen Staatsbürger, sie muß wachsen, sie ist keine Tagesfrage.