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JENS DANIEL: SOLLEN WIR MEHR RÜSTEN?

aus DER SPIEGEL 50/1956

Ungarn habe bewiesen, so vernimmt man an allen Ecken, daß die Bundesrepublik eine starke Wehrmacht braucht. Es ist fast unmöglich, mit einem

CDU-Mann die Aussichten für die nächste Bundestagswahl zu besprechen, ohne daß man den Stoßseufzer der Erleichterung hört, nach den Ereignissen in Ungarn werde die Bevölkerung die Aufrüstungspolitik der Bundesregierung ja wohl billigen.

Ich fürchte, daß hier an das psychologische Verständnis der Bevölkerung Anforderungen gestellt werden, denen sie nicht entsprechen kann. Die Aufrüstungspolitik der Bundesrepublik leidet von Beginn an unter dem Handikap, daß sie der Bevölkerung mit nicht stichhaltigen Argumenten beigebracht werden sollte. In der Korea-Stimmung sollte Westdeutschland nach dem Willen der Amerikaner eine Armee aus dem Boden stampfen, die im Ernstfall durch einen Offensiv-Stoß nach Osten dem von den Amerikanern ins Auge gefaßten Kriegsschauplatz - Kaukasus und Südrußland - Entlastung bringen sollte.

Da die Bevölkerung nicht glaubte - zu Recht nicht glaubte -, daß Sowjetrußland ein westeuropäisches Land angreifen werde, hatte dieses Konzept, das die deutschen Möglichkeiten sprengte, keine Aussicht, auf die Dauer von der Bevölkerung akzeptiert zu werden. Im Gegenteil, die berechtigten Verteidigungsinteressen der Bundesrepublik gerieten in den Strudel allgemeiner Ablehnung, die ja nicht nur auf fehlende Opferbereitschaft der jungen Leute zurückgeführt werden kann.

Es gäbe schon gute Gründe, eine westdeutsche Armee aufzustellen, wenn auch nicht gleich ein »Volksheer« mit allgemeiner Wehrpflicht, und es hat diese Gründe immer gegeben. Sie sind ständig von großmäuligen Konzeptionen zugedeckt worden. Will man das schädliche Spiel der falschen Argumente fortsetzen, um eines Tagesvorteils willen, der noch nicht einmal bis zum neuen Jahr reichen wird, geschweige denn bis zu den Wahlen?

Ungarn hat bewiesen, was schon Napoleon von den Spaniern lernen mußte, daß nämlich bewaffnete Macht den politischen Widerstandswillen eines ganzen Volkes nicht brechen kann. Ungarn hat ferner gezeigt, daß die Jugend der osteuropäischen Länder allen Gehirnmassagen zum Trotz gegen die sowjetrussische Oberherrschaft rebelliert. Ungarn hat nicht bewiesen, daß man die Sowjets mit Gewalt aus dem Lande werfen kann. Im Gegenteil, die Waffe des Leninschen Generalstreiks war wirkungsvoller als der militärische Aufstand. Ungarns Erhebung, sofern wir sie zu deuten wissen, ist für unsere politische Situation besonders aufschlußreich. Für unsere Aufrüstung vermag sie dagegen keine Argumente beizusteuern, es sei denn bremsender Natur.

Die militärische-Bedrohung, der wir hier

in der Bundesrepublik ausgesetzt sind, hat durch die Ereignisse in Ungarn spürbar abgenommen. Noch nie kann den Sowjets eine Besetzung West- und Mittel-Europas so wenig einladend erschienen sein wie gerade jetzt, da sie Polen aus ihrem Kolonialreich entlassen mußten, während sie Ungarn nicht »befrieden« können. Zwar, sie würden uns im Falle eines Falles immer noch »von der Landkarte streichen« können, um die drastische Sprache des Bundesverteidigungsministers zu gebrauchen; aber daran werden weder die Worte noch die Taten von Franz-Josef Strauß etwas ändern. Uns schützt nicht in erster Linie die Nato-Mitgliedschaft, uns schützt die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten die Besetzung der Bundesrepublik genauso wenig hinnehmen würden wie ein Eingreifen russischer Truppen in Ägypten, wo die sowjetischen Soldaten immerhin gute Chancen hätten, als Freiwillige begrüßt zu werden. Uns schützt das Atomgleichgewicht zwischen den beiden Weltmächten, nicht die Nato.

Die Amerikaner schöpfen ihre Sicherheit nicht aus der Nato, und die Sowjets ganz gewiß nicht aus dem »Warschauer Pakt«. Die Armeen der osteuropäischen Länder sind für die Sowjets weniger als nichts wert, sie würden ihre teuer erkauften Waffen östlicher Provenienz im Ernstfalle umdrehen. Die Verbindungswege durch Polen und Ungarn wären dann eine einzige Partisanen-Hölle für die Rote Armee. Zerstoben ist das Planspiel-Gespenst des Generals Heusinger, der die westdeutsche Armee so stark wissen wollte, daß sie einem vom Kreml dirigierten Angriff nur der »Satelliten«-Armeen standhalten könne. Der Kreml darf nicht mehr daran denken, das europäische Potential einzusacken, das sind die Lehren von Warschau und Budapest.

Die Sowjets waren nicht so stark, wie uns der Bundeskanzler das immer an seiner Schwarz-Weiß-Schreckens-Tafel ausgemalt hat, und sie sind nicht so schwach, wie uns der gleiche Bundeskanzler in seinen Wunschträumen vom Untergang des roten Reiches glauben machen wollte. Die Sowjets werden jetzt nach dem Tode des fürchterlichen großen Stalin auf ihre Grenzen und Möglichkeiten zurückgeworfen. Der Westen hat diesen krisenhaften Prozeß, der mit elementarer Naturgewalt vonstatten geht, bislang kaum beeinflussen können, er hat ihn nicht gestört und nicht gefördert. In der Bundesrepublik, wo die Politiker die Weckuhr immer etwas länger klingeln lassen, hat man ihn, so lange es ging, nicht zur Kenntnis genommen. Dann, endlich aufgewacht, stammelt man schlaftrunken die eingelernten Vokabeln: »Mehr aufrüsten« und »Nato stärken«.

Es ist aber kein Zufall, daß die Vereinigten Staaten sich im Augenblick mehr auf die Uno als auf die Nato stützen. Es ist kein Zufall, daß die wichtigsten Nato-Mitglieder in ihren Lebensfragen momentan nicht miteinander, sondern gegeneinander Politik machen. Amerika hat gegen die alten Kolonialmächte optiert, um den in Osteuropa kolonial gebundenen Sowjets den Rang abzulaufen. Die Amerikaner haben ihr Verhältnis zu den farbigen Völkern für wichtiger gehalten als ihr Verhältnis zu England und Frankreich. Nehru, der von uns Belächelte, balanciert den Kurs.

Beharrlich haben er und der von uns beargwöhnte Tito einen Abbau der feindlichen Militärblöcke gefordert. Sie haben sich an die Spitze einer geschichtlichen Entwicklung gestellt, denn die Welt war es leid, von einfallslosen Generalen nach Stabsfähnchen geschurigelt und zu immer selbstmörderischeren Rüstungsanstrengungen angetrieben zu werden. Da die Geschichte aber ihre eigenen Wege geht, sind die Militärblöcke nicht abgebaut, sondern ausgehöhlt worden. Die nicht gerade glänzenden Fassaden stehen noch, zum Abbau oder zur weiteren Potemkinschen Schaustellung bereit. Der Abbröckelungsprozeß kann sich durch blutige Wehen wie in Ungarn verzögern, aber er kann nicht aufgehalten werden. Die Grundrisse des neuen Gebäudes, einer Friedensregelung für Europa,

sind im amerikanischen Außenamt schon abgesteckt.

Der Bundeskanzler mit seiner späten Leidenschaft für tote Pferde setzt abwechselnd auf

die europäische Intregration und auf die Nato, auf zwei Institutionen also, deren eine vom politischen Standpunkt aus die andere ausschließt. Beiden Gäulen wird er kein Leben mehr einhauchen können. Aktuell erreichbar ist eine gesamteuropäische Friedensregelung, die Deutschlands Wiedervereinigung einschließt.

Wäre es bisher schon richtig gewesen, westdeutsche Streitkräfte immer nur in Relation zur ostzonalen Armee aufzustellen - sie ständen dann bereits, von der Opposition mitgetragen -, so wird man die Streitkräfte der Bundesrepublik seit Gomulka und Budapest in den Perspektiven einer gesamteuropäischen Friedensregelung betrachten müssen.

Westdeutschland darf keinesfalls mehr Streitkräfte aufstellen, als einem aus der Nato entlassenen Gesamtdeutschland für den Anfang von seinen Nachbarn in Ost und West zugestanden werden könnten. Wir brauchen, in Abwandlung des Bismarck-Wortes, eine »schlagkräftige, aber kleine Armee«, eine Berufsarmee, da die Sowjets die allgemeine Wehrpflicht für eine Reihe von Jahren mit Rücksicht auf die DDR ausschließen werden. Selbst 'wenn wir einen Zusammenbruch des sowjetrussischen Reiches für wahrscheinlich hielten - ich für meinen Teil bin weit entfernt davon -, sollten wir die unwandelbaren Ängste Polens und der Tschechoslowakei genauso in unsere Rechnung einbeziehen, wie wir bislang die Ängste Frankreichs berücksichtigt haben. Zum jetzigen Zeitpunkt die Parole »mehr Rüstung« auszugeben, heißt viel Geld hinauswerfen und die neue politische Chance gleich der alten mit zweitrangigen Dingen vertun. Es muß nicht stärker gerüstet werden, sondern planvoller und mit mehr Muße. Es muß nicht gerade weniger gerüstet werden, aber langsamer.

Die Amerikaner haben den Glauben an unsere militärische Wundertäterschaft längst über Bord geworfen. Die Armee aus der Retorte wird ihnen ein immer unbehaglicherer Homunkulus; müßte er sich doch im Falle eines Aufstandes à la Ungarn gegen Ulbricht verpflichtet fühlen, den Atom-Weltkrieg auszulösen. Wir sind nicht mehr der (imaginäre) Eckpfeiler der Nato, und die Nato ist nicht länger der (imaginäre) Eckpfeiler des Friedens. Auf die Amerikaner, die nach stürmischen Irrfahrten um das Cap McCarthy wieder bei der Freiheitsstatue vis-à-vis Ellis Island angekommen sind, sollten wir schauen. Sie werden eine selbständige deutsche Politik in unmittelbarer Zukunft genauso begrüßen, wie sich die Sowjets inzwischen mit Wladyslaw Gomulka eingerichtet haben.

Nichts hindert uns daran, mit Engländern und Franzosen gute Freundschaft zu pflegen. Aber beide Länder sind derart mit ihren eigenen Kalamitäten beschäftigt, daß Europa für sie nicht viel mehr als der Schuttablade-Platz ihrer Nöte und Sorgen ist. Beide werden unsere Rüstung nicht nach europäischen Notwendigkeiten messen, sondern nach den taktischen Erfordernissen ihrer Tagesdiplomatie. Es wird an uns liegen, europäisch zu handeln, indem wir bedächtig rüsten. Da die Regierungsspitze nur noch Referenten-Stückwerk zum besten gibt, fällt dem Bundesverteidigungsminister eine im Gesetz nicht vorgesehene Rolle zu. Er hat jetzt zu beweisen, daß er mehr ist als ein geschickter Holterdipolter aus der bayerischen Provinz.

Jens Daniel
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