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NORDRHEIN-WESTFALEN Soll er kommen

aus DER SPIEGEL 50/1966

Mein Gott, Herr Brandt«, so rief Franz Meyers, CDU-Landesherr an Rhein und Ruhr, dem späten Besucher zu, »Sie haben mir gerade noch gefehlt.«

Willy Brandt hastete wortlos an dem Christdemokraten vorbei und steuerte den Saal 112 im Düsseldorfer Landtagsgebäude an, wo letzten Dienstagabend die nordrhein-westfälische SPD-Fraktion versammelt war. Der Parteichef war gekommen, die Große Koalition, die er in Bonn mitgestrickt hatte, auch im Revier zu installieren.

Brandts Mission und des Christdemokraten fromme Anrufung waren vergebens. Die Genossen ("Soll er nur kommen, wir haben kugelsichere Westen an") verweigerten den Gehorsam. Und zwei Tage später, während im Bundestag Kurt Georg Kiesinger für schwarz und rot die Hand zum Kanzlereid hob, proklamierten die SPD-Genossen im Parlamentsbau am Düsseldorfer Schwanenspiegel ein Bündnis mit den Freien Demokraten. Die in Bonn verworfene Mini-Koalition sollte in Düsseldorf Wirklichkeit werden.

Der ohnmächtige Zorn, den Sozialdemokraten aller Länder in Wort und Schrift über die Mischehe auf Bundesebene entladen hatten, verdichtete sich an der Ruhr zum politischen Handstreich. Wie schon einmal vor zehn Jahren, als Sozial- und Freidemokraten die CDU Regierung unter Karl Arnold stürzten, sollen die Christdemokraten wieder in die Opposition.

Aus den letzten Landtagswahlen im Juli, die in Bonn Erhards Ende ankündigten, war die SPD als stärkste Partei im mächtigsten Bundesland, Nordrhein -Westfalen, hervorgegangen. Sie eroberte 99 von 200 Sitzen im Landtag; es folgten die CDU mit 86 und die FDP mit 15 Sitzen. Die stärkste Partei mußte in die Opposition. CDU und FDP bildeten nach Bonner Vorbild eine bürgerliche Koalition unter dem Christdemokraten Franz Meyers. Aber wie in Bonn stand die Ehe unter einem schlechten Stern. Beide Partner sahen sich schon bald nach neuen Regierungsgefährten um.

Anfang November glaubten zunächst die Christdemokraten, auf eine Partnerschaft mit der SPD rechnen zu dürfen:

- Oppositionsführer Heinz Kühn brachte ein bereits angekündigtes Mißtrauensvotum gegen die CDU/FDP Regierung nicht ein;

- die acht CDU-Minister unter Franz

Meyers entschieden sich für eine Große Koalition.

Aber auch die Freidemokraten blieben nicht müßig. FDP-Bundesschatzminister Hans Wolfgang Rubin fragte seinerseits insgeheim bei Düsseldorfs SPD an: Wie es denn mit einer Kleinen Koalition sei? Denn in der zweiten Novemberhälfte schienen die Chancen der FDP günstig. Am 22. November stimmten die 99 SPD Abgeordneten schriftlich über die Wahl des zukünftigen Partners ab. Heinz Kühn, der Großen Koalition zugetan, erklärte zwar das Ergebnis ("Eine reine Gefühlsentscheidung") zur Geheimsache, aber es wurde dennoch bekannt: Etwa drei Viertel der Fraktion hatten für ein Bündnis mit der FDP plädiert.

Am nächsten Tag, dem 23. November, stellte Kühn daraufhin eine fünfköpfige Kommission für »Verhandlungen mit der CDU und FDP zur Bildung einer aktionsfähigen neuen Landesregierung« zusammen. Das Koalitionskarussell kam in Schwung - und es kreiste bald ebenso schnell wie im nahen Bonn.

Der Kölner Kühn selbst hatte dabei eine Partnerschaft mit den Christdemokraten anvisiert. Er war mit den Kölnern Wilhelm Lenz, CDU-Fraktionschef, und John van Nes Ziegler, sozialdemokratischer Landtagspräsident, heimlich zusammengetroffen. Und was der Kölner Klüngel unter sich besprochen hatte, sollte nach Kühns Willen möglichst bald besiegelt werden: Am 24. November trafen sich die Kommissionen von SPD und CDU zu einem zweistündigen Gespräch in Düsseldorfs »Malkasten«.

Kühn hinterher: Trotz der Bonner Wirren könne in Düsseldorf »binnen einer Woche« eine neue Landesregierung zustande kommen. Dann reiste der Sozialdemokrat in die Bundeshauptstadt, um auch dort an der Koalition zwischen den Bonner Christ- und Sozialdemokraten mitzubauen.

FDP-Innenminister Willi Weyer sah rot und schwarz: »Einige Politiker in der CDU sind offensichtlich bereit, vor Neubildung der Bundesregierung in Düsseldorf eine Koalition mit der SPD zu vereinbaren.«

Weyer entschloß sich zur bedingungslosen Kapitulation. Vorletzten Sonnabend, gegen Mitternacht, traf seine FDP-Kommission in Düsseldorfs Restaurant »Schnellenburg« auf die SPD-Unterhändler. Weyer: »Wir stellen keine personellen Bedingungen.«

Am gleichen Tag votierten die CDU Landesvorstände Rheinland und Westfalen für eine Große Koalition. Westfalen-Chef Josef Hermann Dufhues: »Sie wäre das Beste für unser Land.« Und am folgenden Sonntag saßen Sozial- und Christdemokraten fünfeinhalb Stunden im Dortmunder Hotel »Zur Krone« zusammen. Danach schien Kühn seiner Sache sicher. Er nahm CDU-Lenz beim Arm und führte ihn vor die Fernseh-Kameras: »Kommen Sie, Kopilot.« Der Sozialdemokrat hatte jedoch die Rechnung ohne seine Genossen gemacht.

Tags darauf, am letzten Montag, stand das sozialdemokratische Parteivolk gegen den Kapitän Kühn auf. In den Parteibüros türmten sich Protesttelegramme, zerrissene Parteibücher und Drohbriefe. SPD-Parlamentarier Friedrich Kinnigkeit aus Essen: »In meinem Wahlkreis ist niemand, der für eine Koalition mit der CDU eintritt.«

Am Dienstagmorgen formierte sich die SPD-Fraktion zum letzten Gefecht. Die Sozialdemokraten verzichteten auf die Mittagspause und ließen sich zu alkoholfreien Getränken Aufschnitt, Kalten Braten und Kartoffelsalat in Plastikeimern in den Sitzungssaal karren.

Kühn beschwor: Die »erforderliche Konstruktion« sei »nach wie vor die Große Koalition«. Neben ihm stritten Landtagspräsident van Nes Ziegler und die Kohlenpott-Bürgermeister unter Essens Stadtoberhaupt Wilhelm Nieswandt für den Bund mit der CDU. Doch das Fußvolk forderte neue Gespräche mit der FDP.

Kühn unterbrach die Sitzung und rief Parteichef Willy Brandt aus Bonn zu Hilfe. Der predigte noch am gleichen Abend den versammelten SPD-Landtagsabgeordneten staatsmännisches Verantwortungsbewußtsein. Dann aber resignierte er angesichts der gereizten Stimmung: »Die Fraktion ist frei in ihren Entschlüssen.«

Noch einmal versuchte Kühn, Zeit zu gewinnen. Er vertagte die Entscheidung um 48 Stunden. Die Galgenfrist verstrich für ihn ergebnislos. Am frühen Donnerstag stimmten die Genossen mit 73 gegen 21 Stimmen bei zwei Enthaltungen für ein Regierungsbündnis mit der FDP.

Verbittert schickte sich die CDU in die Oppositionsrolle. Fraktionschef Wilhelm Lenz: »Ein großer Wurf ist nicht gelungen.«

Verbündete Kühn, Weyer: Kugelsichere Westen

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