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MEDIZIN / FORSSMANN Sonde im Herzen

aus DER SPIEGEL 44/1956

Es geschah am 11. April 1931. Im Berliner Langenbeck-Haus hatten sich Deutschlands Chirurgen zum 55. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie versammelt. Vor dem erleuchten Auditorium stand der 27jährige Assistenzarzt eines Provinz-Krankenhauses, der Dr. Werner Forssmann vom Auguste-Viktoria-Heim zu Eberswalde, und suchte den Beifall der medizinischen Autoritäten für seine Entdeckung und ihre Zustimmung zu den sich daraus ergebenden Anwendungsmöglichkeiten zu gewinnen. Forssmann hatte sich ein dünnes Rohr - einen sogenannten Katheter - durch eine der großen Venen bis in das Herz geschoben und damit neuartige diagnostische und therapeutische Möglichkeiten eröffnet.

Man hatte sein Referat auf den letzten Tag des Kongresses und an dessen alleräußerstes Ende verschoben - auf, fünf Minuten vor fünf Uhr. Der jugendliche Arzt war trotzdem voller Hoffnungen. Er sprach ruhig und sachlich über die Möglichkeit, das schlagende Herz durch den Katheter mit einem Kontrastmittel zu füllen und auf diese Weise alle Mißbildungen des Organs vor dem Röntgenschirm sichtbar zu machen.

Aber Forssmanns Hoffnungen erfüllten sich nicht. Deutschlands prominentesten Chirurgen blieb die Bedeutung der Forschungsergebnisse verborgen, die ihnen der junge Assistenzarzt aus Eberswalde vortrug. Niemand klatschte Beifall, niemand meldete sich zur Diskussion. Als Forssmann enttäuscht den Saal verließ, trat sein Onkel, der Medizinalrat Hindenburg, auf ihn zu, legte ihm tröstend die Hand auf

die Schulter und sagte: »Nimm dir das nicht so zu Herzen, was die Leute da drinnen machen. Laß uns zu Eggebrecht gehen und eine gute Flasche trinken. Das war keine Niederlage, sondern ein Sieg. Die da haben's bloß nicht gemerkt. Dafür kriegst du noch mal den Nobelpreis...«

In gespenstischer Übereinstimmung hatte sich ein Vorgang wiederholt, der sich 29 Jahre zuvor in demselben Langenbeck -Haus abgespielt hatte, und der seither als eklatantes Beispiel für jenen fast naturgesetzlichen Mangel an Weitsicht gilt, mit dem die Autoritäten der medizinischen Wissenschaften oftmals die Entdeckungen vor allem junger Menschen betrachten. Damals, im Jahre 1892, hatte der 32jährige Arzt Carl Ludwig Schleich, Chirurg und Inhaber einer kleinen Privat-Klinik in Berlin, vor 800 zum Jahres-Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie versammelten Chirurgen ein Forschungsergebnis von weitreichender Bedeutung verkündet: Schleich hatte die örtliche Betäubung durch Infiltration der Gewebe mit Kokain entdeckt.

Eine nach seinem Vortrag unter umstrittenen Umständen vorgenommene Abstimmung brachte ihm und seiner Entdeckung jedoch eine Niederlage. Sein Vater, ebenfalls Arzt, trat auf ihn zu und sagte: »Die Kerls sind ja ganz und gar verrückt, wir wollen zu Hiller gehen und eine Flasche Sekt trinken. Recht kriegst du ja doch ...«

Die Prophezeiungen erfüllten sich. Im Lexikon ist Carl Ludwig Schleich heute als »Erfinder einer chirurgisch verwendbaren örtlichen Betäubung« verzeichnet, und am 18. Oktober dieses Jahres erhielt der Dr. med. Werner Forssmann, der sich in Bad Kreuznach als Facharzt für Nieren- und Blasenkrankheiten niedergelassen hat, ein schlichtes Brieftelegramm aus Stockholm: Es verkündete ihm, 25 Jahre nach jenem Vortrag vor den Chirurgen, daß ihm gemeinsam mit den amerikanischen Herzforschern Andre F. Cournand und Dickinson W. Richards jr.

der Nobelpreis 1956 für Medizin verliehen worden sei - und zwar für die Entdeckung und die im Selbstversuch durchgeführte Erprobung des Herzkatheters, der heute zum Rüstzeug jedes Facharztes für Herzkrankheiten gehört, und der die Entwicklung der modernen Herzchirurgie überhaupt erst ermöglicht hat.

Die gleichzeitige Verleihung von je einem Drittel des Nobelpreises an zwei amerikanische Mediziner machte deutlich, daß die Verständnislosigkeit, mit der Deutschlands führende Chirurgen 1931 den Vortrag des jungen Forssmann aufnahmen, den Verlust eines großen Forschungsgebietes zur Folge gehabt hatte. Forssmann konnte damals seine bahnbrechenden Arbeiten nicht fortsetzen, und so machten amerikanische und schwedische Ärzte, die Forssmanns Entdeckung aufgriffen, die Herzkatheterung zur Grundlage moderner Herzdiagnostik. Erst nach dem zweiten Weltkrieg importierten deutsche Mediziner diese Technik wieder aus Amerika. Die Geschichte vom Propheten, der im eigenen Lande nichts gilt, hatte eine neue Variante bekommen.

Als der Referendarssohn Werner Forssmann 1928 in Berlin sein medizinisches Staatsexamen ablegte, hatte ein bestimmtes Gebiet der Medizin manche Zweifel in ihm hinterlassen: die Diagnostik der Herzkrankheiten. Die damals üblichen Untersuchungsmethoden, vor allem das Abhorchen mit dem Stethoskop, das Abklopfen mit den Händen, dazu die Arbeit mit dem Elektrokardiographen und am Röntgenschirm, ergaben nur mehr oder weniger subjektive Ergebnisse.

Die Röntgenaufnahmen zeigten damals nicht immer voll verwertbare Bilder, weil die Ärzte das Herz nicht wie andere Organe mit strahlenundurchlässigen Kontrastmitteln füllen konnten. Sie gaben bestenfalls Aufschluß über gewisse Größenveränderungen. Die Elektrokardiogramme - sie zeichnen die Ströme auf, die wie bei jeder Muskelarbeit auch bei der Arbeit des Herzmuskels entstehen - gestatteten gewisse Rückschlüsse auf die Herzmuskelfunktionen. Aber die Deutung der Elektrokardiogramme war schwierig und nur unter Einbeziehung anderer klinischer Daten möglich.

Am schlimmsten war es um das Abhorchen und Abklopfen bestellt. Dabei hing alles von der Hörfähigkeit des einzelnen Arztes ab und davon, wie er seine Sinneseindrücke zu deuten verstand. Forssmann hatte erlebt, wie leicht es einem seiner Lehrer bei einem Experiment fiel, eine ganze Gruppe von Studenten zu völlig falschen Ergebnissen zu verleiten. Dementsprechend waren damals nur Bruchstücke von der heute sehr differenzierten Kenntnis der Herz- und Kreislauffunktionen und der entsprechenden Krankheiten vorhanden. Exakte. Experimente an lebenden Herzen hatte man nur bei Tieren vornehmen können.

Aber die Ergebnisse der Versuche am narkotisierten Tier waren irreführend. Die Narkose beeinflußte die Herztätigkeit, ebenso die notwendige künstliche Öffnung des Brustkorbes mit all ihren Druckveränderungen. Zudem bedürfen Rückschlüsse vom Tier auf den Menschen ohnehin immer der wissenschaftlichen Nachprüfung. Die direkte Beobachtung der Herztätigkeit beim lebenden Menschen aber war unmöglich.

Der Holzschnitt des Lehrbuches

Im allgemeinen können nur wenige Entdecker genau angeben, wo und wann sie den ersten Anstoß zu ihrer Entdeckung bekamen. Bei Forssmann hatte jedoch zweifellos ein Holzschnitt aus einem Buch des französischen Chirurgen und Physiologen Claude Bernard, »Lecons de Physiologie Opératoire«, erschienen in Paris 1879, eine Rolle gespielt. Der Holzschnitt zeigt ein Tier, dem die Franzosen Chauveau und Marey die Halsvene geöffnet und durch diese Vene ein dünnes Rohr bis ins Herz geschoben hatten. An dieses Rohr war ein Registriergerät angeschlossen.

Dieses alte Bild hatte Forssmann während seiner Studienzeit in einem physiologischen Lehrbuch gefunden und bei seinem Anblick überlegt, ob es nicht möglich sei, beim lebenden Menschen ein millimeterdünnes Rohr durch eine der großen Venen - die den Blutstrom von den Organen und Gliedern in die rechte Herzhälfte zurückleiten - bis In das Herz zu schieben. Das müßte, so sagte er sich, verschiedene diagnostische und therapeutische Möglichkeiten eröffnen. Man müßte in der Lage sein, Blut aus dem Herzen zu entnehmen und Stoffwechselvorgänge zu untersuchen. Man müßte Kontrastmittel direkt ins Herz bringen und dadurch detaillierte Röntgenaufnahmen erzielen können. Therapeutisch schließlich müßte es

möglich sein, beim Herzstillstand Medikamente direkt ins Herz einzubringen, ohne die Brustwand zu durchstechen.

Diese Idee ließ den impulsiven jungen Mann nicht los, als er 1929 im Auguste-Viktoria-Krankenhaus zu Eberswalde als Assistenzarzt in der Chirurgischen Abteilung des Sanitätsrats Dr. Richard Schneider seine klinische Schule begann. Ihm war klar, daß kein Mensch sich zu einer solchen Herzuntersuchung die Halsvene öffnen lassen würde, obwohl sich in dieser Vene keine Klappen befanden, die einem Katheter Widerstand entgegensetzen konnten*.

Nach genauem Studium des Venensystems meinte Forssmann, daß es deswegen am besten sei, die obere Armvene in der Ellbogenbeuge zu öffnen und dann einen langen biegsamen Katheder, wie man ihn zur Untersuchung der Harnwege benutzt, durch die Venenkrümmung in der Achselhöhle in leicht geschwungenem Bogen bis zur Hohlvene und von dort in die rechte Herzkammer zu schieben (siehe Zeichnung). Die Venenklappen öffnen sich alle zum Herzen hin und können leicht zur Seite gedrückt werden.

Forssmann trug die Idee so lange mit sich herum, bis sie ihn einfach zwang, sich seinem Chef Schneider zu offenbaren. Schneider begriff die ungewöhnlichen Aussichten eines solchen Versuchs, obwohl er wie fast alle Ärzte in jenen Jahren an die Unantastbarkeit der »Festung Herz« glaubte, dieses »Allerheiligsten« des Menschen. Er schlug Tierversuche vor.

Wie reagiert das Herz?

Aber das Krankenhaus Eberswalde war ein nur auf die praktischen Erfordernisse des Heilens und Helfens zugeschnittenes Provinz-Krankenhaus ohne Forschungsmöglichkeiten. Es war ausgeschlossen, dort Versuchsreihen mit Tieren durchzuführen. Forssmann - unfähig, sich noch von seinen Vorstellungen zu lösen - erklärte, er werde die Herz-Katheterung an sich selbst versuchen. Das ging dem Dr. Schneider zu weit: Er kannte Forssmanns Mutter, und er fühlte sich für den jungen Mann verantwortlich, dessen Vater im Weltkrieg gefallen war. Er verbot ihm rundweg jeden Selbstversuch: »Was soll ich Ihrer Mutter sagen, wenn wir Sie tot im Röntgenzimmer finden...«

Forssmann antwortete: »Jawohl, Herr Sanitätsrat...«, aber er konnte den Gedanken an den Selbstversuch nicht mehr abschütteln. Er beschloß, bei günstiger Gelegenheit ohne Schneiders Zustimmung zu handeln.

Nach Versuchen an Leichen, bei denen es dem Dr. Forssmann gelang, den Katheter von der Ellenbeuge bis ins Herz vorzuschieben, zog er einen befreundeten Kollegen ins Vertrauen, den Dr. Peter Romeis, Assistenzarzt der Inneren Abteilung. Romeis warnte. Er wies auf die Gefahren hin - Venenverletzungen, tödliche Blutgerinnsel. Eine Luftembolie könnte entstehen: Die in klaffende Venen eindringende Luft würde den Tod herbeiführen. Möglicherweise würde das Herz auf den Reiz auch mit einem reflektorisehen Herzstillstand reagieren.

Trotzdem brachte der Assistenzarzt Forssmann den Assistenzarzt Romeis dazu, ihm die rechte Ellenbogenvene zu punktieren. Forssmann führte einen sterilen, mit sterilem Olivenöl eingefetteten Katheter in die eigene Armvene ein. Das ging sehr leicht. Er fühlte keinerlei Beschwerden. Aber als der Katheter 35 cm weit eingedrungen war, erklärte Romeis, diesem verwegenen Spiel nicht länger mehr zusehen zu können, und zog den Katheter wieder aus Forssmanns Armvene heraus.

Forssmann entschloß sich nun, allein zu handeln. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit, die sich endlich an einem Mittag bot, an dem sich die andern Ärzte in ihren Zimmern befanden und die Operationsschwester Gerda Ditzen eben den Operationssaal verlassen wollte: Er äußerte die harmlos klingende Bitte, sie möge die Instrumente für eine Lokalanästhesie bereit legen.

»Mit so was kommt man ins Zuchthaus«

Die Schwester nahm an, es handele sich um irgendeinen kleinen Eingriff im Rahmen der täglichen klinischen Arbeit. Sie erfüllte die Bitte und ging. Zufällig kam sie jedoch noch einmal in den Operationssaal zurück, als Forssmann sich gerade in der linken Ellenbeuge eine örtliche Betäubung anlegte. Sie wies Ihn auf Schneiders Verbot hin, sie drohte Schneider zu benachrichtigen.

Aber Forssmann beteuerte solange, daß sein Experiment völlig ungefährlich sei, bis die Schwester, selber medizinisch sehr interessiert, ihn aufforderte, den Versuch an ihr durchzuführen. Dadurch könne er beweisen, daß er wirklich von der Ungefährlichkeit des Unternehmens überzeugt sei.

Zum Schein ging Forssmann auf dieses Angebot ein. Als die Schwester sich auf den Operationstisch gelegt hatte, schnallte er ihr Arme und Beine fest - dann führte er vor den Augen der überraschten, hilflos Protestierenden den Versuch an sich selbst durch. Diese bis heute unbekannte Szene dürfte In einer künftigen Medizin-Geschichte sicherlich zu den ungewöhnlichsten der an dramatischen Momenten nicht armen Medizin-Historie zählen.

Die Geschichte der Ärzte, die im Selbstversuch neue Heilverfahren erprobten oder das Geheimnis irgendeines Krankheitsgeschehens zu enträtseln versuchten, reicht von dem englischen Chirurgen John Hunter bis zu dem deutschen Mikrobenjäger Max Taute.

John Hunter, der berühmteste Chirurg des 18. Jahrhunderts, unternahm im Jahre 1767 einen Selbstversuch, um zu erforschen, ob die Syphilis und die Gonorrhöe durch dasselbe Toxin« verursacht werden: Er infizierte sich selbst und beobachtete und beschrieb sorgfältig die nach einigen Wochen auftretende Krankheit. Anschließend suchte er sich durch eine dreijährige Quecksilberbehandlung zu kurieren. Das Vorhaben mißlang offensichtlich, denn als er 1793 starb, nannten die Historiker syphilitische Störungen am Zentralnervensystem als eine der Todesursachen.

Einen ähnlichen Versuch wagte der Tscheche Otokar Horak 1828 in Prag. Er spritzte sich ein Filtrat von Tuberkulosebazillen unter die Haut und ließ sich - ehe er an

der Infektion starb - die infizierten Hautpartien zu Untersuchungszwecken ausschneiden.

Zahllose Selbstversuche führten zur Entdeckung der Äther- und Chloroform-Narkose. Der amerikanische Zahnarzt Horace Wells erprobte 1844 die schmerzbetäubende Wirkung des Lachgases, dessen Anwendung zu Belustigungszwecken er bei einer »Show« beobachtet hatte. Er wurde der Initiator der Gasnarkose, die erst die moderne Chirurgie möglich machte. Die Versuche endeten mit seinem Selbstmord: In zahlreichen Experimenten - auch mit Äther und Chloroform - war er süchtig geworden. 1848 verhafteten ihn New-Yorker Polizisten auf dem Broadway, als er im Ätherrausch Frauen mit Säure bespritzte. Im New-Yorker Gefängnis schnitt er sich die Oberschenkelarterie auf und verblutete.

Der Berliner Arzt Otto Obermeier unternahm 1873, als in Berlin eine Cholera-Epidemie herrschte, einen Selbstimpfungsversuch. Kurz darauf besuchte er Rudolf Virchow, um ihm mit heiterem Gesicht zu eröffnen, daß er die Cholera habe. Er machte an sich selbst mikroskopische Studien, ohne jedoch das Rätsel der Cholera lösen zu können, und starb vier Tage später, 31jährig, an der Seuche.

Der Münchener Hygieniker Dr. Max Pettenkofer wurde zu einem bayerischen Volkshelden, als er am 12. November 1892 - um seine Theorie zu beweisen, daß ohne entsprechende körperliche Disposition die Bazillen keine Cholera hervorrufen können - Millionen von lebendigen Cholerabazillen schluckte, genug, um ein Regiment zu vergiften.

»Selbst wenn ich mich täuschte und der Versuch lebensgefährlich wäre«, sagte Pettenkofer, »würde ich dem Tode ruhig ins Auge sehen, denn es wäre kein leichtsinniger oder feiger Selbstmord, ich stürbe im Dienste der Wissenschaft wie ein Soldat auf dem Felde der Ehre.« Max Pettenkofer hatte Glück, er blieb gesund.

Das Thema vieler Darstellungen sind die Selbstversuche des Amerikaners Jesse W. Lazear, eines Angehörigen der amerikanischen Kommission, die in den Jahren 1900 und 1901 in Kuba das Geheimnis des Gelbfiebers zu ergründen suchte. Im September 1900 setzte sich Lazear selbst einen aus dem Ei gezüchteten Moskito an, der einige Tage vorher an Gelbfieberkranken Blut gesogen hatte. Das Ergebnis des wagemutigen Versuchs war negativ, nichts geschah.

Ein paar Tage darauf wurde Lazear von einem Moskito auf dem Rücken der Hand gestochen. Er ließ die Mücke sich ruhig volltrinken und nahm willig alle Konsequenzen auf sich, die mit diesem ominösen Mückenstich verbunden sein konnten. Fünf Tage spater, am 18. September, verzeichnete die Krankengeschichte: »Dr. Lazear unwohl.« Acht Uhr abends:. »Dr. Lazear hat einen Schüttelfrost.« Zwei Stunden später: »Zweiter Schüttelfrost.« Am nächsten Tag um zwolf Uhr mittags: »Temperatur 39 Grad, Puls 112, Augen blutunterlaufen, Gesicht rot geschwollen.« Um sechs Uhr abends war die Temperatur auf 40 Grad gestiegen, der Puls auf 106 gesunken. Als er endlich in die Gelbfieberbaracke überwiesen wurde, übergab er alle seine Aufzeichnungen einem befreundeten Arzt. Fünf Tage später war Dr. Lazear, 34 Jahre alt, tot.

Der Berliner Chirurg August Bier ließ sich im Jahre 1898 von seinem Assistenten eine zehn Zentimeter lange Nadel in den Kanal der Wirbelsäule stechen, um zu beweisen, daß durch Unterbrechung der Empfindungsnerven im Rückenmarkskanal ganze Teile des Unterkörpers empfindungslos gemacht werden können.

Kurz vor dem ersten Weltkrieg trotzte ein deutscher Mikrobenjäger namens Max Taute in Afrika den Stichen Dutzender Tse-Tse-Fliegen, deren Unterleib und deren Speicheldrüsen von Mikroben wimmelten, um die Richtigkeit seiner Theorie zu beweisen, daß die Pferde- und Rinderkrankheit Nagana auf den Menschen nicht übertragbar sei. Um diese Theorie zu unterbauen, schoß er sich sogar fünf Kubikzentimeter Blut, das er einem erkrankten Tier entnommen hatte, unter die Haut. Taute behielt recht, er überstand die Einspritzung der Millionen von Krankheitserregern, die jedes Pferd oder jedes Rind getötet hätte.

Trotz dieser Vorbilder, deren Zahl keineswegs vollständig ist, gehört Forssmanns Versuch, mit einem Katheter ins eigene Herz vorzudringen, zu den ungewöhnlichsten Ereignissen in der modernen Geschichte der Medizin.

An jenem Tag des Jahres 1929 führte Forssmann den Katheter 65 cm tief ein, denn er hatte durch äußerliche Messungen festgestellt, daß der Weg bis zum Herzen dieser Entfernung entsprechen mußte.

Danach befreite er die Schwester unter der Bedingung, daß sie im Röntgenraum anrufe und die Apparate von der dort arbeitenden Schwester Eva zur Aufnahme bereit machen lasse. Allen neuerlichen Einwendungen der Schwester zum Trotz ging er, den Arm mit dem darinsteckenden Katheter unter einem sterilen Tuch verborgen, durch zwei Gänge und über eine Treppe hinab zu dem Röntgenraum im Keller. Dort stellte er sich hinter den Durchleuchtungsapparat und ließ sich vor den Durchleuchtungsschirm einen Spiegel halten, in dem er das Röntgenbild seiner eigenen Brust beobachtete:

Er sah deutlich den Katheter in der Vene und die Katheter-Spitze in der rechten Herzkammer. Dann ließ er seinen Freund Romeis herbeiholen und bat ihn, durch Aufnahmen das gelungene Experiment festzuhalten.

Wenige Monate später, am 5. November 1929, schrieb er in der »Klinischen Wochenschrift": »Beim Einführen des Katheters hatte ich lediglich während des Gleitens an der Venenwand ein Gefühl leichter Wärme, ähnlich, wie wir es bei intravenösen Einspritzungen von. Calciumchlorid empfinden . . . Ich spürte eine besonders intensive Wärme hinter dem Schlüsselbein unter dem Ansatz des Kopfes, gleichzeitig, wohl durch Reizung von Vagusästen, einen leichten Hustenreiz... Irgendwelche anderen als die oben beschriebenen Empfindungen - ich achtete besonders auf die Reizerscheinungen von seiten des Reizleitungssystems des Herzens - konnte ich nicht feststellen.

»Auch den in unserer Anstalt ziemlich weiten Weg vom Operationssaal zur Röntgenabteilung, auf dem ich auch Treppen steigen mußte, mit im Herzen liegender Sonde zu Fuß zurückzulegen, war nicht mit Unannehmlichkeiten verknüpft. Einführung und Ausführung des Katheters waren vollständig schmerzlos . . . Auch später konnte ich nichts Nachteiliges an mir feststellen, abgesehen von einer leichten Entzündung an der Stelle der Venaesectio (des Venenschnitts), die wohl auf mangelhafter Asepsis bei der Selbstoperation beruhte.

»Eine Verletzung der Venenwand und damit eine Gefahr der Gerinnung oder der Thrombosebildung halte ich bei der spielend leichten Beweglichkeit der gut geölten Sonde für ausgeschlossen. Es sind ja auch namentlich aus der Kriegs- und Nachkriegsliteratur genügend Fälle bekannt, bei denen ein monatelanges Verweilen von Fremdkörpern im Herzen keine Störungen auslöste ... Zum Schluß möchte ich darauf hinweisen, daß die von mir angewandte Methode zahlreiche Ausblicke auf neue Möglichkeiten für Stoffwechseluntersuchungen und Untersuchungen der Herztätigkeit eröffnet, denen ich bereits nachgehe . . .«

Als dieses Referat erschien, war Forssmanns Schicksal allerdings bereits entschieden. Selbstverständlich erfuhr der Sanitätsrat Schneider von dem eigenmächtigen Vorgehen seines Untergebenen, zeigte aber nach dem nicht zu vermeidenden väterlichen Donnerwetter volles Verständnis für die Sache, die den jungen Dr. Forssmann angesichts der kommenden Ereignisse auf ziemlich einsame Höhe hob. Nach insgesamt neun weiteren Selbstversuchen und einem Versuch an einer Sterbenden

- bei dem sich zeigte, daß selbst das geschwächte menschliche Herz durch die eingeführte Sonde keinen Schaden leidet - bemühte sich der Sanitätsrat Schneider, den jungen Forssmann an einer großen Klinik mit Forschungsmöglichkeiten unterzubringen.

August Bier, der berühmte Chef der Chirurgischen Universitätsklinik an der Ziegelstraße in Berlin, zeigte sich interessiert, mußte aber ablehnen, weil seine Pensionierung kurz bevorstand. Der ebenso bedeutende wie originelle Professor Georg Klemperer von der 4. Medizinischen Universitätsklinik in Berlin ging auf die Sache ein, meinte aber: »Seien Sie vorsichtig, Forssmann. Mit so was kommt man leicht ins Zuchthaus . . .«

Schließlich ergab sich rein zufällig und ohne jeden Zusammenhang mit den Katheter-Experimenten, daß Forssmann bei Sauerbruch an der Charité volontieren konnte. Am 1. Oktober 1929 wechselte Forssmann aus der Provinz an die Charité über, wo die medizinischen Götter und Halbgötter jener Tage regierten: Sauerbruch, His, Czerny, Kraus, Lubarsch, Bonhoeffer. Und kaum, daß er den Boden dieses Schreins der Medizin voller Hoffnung und zugleich Beklemmung betreten hatte, entschied sich sein Geschick auf eine Weise, die verständlich macht, daß der jetzt Zweiundfünfzigjährige noch heute, in den Tagen nach der Verleihung des Nobelpreises, mit tiefem Mißtrauen auf die Scharen von Reportern reagiert, die plötzlich in seine Wohnung stürmen und aufgeregt nach Knüllern fahnden.

Noch bevor nämlich damals Forssmanns Referat über seine Selbstversuche in der »Klinischen Wochenschrift« erschien, veröffentlichte die Berliner »Nachtausgabe« wie aus heiterem Himmel einen ganz nach heutiger Boulevardblatt-Manier aufgemachten Artikel unter der Überschrift »Mit der Sonde im Herzen . . . Heldentat eines jungen Arztes«.

Der Bericht flackerte durch die Weltpresse. Forssmann wurde auf der Straße, vor seiner Wohnung von Reportern befragt und photographiert. Hilflos floh der Ahnungslose, der bis heute nicht zu erklären vermag, auf welche Weise die Journalisten die Nachricht von seinen Versuchen bekommen hatten, vor dem Ansturm. In der Charité aber nahm man an, daß er selbst die Presse unterrichtet habe, ein Verdacht, den er nicht widerlegen konnte.

Der Nobelpreisträger Forssmann schweigt sich über jene Wochen an der Charite aus. In Frankfurt am Main aber berichtet Dr. med. Johannes Gürsching, der damals als Assistent in der chirurgischen Abteilung des Professors Sauerbruch arbeitete: »Es war eine der großen tragischen Begegnungen zweier eigenwilliger Menschen. Sauerbruch, den ich als meinen einstigen Chef verehre, stand auf der Höhe seines Ruhms und seiner Schaffenskraft, der andere war jung und von seinen Ideen besessen, und die beiden fanden sich nicht. Sauerbruch hatte die Tragweite der Entdeckung Forssmanns offensichtlich nicht erkannt, wozu auch äußere Umstände beigetragen haben mögen. Sauerbruch hat wohl in einer Art Kurzschlußreaktion Forssmann mit dem Artikel der ,Nachtausgabe' identifiziert.«

»Ein leichtes Schwindelgefühl trat auf...«

Als für Forssmann dann in der Chirurgie nichts mehr zu gewinnen gewesen sei, berichtet Gürsching, sei er zur Urologie unter Professor Ringleb hinübergewechselt. Ohne Unterlaß sei jedoch nächtelang über die Herzsondierung diskutiert worden, mal im Casino der Charité, mal in der Wohnung von Forssmanns Mutter, wo es die Spezialität Forssmanns gewesen sei, Feuerzangenbowle zu bereiten.

Gegen Ende des Jahres 1929 schied Forssmann schließlich aus der Charité aus und kehrte nach Eberswalde zurück.

Obwohl der Sanitätsrat Schneider ihn freundlich wieder aufnahm, brauchte Forssmann einige Zeit, um die Enttäuschungen zu überwinden. Er fühlte, daß er als Außenseiter, ja als Scharlatan betrachtet wurde, raffte sich aber nach wenigen Monaten erneut auf, um seine Experimente fortzusetzen. Er tat den nächsten praktischen Schritt: Er bewies, daß es mit Hilfe seines Katheters möglich ist, wie bei der Magen- oder Nieren-Durchleuchtung ein Röntgenkontrastmittel in die rechte Herzkammer zu bringen. Da ihm wiederum weder Geld noch Laboratorien noch Tierställe zur Verfügung standen, führte er den Beweis von neuem an sich selbst.

Forssmann gesteht heute, daß bei jenem Experiment kein Glaube an die Ungefährlichkeit des Selbstversuchs sein Handeln erleichterte. Bei der Anwendung des Katheters bestand immerhin 'die Gewißheit, daß man ihn beim Auftreten einer Krise sofort entfernen konnte. Das Kontrastmittel, die chemische Lösung, die einmal in den Kreislauf injiziert war, ließ sich jedoch nicht mehr beeinflussen. Forssmann wußte nicht, wie das Eindringen der Kontrastflüssigkeit und die damit verbundene plötzliche Druckerhöhung auf das Herz wirken würden. Er konnte auch nicht wissen, wie die Nervenendungen im Herzinnern reagieren würden und ob nicht der Tod durch Schock seinen Versuch schlagartig beenden würde. Noch einmal gewann er den Freund Romeis als Helfer für die Röntgenaufnahmen.

Im alten Röntgenraum der Klinik stieß er den Katheter bis in das eigene Herz vor und spritzte eine Kontrastlösung durch das Rohr. Zunächst versuchte er es mit einer Jod-Natrium-Lösung. In dem Referat über die neuerlichen Selbstversuche, das er am 20. März 1931 in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift« veröffentlichte, berichtete er:

Injektion von 5,0 führte zu keiner Störung oder Wahrnehmung. Während der nun folgenden schnellen Einspritzung von 20.0 einer 25prozentigen Jod-Natrium-Lösung wurde eine Nah-Aufnahme mit

1/20 Sekunde Belichtung gemacht. Kurz nach der Injektion trat leichtes Schwindelgefühl auf, das sofort wieder verschwand. Lediglich die ungefähr eineinhalb Tage andauernde Ausscheidung des Jodsalzes verursachte leichten Schnupfen und eine unangenehme Beeinträchtigung des Geschmacks. Die Aufnahmen zeigten nur eine gute Durchzeichnung der Lungenschlagader... Immerhin erbrachte der Versuch den Beweis, daß es sich um ein ungefährliches diagnostisches Verfahren handelte.«

Der nüchterne, sachliche Bericht klang wieder so, als hätte es sich um etwas völlig Selbstverständliches gehandelt. Dabei war Forssmanns Unternehmen, wie Untersuchungen amerikanischer Herz-Forscher später ergaben, sehr wohl ein Experiment auf Leben und Tod gewesen. Daß die Röntgenaufnahmen nicht die erhofften Ergebnisse zeigten, war schmerzlich, aber keineswegs verwunderlich. Das Herz hatte in weniger als einer Sekunde alle Bewegungsphasen vom Ansaugen bis zum Ausstoß durchgemacht, so daß sich das Kontrastmittel nur einen winzigen Augenblick lang im Herzen befunden hatte. Die Belichtungsdauer des altmodischen Röntgengeräts in Eberswalde (Forssmann: »Es verhielt sich zu einem modernen Röntgengerät wie ein Hanomag-Kommißbrot zu einem Mercedes 300") war viel zu lang gewesen, um ein einwandfreies, verwertbares Bild zu ergeben.

Forssmann gab jedoch nicht auf. Er hatte bewiesen, daß es möglich war, das Herz mit einem Kontrastmittel zu füllen. Er wollte ebenso beweisen, daß sich vom Herzen scharfe Röntgenbilder herstellen ließen. Das Kontrastmittel mußte eben besser ausgewählt und noch schneller injiziert, das Aufnahmeverfahren mußte beschleunigt werden. Dazu waren Versuchsreihen notwendig, die sich nicht am Menschen und nicht im Selbstversuch durchführen ließen. Also blieb doch nur der Tierversuch. Wo aber sollte Forssmann mit Tieren experimentieren?

Ein Zufall kam ihm zu Hilfe: eine Begegnung mit Professor Willi Felix, heute Nachfolger Sauerbruchs an der Charite und damals Chef der 2. Chirurgischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Neukölln. Während der Schicksalsmonate Forssmanns in der Charite war Felix Oberarzt bei Sauerbruch gewesen - und einer der wenigen, die Forssmann mit freundlicher Beachtung bedacht hatten. Er stellte jetzt dem jungen Mediziner bessere Röntgenanlagen zur Verfügung. Versuchstiere hatte Felix allerdings auch nicht, Forssmann mußte sie selbst erwerben.

»Es ist etwas verbitternd ...«

Von da an machte sich Forssmann Tag für Tag mit seinem Motorrad auf den Weg nach Neukölln, experimentierte an Kaninchen, dann an Hunden und erlebte eine furchtbare Überraschung nach der anderen: Die Kaninchen starben schon während der Injektion, selbst die Hunde überlebten die Einspritzung der Kontrastmittel nur mit Mühe und Not.

»Daß Mangel an Mitteln auch ein Segen sein kann«, sagt Forssmann heute, »habe ich damals erlebt. Hätte ich gleich zu Anfang die Mittel besessen, um Versuchstiere vorauszuschicken, wäre es nie zu meinen Versuchen am Menschen gekommen. Ich hätte angesichts der Mißerfolge bei Tieren vorzeitig aufgegeben und nicht gewußt, daß die Empfindlichkeit des Menschen gegen Kontrastmittel um vieles geringer ist als diejenige des Tieres ...«

Immerhin: Forssmann war zähe genug, um auch bei den Tieren die Schwierigkeiten zu überwinden. Er suchte Verbindung zu dem Röntgenologen Dr. Gottheiner, der in der Königgrätzer Straße in Berlin eines der ersten großen privaten Röntgeninstitute unterhielt. Gottheiner hatte die Anfänge des Schirmbild-Kinoverfahrens entwickelt, mit dessen Hilfe schnell ablaufende Körper-Vorgänge röntgenologisch auf Filmen festgehalten werden konnten. 150 Reichsmark kostete jede Aufnahmereihe - eine für Forssmann kaum erschwingliche Summe. Aber er bot seine letzten Mittel auf, um zum Ziel zu kommen, und 1931 gelang es ihm zum ersten Male, das Herz eines lebenden Hundes im Röntgenfilm deutlich sichtbar zu machen.

Mit den Ergebnissen dieser Arbeit trat er vor die Koryphäen, die zum 55. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin versammelt waren, und erlebte am späten Nachmittag des 11. April 1931 jene völlige Interesselosigkeit, die ihn zwar niederschmetterte, die aber dennoch nicht seinen Glauben an sich selbst und an seine Arbeit zerstören konnte.

Allein, ohne großzügige Unterstützung, war an eine Weiterarbeit nicht zu denken. Seine Mittel waren erschöpft. Seine Bewertung als Außenseiter ging so weit, daß - für die damalige Zeit verständlich - Bewerbungen auch um kleinere Chefarztstellen abgeschlagen wurden, weil die dafür Verantwortlichen fürchteten, Forssmann könnte Patienten gefährden.

Von besorgten Freunden bedrängt, mußte Forssmann Ende 1931 den Weg aufgeben, an dessen Ende die moderne Kardiologie und die Chirurgie der angeborenen Herzkrankheiten stehen.

Forssmann begann, erst als Chirurg, später als Urologe praktisch zu arbeiten. Für kurze

Zeit kehrte er noch einmal zur Charité zurück, aber alle Wege nach oben waren besetzt und verstopft. Ein Jahr lang arbeitete er an der Chirurgischen Klinik des Städtischen Krankenhauses in Mainz, wo er die Assistenzärztin Elsbet Engel aus Bingen kennenlernte, die heute seine Gattin ist.

Am Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus wurde er Oberarzt in der urologischen Abteilung, und drei Jahre später ging er als Erster Oberarzt an die Chirurgische Klinik des Stadtkrankenhauses Dresden-Friedrichstadt, 1938 als Erster Oberarzt an die 3. Chirurgische Universitätsklinik des Robert-Koch-Krankenhauses in Berlin. In jenen Jahren wurden seine vier Söhne geboren: Klaus (1934), Knut (1936), Jörg (1938) und Wolf (1939).

Als Sanitätsoffizier - er wurde noch im September 1939 eingezogen - machte er den Krieg mit. 1940 kam der fünfte Junge (Bernd), erst 1943 folgte auf diese »Männer-Serie« als sechstes und letztes Kind das Mädchen Renate. Kurz vorher war die Familie in Berlin ausgebombt worden, und Frau Dr. Forssmann zog mit ihren Kindern zu ihrer Mutter nach Wambach bei Wies im Schwarzwald.

Der Sanitätsoffizier Forssmann, der bis fast zum Kriegsschluß eine Schwerverletzten-Abteilung im Reserve-Lazarett Neuruppin betreute, schaffte es, der heranrollenden russischen Welle zu entgehen; an der Elbe geriet er in amerikanische Gefangenschaft. Im November 1945 gelang es ihm, sich abzusetzen. Er schlug sich zu seiner Familie im Schwarzwald durch.

Seine Frau war inzwischen für den ärztlichen Notdienst verpflichtet worden und versorgte unter schwierigen Verhältnissen

die ihr anvertrauten Dörfer. Der Heimkehrer Forssmann half ihr dabei und suchte zugleich wieder Anschluß an eine klinische Tätigkeit.

Forssmann und Romeis - der sich 1935 in Bad Nauheim niedergelassen hatte - nahmen erneut Kontakt miteinander auf. Romeis berichtet, daß Forssmann ihm zu jener Zeit - am 21. Juli 1949 - einen Brief aus

Wambach bei Wies schrieb, wo er gerade die Praxis seiner Frau übernommen hatte (Bezirk mit 800 Einwohnern: 100 bis 150 Mark Einnahme je Monat). In diesem Brief schrieb Forssmann unter anderem: »Der seelische Druck ist allmählich so stark, daß er einen zu Boden zwingt... Es ist etwas verbitternd, daran zu denken, wie diese Arbeitsmöglichkeit mit großem Idealismus von mir ausgebaut wurde - Du warst ja selbst nächster Zeuge dessen -, dann in Deutschland totgeschwiegen oder gar verspottet wurde als Verrücktheit eines abwegigen Sonderlings, und nun vom Ausland gierig aufgenommen worden ist, häufig genug sogar als amerikanische Originalmethode bezeichnet und so fort. Trotzdem erfüllt es mich mit etwas Stolz, sagen zu dürfen, daß es mir doch gelungen ist, auf einem kleinen Gebiet unserer geliebten Wissenschaft eine Tür für den Fortschritt aufzustoßen, auch wenn ich selbst in Vergessenheit gerate.

»Doch geht es ja nicht um das Persönliche, sondern um die Förderung des Sachlichen. Es ist nur sehr schwer, über den Zaun sehen zu müssen, wenn andere das ,entdecken', was einem selbst als Arbeitsmöglichkeit schon vor zwanzig Jahren vorgeschwebt hat und zu dem man den Anstoß gegeben hat. Sed inter bellum musae tacent*.,

Dann in einem Brief vom 4. August 1949: »Die Hungerpraxis hier läßt mir keine Möglichkeit zu wissenschaftlicher Arbeit, Bücher fehlen mir vollständig, und für längere Zeit fortfahren kann ich wegen der damit verbundenen Kosten auch nicht.«

Im Jahre 1950 endlich gaben ihm die Diakonie-Anstalten in dem Städtchen Bad Kreuznach die Möglichkeit zu erfolgreicher Arbeit als Urologe.

Daß seine Pionierarbeiten aus den Jahren 1929 bis 1931 nicht ohne Früchte geblieben waren, zeigte sich immer stärker: In amerikanischen Fachzeitschriften las er seinen Namen, und er erinnert sich heute mit Dankbarkeit, daß ihn die Basler Kinderklinik im Jahre 1949 als erste gastlich einlud, damit er dort der internationalen Weiterentwicklung der Dinge begegne, zu der er den Grundstein gelegt hatte.

Aber erst im Juli 1954 wurde ihm in Deutschland eine erste späte Anerkennung für seine Arbeit zuteil, als ihm die Deutsche Akademie der Wissenschaften in (Ost-)Berlin die Leibniz-Medaille verlieh. Im selben Jahr konnte er in Westdeutschland auf dem Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie einen ausführlichen Vortrag halten. Thema: »Geschichtliche Entwicklung und Methodik der Herzkatheterung.«

Aber als ihn am 18. Oktober die Verleihung des Nobelpreises ins Schlaglicht des Weltruhms tauchte, war sein Name noch immer nur einigen Fachleuten bekannt.

Vom 10. bis zum 14. September hatte in Stockholm der Europäische Kardiologische Kongreß stattgefunden. Auf dieser Tagung hatten einige Herzspezialisten auch Referate über die Bedeutung des Herzkatheters für die genaue Diagnose von Herzkrankheiten gehalten, die führende Mediziner Schwedens zu der Überzeugung brachten, daß dem Begründer dieses Verfahrens ein Teil des diesjährigen Nobelpreises für Medizin zugesprochen werden müsse.

Schon im vergangenen Jahr war Forssmann gemeinsam mit den beiden amerikanischen Ärzten, die seine Methode weiterentwickelt haben, als Nobelpreis-Kandidat vorgeschlagen worden (wenn auch unbekannt blieb, wer die Vorschläge eingebracht hatte, da das Nobelkomitee die Namen der Vorschlagenden nicht bekanntgibt).

Schwedische Mediziner, denen die Kandidatur der Herzspezialisten bekannt war, hielten es für sehr fraglich, daß die drei für ihre Arbeiten den Nobelpreis erhalten würden. Man glaubte annehmen zu können, daß die Mitglieder des Nobelkomitees schwierige Laboratoriumsentwicklungen höher bewerten und den Gedanken, eine dünne Röhre durch eine Vene in das Herz einzuführen, als »zu einfach« ansehen würden.

Nachdem sich das Komitee nun entgegen allen Erwartungen entschlossen hatte, die drei Ärzte auszuzeichnen, erklärte der Präsident des Kardiologischen Kongresses: »Zum erstenmal erhalten wahre Ärzte den Preis. Es ist bemerkenswert, daß das Institut klinische Forschungsarbeit auszeichnete, nachdem es zuvor nur Grundlagenforschungen gewürdigt hatte. Es ist auch bemerkenswert, daß die diesjährigen Preisträger alle neben ihrer Forschungsarbeit vor allem ihren ärztlichen Beruf ausüben.«

Nun, da seine Arbeit durch die höchste Ehrung anerkannt worden ist, die einem Wissenschaftler verliehen werden kann, möchte Dr. Forssmann endlich zu jener wissenschaftlichen Arbeit zurückkehren können, »der schon immer mein Herz gehörte«.

In Frankfurt am Main meinte Dr. Gürsching, der einstige Kollege Forssmanns an der Berliner Charite, in der vergangenen Woche: »Die Universitäten haben noch einiges an Forssmann gutzumachen. Es wäre sehr zu wünschen, wenn eine westdeutsche Universität ihm jetzt eine Wirkungsmöglichkeit gäbe.«

Und Dr. Peter Romeis, der Augenzeuge und Assistent der Forssmannschen Versuche, sagte am letzten Dienstag in Bad Nauheim: »Ich bin eigentlich erstaunt, daß ihm seit der Nobelpreisverleihung nicht längst irgendeine deutsche Universität diese Wirkungsmöglichkeit gegeben hat.«

* Die Venen, die das Blut zum Herzen zurückführen, sind mit Klappen ausgestattet, damit das Blut, das aus den Tiefen des Körpers aufsteigt, nicht zurückfließen kann.

* Aber im Krieg schweigen die Musen.

Nobelpreisträger Forssmann: Selbstversuch in der Mittagspause

Mediziner Hunter, Pettenkofer, Obermeier: Selbstversuche mit Syphilis und Cholera-Bazillen Mediziner Lazear, Taute, Bier: Selbstversuche mit Moskitos und ein Stich in die Wirbelsäule

Student Forssmann

Zweifel an der Herz-Diagnostik

Chirurg Sauerbruch (M.): Zweifel an Forssmanns Entdeckung Amerikanischer Nobelpreisträger Cournand Die Entdeckung eines Deutschen...

Amerikanischer Nobelpreisträger Richard

...wurde im Ausland weiterentwickelt

Röntgenbild des Selbstversuchs (1929): »Ein Gefühl leichter Wärme«

Forssmann-Freund Dr. Romeis

Warnung vor dem »verwegenen Spiel«

Familie Forssmann: »Zum erstenmal erhielt ein wahrer Arzt den Preis«

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