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JUSOS / SPD Sozusagen die Macht

aus DER SPIEGEL 10/1971

Sie wollen nur das Beste: ein Sicherheitsauto entwickeln; die Zahl der kostenlosen Schwangerschaftsuntersuchungen »von drei auf mindestens sieben« erhöhen; die Steuer für Essig und Zündwaren, Salz und Schaumwein streichen; Akkordarbeit verbieten.

Es soll keine Beamten mehr geben und keine »Steuerflucht in die außerhalb des Staates liegenden Steueroasen«. Vorschulerziehung »muß staatlich, kostenlos und obligatorisch für alle drei- bis fünfjährigen Kinder werden«, und in den Städten sind »eigene Fahrspuren für öffentliche Verkehrsmittel, Polizei, Feuerwehr, Abschleppfahrzeuge usw.« einzurichten.

Die Jungsozialisten der SPD fordern den Abbau von Subventionen -- wie schon Franz Josef Strauß, als er noch Finanzminister war. Sie wollen die gleitende Arbeitszeit einführen -- was viele Fabrikherren längst in ihren Betrieben praktizieren.

Sie propagieren überbetriebliche Gewinnbeteiligung -- was ähnlich Bruno Gleitze, ehemaliger Chef des gewerkschaftseigenen Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts, schon vor 14 Jahren empfahl. Sie verlangen eine Fusionskontrolle -- die der geistige Ziehvater der sozialen Marktwirtschaft, Walter Eucken, bereits vor mehr als zwanzig Jahren vorschlug.

»In allen Krankenhäusern ist die Unterteilung der Patienten in Kassenpatienten und Privatpatienten grundsätzlich abzuschaffen« -- eine Idee, auf die der SPD-Landrat von Hanau, Martin Woythal, auch schon gekommen war. Und endlich soll nun auch die DDR anerkannt werden -- ein Gebot, für das sich Befürworter in allen Bonner Parteien finden.

Einig in der Sache scheinen sich die Jungsozialisten vor allem mit vielen Genossen in der eigenen Partei -- auch dann noch, wenn geplante Reformen »systemdehnend« oder gar »systemverändernd« (Juso-Jargon) wirken. Frankfurts Oberbürgermeister Walter Möller konstatierte: »Helfen kann nur eine Vergesellschaftung des Grundbesitzes in den Großstädten.« Hannovers Oberstadtdirektor Martin Neuffer, Vorsitzender des Arbeitskreises Stadtentwicklung des Deutschen Städtetages, forderte gar, daß alle nicht »eigengenutzten« Grundstücke langfristig »grundsätzlich an die Gemeinden zu übertragen« seien.

Der Münchner Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel kam sogar früher noch als die Jungsozialisten zu dem Schluß, daß in der Bundesrepublik die Steigerung von Produktion und Profit zum »Götzen« geworden sei. »Es ist an der Zeit«, so Vogel, »das Sy-

* Juso-Autoplakette.

stem in seine Schranken zu weisen und schrittweise zurückzudrängen.«

So schien für den Münchner Oberbürgermeister wie für viele andere Sozialdemokraten zu gelten, was Juso-Vorstandsmitglied Wolfgang Roth so formulierte: »Vogel ist kein Juso, aber das kommt allmählich.«

Doch letzte Woche zerstoben solche Hoffnungen.

»Eine Detonation jagt die andere, allein nicht von Schüssen wider den politischen Gegner«, ließ Vogel erklären, »sondern von inneren Explosionen zu ihrem eigenen schweren Schaden.« Wunderte sich der Mainzer Jungsozialist Hartmut Fischer: »Das ist ja ein Witz. Vogel ist doch der linkeste OB, den wir in der Bundesrepublik haben.«

»Sie wollen weg von der Volkspartei des Godesberger Programms«, warnte Vogel, der wegen seiner Querelen mit den Roten 1972 nicht wieder Bürgermeister werden will. »Sie wollen eine Re-Ideologisierung der Partei Im marxistisch-leninistischen Stil ... mit revolutionärer Grundtendenz.« Sie sprechen die Sprache »kommunistischer Agitatoren«, sie haben sich »sogar ein eigenes Büro zugelegt«.

Vogels Worte -- wohl nicht nur um der Partei, sondern auch um des eigenen Geschicks willen gesagt -- markieren den plötzlich aufgebrochenen Konflikt in der Partei. Jungsozialisten und gestandene Genossen marschieren zwar nach demselben Kompaß, doch mit unterschiedlicher Marschzahl auf verschiedene Endziele. Denn es erweist sich, daß es nicht dasselbe ist, wenn zwei von Null-Tarif und klassenlosem Krankenhaus, von Mitbestimmung und Enteignung reden.

Wenn Jungsozialisten von Mitbestimmung reden, dann meinen sie nicht, so steht es in ihren »Bremer Beschlüssen« von Ende 1970, »die Partnerschaftsideologie zwischen Kapital und Arbeit«, sondern das »Mittel zur Erringung von mehr Macht für die Arbeitnehmer ... um die Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus zu schaffen«.

Wenn Jungsozialisten von Enteignung reden, denken sie nicht nur an städtebauliche Planungsvorteile, sondern weit darüber hinaus an die »Abschaffung ... privater Verfügungsgewalt über Produktionsmittel durch gesellschaftliche Verfügungsgewalt« -- die »effizienteste Möglichkeit, gegen das System vorzugehen«.

Selbst gängige Programmpunkte wie Null-Tarif und klassenloses Krankenhaus und scheinbar so wertfreie Projekte wie der Fortfall von Essig- und Schampussteuer sind taktische Teile des großen Planes für eine Revolution, die notwendig sei -- weil »die Verfilzung der verschiedensten subjektiven Interessenlagen quer durch die Klasse ... eine radikale Veränderung« momentan nicht zuläßt.

Das klingt nach Umsturz, den Christdemokraten schon immer zu prophezeien wußten und wovon viele Genossen nichts wissen möchten. Und so passierte es, daß Sozialdemokraten und Unionschristen unversehens in die gleiche Mundart verfielen.

»Es ist fünf vor zwölf«, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Klaus-Peter Schulz, Rechtsaußen der rechtsgestimmten West-Berliner SPD gleich nach dem Vogel-Eklat. Und schon früher hatten er und andere Alarm geschlagen. Schulz: »Wir haben die Todfeinde der Demokratie wie des freiheitlichen Sozialismus längst in den eigenen Reihen.« Und er sah gar Barrikadenkämpfe mit Linken und Linke »als unsere Wächter in neuen Konzentrationslagern«.

Kanzler-Berater Leo Bauer, vormals Mitglied der SED, konstatierte: »5000 Apo-Leute haben den (Juso-)Verband unterwandert und umgedreht« -- was den Juso-Sympathisanten Joachim Steffen, Schleswig-Holsteins SPD-Chef, zu der Replik veranlaßte: »So eine Verschwörertheorie kann nur einem ehemaligen Kommunisten einfallen.«

Einfälle ähnlicher Art kamen nur noch Bayerns Christlichen Sozialen. Für sie sind Jungsozialisten »hirnverbrannte Phantasten«, die SPD Insgesamt ein »rotes Freibeuterschiff« (so der Münchner CSU-Pressedienst). Und CSU-Chef Strauß sieht diesen Staat schon in den Händen roter Usurpatoren: »Es besteht die Gefahr, daß ein Regierungswechsel in Bonn auf einwandfreiem demokratischem Wege wegen der Aufhetzung von gewisser Seite schwierig, wenn nicht unmöglich gemacht wird.«

Durch solche Zwischenrufe von rechts und den sichtbaren Versuch, dem Volk nach den unsichtbar gewordenen Bartträgern vom SDS einen neuen linken Popanz vorzuzeigen, wurden Bonns Sozialdemokraten gewahr, daß der innerparteiliche Konflikt der SPD im Lande Schaden zufügen mußte. Allen voran mühte sich Kanzler Brandt, aus dem Donnerschlag ein fernes Grollen zu machen. Spontan fand er: »Das Problem müssen wir jetzt lösen«; dann: »Das Ist eine lokale Angelegenheit.«

Den Sozialdemokraten kam der neu entfachte Kurskampf zu diesem Zeitpunkt höchst ungelegen -- nach dem Abschluß der Ostverträge, die der Partei den Vorwurf der Kommunisten-Kumpanei eintrug; während einer Regierungsperiode« die von Wirtschaftswidrigkeiten und glücklosen Reformrangeleien bestimmt wird; vor Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz, West-Berlin und Bremen und schließlich den Bundestagswahlen im Jahre 1973.

»Wir müssen aufpassen«, warnte der Düsseldorfer Wissenschaftsminister Johannes Rau (der schon fürchtet, bei einigen Genossen ersetze »die Magensäure zur Zeit die Gehirnzellen"), »daß manche Ideologie mancher Jungsozialisten nicht mit der Politik der SPD verwechselt wird. Sonst geht es 1973 schief.«

Befürchten muß die Partei in der Tat, daß ihr Wähler dort verlorengehen, wo sie womöglich am meisten hinzugewinnen könnte: Im Mittelstand (bei Beamten und Angestellten), für den die SPD sich in den letzten Jahren zunehmend wählbarer erwiesen hatte. Und damit dieser Genosse Trend auch künftig zur Seite steht, empfahl der Genosse Heinz Kühn, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, ein Patentrezept: Die indoktrinierten Jusos »muß man eben ausschließen. Dann verlieren wir links ein Prozent und holen auf der anderen Seite zehn«.

In der Tat: Im Streit zwischen Vogel und den Jungsozialisten steht die große Mehrheit der Bundesbürger auf der Seite des Establishments. Wie eine SPIEGEL-Blitzumfrage (siehe Kasten Seite 22) ergab, sympathisieren 70 Prozent der Befragten mit dem Bürgermeister aus München und nur 13 Prozent mit den Jusos. Mehr als die Hälfte glauben, daß die SPD Ihre Wahlchancen verbessern könnte, wenn sie sich öffentlich von den Jungsozialisten distanziert.

Die SPD-Wähler reagierten nicht anders. Auch sie ließen sich vom SPD-Nachwuchs verschrecken: 73 Prozent votierten für Vogel, ganze 16 Prozent für die Jusos, und auch unter den SPD-Sympathisanten fand sich eine deutliche Mehrheit für öffentliche Distanzierung der Sozialdemokraten von den Jungsozialisten. Und sollte sich die SPD-Jugend in ihrer Partei gar durchsetzen, dann wären, so die Umfrage, 46 Prozent des sozialistischen Wähleranhangs nicht mehr bereit, für die Sozialdemokraten zu stimmen.

Immerhin: Auch durch einen Ausschluß der Jusos aus der Partei könnte die SPD Stimmen verlieren. Zwanzig Prozent der befragten SPD-Anhänger erklären, daß sie die Brandt-Partei dann nicht mehr wählen wollen -- allen voran potentielle SPD-Wähler im Juso-Alter, von denen dann jeder dritte abspringen will. Denn jeder zweite SPD-Anhänger zwischen 18 und 29 meint, daß die Jusos recht haben und die Gesellschaft verändert werden muß; nur jeder dritte in dieser Altersgruppe findet die Ziele der Jusos »zu radikal«.

Ob stete Reform die schädlichen Wirkungen des Kapitalismus beheben oder ob das wahre Leben erst jenseits dieser Gesellschaftsform beginnen kann, darüber hatten schon in den SPD-Gründerjahren staatsbewußte Lassalleaner und klassenbewußte Marxisten ebenso gestritten wie später die Reformer um Eduard Bernstein und die Revolutionäre um Rosa Luxemburg.

Oftmals entbrannte der Konflikt an ideologischen Differenzen zwischen linker Partei-Jugend und gemäßigtem Partei-Establishment. So attackierte der 1919 ermordete Karl Liebknecht die SPD-Bürokratie: »Die Jugend den Regierungssozialisten und Ihrem korrumpierenden, vorrottenden Einfluß überlassen wäre schlimmer als der Verlust der parlamentarischen Mandate.

Auch in der Weimarer Republik hatten die Sozialdemokraten Schwierigkeiten mit ihren Jugend-Organisationen: der »Sozialistischen Arbeiter-Jugend« (SAJ; für 14- bis 20jährige) und den »Jungsozialisten« (für 20- bis 25jährige). Die Jungsozialisten warfen ihrer Parteiführung die »Verwässerung des revolutionären proletarischen Klassenkampfes« vor; und 1931 strich die SPD auf Antrag des damaligen SAJ-Reichsvorsitzenden Erich Ollenhauer den Weimarer Jusos die Gelder. Ein Teil der Parteijugend verließ die SPD und gründete 1931 eine neue, die »Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands«, zu der auch Willy Brandt gehörte.

Juso-Chronist Gert Börnsen -- in seiner Schrift »Innerparteiliche Opposition« -- über das Verhältnis von SPD und SPD-Jugend vor 1933 und nach 1945: »Erstaunliche Analogien.«

Zu Sanktionen genötigt glaubte sich Deutschlands Sozialdemokratie auch nach dem Kriege, als sie sich 1961 vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund trennte, der später zur Keimzelle der revoltierenden Apo wurde. Die anfangs parteitreue Ersatzorganisation, der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB), geriet binnen vier Jahren zum SDS-Nachfolger -- sie distanzierte sich von der Volkspartei-Ideologie und paktiert heute an den Universitäten mit der kommunistischen »Spartakus«-Gruppe.

Übrig blieben die Jungsozialisten, zu denen alle Parteimitglieder bis zu 35 Jahren gehören, rund 200 000. Sie versammeln sich In »Arbeitsgemeinschaften«. In vielen Ortsvereinen, in allen Unterbezirken und Bezirken sind sie dabei. Sie wählen einen eigenen Bundesvorstand und geben eigene Zeitungen heraus.

Wie in der Mutter-Partei besucht auch bei den Jusos nur eine Minderheit regelmäßig die Versammlungen -- etwa jeder zehnte. Aber anders als bei den Alten finden sich bei den Jusos kaum bloße Konsumenten, die nur zuhören und gesehen werden wollen. Wer zu den Jusos geht, zählt in aller Regel zu jener schmalen Genossen-Schicht, die mitbestimmen will.

Die Jungsozialisten, die heute alte Genossen mit Formeln wie »systemsprengende Reform« und »antikapitalistische Strategie« verschrecken, waren bis vor zwei Jahren noch eine zuverlässige Truppe sozialdemokratischer Musterschüler.

In den fünfziger Jahren begnügten die Jusos sich mit parteikonformer Schulung und Wahlhilfe. Am Streit um das Godesberger Programm, das Deutschlands Sozialdemokratie zu einer Volkspartei machen sollte, nahmen sie nicht teil. Sie beschränkten sich auf Applaus für den auf bürgerliche Reputation zielenden neuen Kurs und glaubten, so Steffen, daß die Partei »nur noch die richtigen Reklamefachleute braucht«.

Mehr an Karriere als an Konflikten interessiert, versuchten die Jungsozialisten sich durch »Verzicht auf Jede politische Selbständigkeit« (Börnsen) für den gehobenen Parteidienst zu qualifizieren. Mit Erfolg: Von den acht Bundesvorsitzenden und Bundessekretären des Nachwuchs-Verbandes zwischen 1964 und 1969 brachten es sieben zu Bundestags-Mandaten, einer von ihnen, Holger Börner, zum Parlamentarischen Staatssekretär Im Bonner Verkehrsministerium, ein anderer, Hans-Jürgen Wischnewski zum Bundesminister und SPD-Bundesgeschäftsführer.

In den sechziger Jahren, als Junge Union und Jungdemokraten sich durch Attacken gegen CDU und FDP hervortaten, mokierten sich selbst bürgerliche Blätter über die betuliche SPD-Jugend. »Die Zeit": »Nein, Rebellen werden bei den Jungsozialisten nicht gezüchtet.« »Christ und Welt": »Nein« die Jungsozialisten eignen sich nicht zu Rebellen.«

Erst der Aufruhr der Studenten löste sie allmählich aus der Parteifrömmigkeit. Doch zunächst agierten sie noch vorsichtig. Während Apo und Studenten gegen Notstandsgesetze und Vietnam-Krieg auf die Straße gingen, verstanden sich die Jungsozialisten im Dezember 1967 zu einer Resolution für die Anerkennung der DDR.

Bei den Straßenschlachten zwischen Polizei und Studenten und den Apo-Aktionen gegen den Springer-Konzern nach dem Attentat auf Rudi Dutschke Im April 1968 aber fühlten sich die jungen. Sozialdemokraten zu den Rebellen hingezogen. Auf dem Münchner Juso-Kongreß im Dezember 1969 schließlich entdeckten die jungen Sozis den Sozialismus, von dem in der Partei lange nicht gesprochen worden war. Mit einem neuen Vorstand -- erster Vorsitzender der Polit-Pädagoge Karsten Voigt, 29 -- verabschiedeten sie Beschlüsse, die den rechten Sozialdemokraten und MdB Hermann Schmitt-Vockenhausen zu der Einsicht brachten: »Das kommt davon, wenn man das dumme Geschwätz laufen läßt, weil man sich mit den jungen Herren nicht anlegen will.«

Die linken Genossen forderten, daß »eine sozialdemokratisch geführte Regierung alle Ihre Handlungen an den Bedürfnissen einer kommenden sozialistischen Gesellschaft« zu messen habe. Ihr Programm: eine Strategie der systemüberwindenden Reformen, die schlüssig von dem französischen Sozialisten Andre Gorz in den sechziger Jahren formuliert worden war.

Die Gorz-Theorie beruht auf zwei Grundsätzen:

* Der Kapitalismus ist das entscheidende Hindernis für die Verwirklichung einer humanen Gesellschaft;

* der Kapitalismus ist jedoch so lebenskräftig« daß er nicht in einem revolutionären Kraftakt überwunden werden kann.

Deshalb gilt es nach Gorz, durch Strukturreformen »Breschen in den Kapitalismus« zu schlagen, »innerhalb des bestehenden Systems neue Perspektiven aufzutun«, »Machtpositionen zu erobern«, in denen sich die Arbeiterbewegung »auf die Leitung der Gesellschaft vorbereiten« kann, und Reformen so zu gestalten, daß sie die Massen für sozialistische Ziele mobilisieren können.

Die Jusos übersetzten die Gorz-Thesen am Beispiel Mitbestimmung: »In diesen Kämpfen können die angedeuteten Ziele schrittweise verwirklicht werden. Jeder gelungene Schritt bedeutet eine Ausweitung der Macht der Arbeiter und Angestellten. Er ist Ausgangspunkt für den nächstfolgenden Schritt. Am Ende eines solchen langen Prozesses, eines solchen langen Kampfes um Demokratisierung der Betriebe, steht der revolutionäre Sprung: Die Abschaffung des dann ausgehöhlten, erschütterten privaten Rechts auf Verfügung über Produktionsmittel.«

Während der Revolution in Etappen, so beschlossen die Jungsozialisten in München, soll

* »die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ... durch gesellschaftlich kontrollierte Organe übernommen werden«;

* sollen »die Großbanken, Kapitalsammelstellen sowie die Schlüsselindustrie (Stahl, Chemie, Energie usw.) ... verstaatlicht werden«;

* »mindestens 50 Prozent der ausgeschütteten und einbehaltenen Gewinne« in einen überbetrieblichen Kollektivfonds eingezahlt und »von den Vertretern der Arbeitnehmer verwaltet werden«.

Zwar bietet die sozialliberale Koalition in Bonn, kalkulieren die Jungsozialisten, »die Möglichkeit zur Durchsetzung überfälliger politischer Reformen«. Aber sie befürchteten,"daß schon bald retardierende Kräfte, auch innerhalb der SPD, diese schon reduzierte Hoffnung enttäuschen«.

Die Altvordern In der Bonner SPD-Baracke erteilten denn auch prompt der These der Partei-Junioren eine knappe Absage, daß die Verwirklichung der Mitbestimmung »über das Parlament allein nicht möglich« sei, sondern vor allem »in den realen Kämpfen an der Basis durchgesetzt« werden müsse. Ein solches Vorgehen, beschied der SPD-Bundesvorstand, »würde chaotische Zustände auslösen und fände in einem demokratischen Rechtsstaat kaum eine Grundlage«.

Ebensowenig mochte sich die Parteiführung mit den von Juso-Strategen nach dem »revolutionären Sprung« vorgesehenen Schritten befreunden. »Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel«, so der SPD-Vorstand, »als Lösung aller Probleme zu betrachten, ist zumindest eine einseitige, wenn nicht irrige Betrachtungsweise.« Zu mehr als dem Zugeständnis, »die Vergesellschaftung als letztes Mittel gegen Machtmißbrauch durch Monopole« zu bezeichnen, vermochten sich die Sozialdemokraten nicht durchzuringen.

Statt dessen hielt der SPD-Vorstand in seiner Antwort auf die Münchner Juso-Beschlüsse eine deutliche Warnung für angebracht: »Wer die gesellschaftliche Ordnung durch Umsturz ändern will, ist in der SPD am falschen Platz.« Und: »Wollten die Jungsozialisten einen anderen Weg gehen« als den vom SPD-Bundesparteitag »für alle Mitglieder der Partei verbindlich« bestimmten, »so müßten sie eine selbständige Jugendorganisation werden«.

Jungsozialist Wolfgang Roth, Mitglied des Juso-Bundesvorstandes« räumte während eines SPIEGEL-Gesprächs (siehe Seite 30) denn auch ein: »Das in München war vielleicht nicht ganz richtig durchdacht.«

In den 14 Monaten vom Juso-Kongreß in München bis zum Juso-Kongreß in Bremen am Ende letzten Jahres dachten die Jusos nach. An ihrem Fernziel hielten sie fest -- an der Umwälzung des kapitalistischen Systems in eine helle sozialistische Welt ("Die Vertretung der Lohnabhängigen muß in allen Entscheidungsinstitutionen absolutes Vorrecht haben"). Den langen Weg dahin markierten sie exakter: »Die Leute müssen doch vorher wissen« » so Juso-Chef Voigt, »was sich für sie alles verbessert, wenn die SPD allein regieren kann« -- jedenfalls, wenn es dann nach dem Willen der Jusos ginge. Der Parteinachwuchs forderte in Bremen beispielsweise:

* »Zugunsten der Ausweitung der dringend erforderlichen Gemeinschaftsinvestitionen für die gesellschaftlichen Bedürfnisse (Berufsausbildung, kostenlose Kindergärten zum Beispiel) ist das zukünftige Wachstum der privaten Investitions- und Konsumgüterproduktion einzuschränken.«

* »Die Geltendmachung des gesamten Werbeaufwandes für ausschließlich manipulative Reklame wird ersatzlos gestrichen (informative Werbung weiterhin absetzbar).«

* Die Staatseinnahmen aus der Einkommensteuer sollen um zehn Prozent steigen, »wobei der Spitzensteuersatz von 80 Prozent bei 200 000 DM erreicht wird«. > »Berufliche Freistellung eines Elternteils mindestens bis zum Abschluß des ersten Lebensjahres ihres Kindes mit entsprechender finanzieller Absicherung.«

Damit möglichst viele Bundesbürger sich gemeinsam mit den Jusos auf den langen Weg machen, wollen sie künftig weniger unter Gleichgesinnten theoretisieren, sondern mehr an der Basis praktizieren. »Ihre Hinwendung zum Konkreten, zur verständlichen Sprache, zur exakten theoretischen Fundierung Ihrer praktischen Politik«, so schwant der »FAZ«, »macht die Jungsozialisten auf lange Sicht womöglich gefährlicher als bisher. Jetzt wird es ernst.«

Beginnen wollen sie, wie sie In einem 153 Selten starken »Entwurf

* Sympathiekundgebung von Arbeitern, Angestellten und Beamten des städtischen Schlacht- und Viehhofes für OB Vogel am Donnerstag letzter Woche.

zum Kommunalpolitischen Arbeits-Programm« niedergelegt haben, bei den »Defekten, die die Bevölkerung selbst erkannt hat« -- Mietwucher, Wohnungsnot, Verkehrschaos und, vor allem, beim Mangel an kommunalen Einrichtungen -- vom Kindergarten bis zum Krankenhaus, vom Jugendzentrum bis zum Altersheim.

Die Bürger sollen aber auch erfahren, warum das alles so im argen liegt -- wegen des Kapitalismus, wie die Jusos erkannt haben wollen: Die Städte-Misere resultiere aus dem Bodenrecht, das wenigen Groß-Grundeignern auf Kosten der Allgemeinheit Millionen-Profite beschere, und aus der Eigenart privatwirtschaftlich organisierter Staaten, der Befriedigung von Verbraucher-Wünschen Vorrang vor der Deckung des öffentlichen Bedarfs einzuräumen.

Auch Stadtplanung und Städtebau sehen die Jusos überwiegend von Kapital-Interessen beeinflußt. In der Tat werden, wie der jüngste »Städtebaubericht« der Bundesregierung registriert, »große Investoren und auch die Grundstückseigentümer ... in der Planungspraxis früher und intensiver eingeschaltet als die übrige Bevölkerung«.

Um den Lernprozeß einer Bevölkerung zu beschleunigen, die nach der Erkenntnis von Jungsozialisten kommunalpolitischen Fragen zumeist mit »Fatalismus und Apathie« gegenübersteht, wollen die Jusos künftig »umfassende Konfliktsituationen« provozieren. Beispiel: die Besetzung leerstehender Häuser durch Frankfurter Linke -- eine Aktion, mit der die Widersprüche zwischen dem Grundrecht der Hausbesitzer und dem Grundrecht der Bürger auf Wohnung zum erstenmal einer breiten Öffentlichkeit bewußt gemacht wurden.

Nach diesem Provokations-Modell wiesen schleswig-holsteinische Jungsozialisten unlängst auf den Widerspruch zwischen dem Anspruch der Allgemeinheit auf Erholungsgebiete und dem Privatbesitz an Wäldern hin. Bei strömendem Regen zogen 300 Wanderer, voran der Kieler Juso-Chef Peter Kruse, mit einer roten Fahne durch den für die Bevölkerung weithin gesperrten Sachsenwald des Fürsten Otto von Bismarck. Text eines mitgeführten Plakats: »Haut den Bismarck auf den Hering«.

Um auf Ihre verkehrspolitischen Vorstellungen -- Verlagerung des Berufsverkehrs auf attraktive öffentliche Verkehrsmittel mit niedrigen Preisen bis hin zum Null-Tarif -- hinzuweisen, erwägen die nordrhein-westfälischen Jusos eine »Aktion Roter Punkt«, ähnlich wie vor zwei Jahren erfolgreich in Hannover.

Gegen den Mangel an »Folgeeinrichtungen« In Neubaugebieten -- vom Sportplatz bis zur Sandkiste -- starteten Jusos in Kiel, Lübeck, Eutin und Pinneberg eine Aktion »Kinder -- lauf t auf den Rasen«. Auf einem gelben Flugblatt des Juso-Landesvorstandes hieß es: »Spielt Fußball drauf und Verstecken hinter den Sträuchern.« Über den Neue-Heimat-Rasen des Kieler Neubau-Stadtteils Nettenhof liefen Kinder mit roten Fahnen. Die »Neue Heimat« gab darauf die Rasenflächen ihrer Anlagen in ganz Schleswig-Holstein für Kinderspiele frei.

Aktionen dieser Art haben nicht zuletzt auch zum Ziel, Ressentiments in der Bevölkerung gegen Linke abzubauen. Kölner Jungsozialisten, die kurz vor Weihnachten letzten Jahres eine Beratungsstelle für Mieter eröffnet hatten, stießen auf eine »sehr, sehr große Resonanz«. Juso-Geschäftsführer Karl-Heinz Otten: »Galten wir bislang als Buhmänner, so haben die Leute gesehen, daß wir ganz vernünftige Sachen machen.«

In Berlin-Kreuzberg, wo Tausende von Bürgern durch Sanierungsmaßnahmen ihre Wohnung verlieren, eröffneten Jungsozialisten letzte Woche ein Mieterberatungsbüro. »Wir haben uns zum Ziel gesetzt, Fehlplanungen und Fehlentwicklungen darzustellen und alternative Lösungen vorzuschlagen.« In der schleswig-holsteinischen Gemeinde Großhansdorf helfen Jusos Schülern bei den Hausaufgaben. Im benachbarten Barsbüttel gründete die Jungsozialistin Ursula Kaack eine »Babysitter-Genossenschaft«.

Mitglieder des Hamburger Juso-Distrikts Hamm-Borgfelde verteilten Handzettel »an die Bewohner der Häuser Grevenweg 69 bis 73d und Elffestr. 382 bis 390« und forderten die von der Kündigung bedrohten Mieter auf: »Schließen Sie sich zu einer Interessengemeinschaft zusammen!« Juso-Frage an die Mieter: »Warum gibt es denn überhaupt private Häuserbesitzer ...?«

Die Jusos wissen freilich, daß sie ihre langfristigen Ziele -- von der Vergesellschaftung des Mietwohnungsbaus über klassenlose Krankenhäuser bis hin zum Null-Tarif -- nur durchsetzen können, wenn es ihnen gelingt, unterstützt von einer mobilisierten Bevölkerung, Mehrheiten In politisierten Partei-Organisationen und schließlich auch in Parlamenten zu erringen.

Mit dieser »Doppel-Strategie« -- teils parlamentarisch, teils außerparlamentarisch -- folgen die kommunalpolitisch engagierten Jungsozialisten der Einsicht des Frankfurter Sozialpsychologen und Städtekritikers Professor Alexander Mitscherlich, der schon lange vor ihnen konstatiert hatte: »Nicht zu erwarten ist, daß die Institutionen der politischen Öffentlichkeit, also die Parteien, den Besitzstand antastende Forderungen erheben werden, solange sie nicht von der Wählerschaft unter Druck gesetzt werden.«

Für Druck sorgen derzeit die Partei-Junioren vor allem selbst: »Die Jungsozialisten«, so das Arbeitsprogramm, »nominieren ... soviel Kandidaten als möglich«, um auf diese Weise »eine mit der Mobilisierungsarbeit verknüpfte innerinstitutionelle Strategie« verfolgen zu können.

Ihre neue Strategie erprobten die Jusos zunächst in den SPD-Ortsvereinen, die weithin auf das Niveau von Stammtisch-Runden herabgesunken waren. Dort spielten die Genossen Skat oder Schafskopf, führten einander Dias vom letzten Urlaub vor und ließen sich über Renten belehren. In den Versammlungslokalen saßen damals oft weniger Genossen beisammen als Ortsvereins-Ämter zu besetzen oder Delegierte für die nächsthöhere Partei-Legislative zu wählen waren. Eine Handvoll diskutierender Jusos genügte häufig schon, um solche Basisgruppen umzukrempeln und von Vorstandsloyalität auf Vorstandsopposition umzustimmen.

Wo die Altgenossen aktiver waren, verstärkten sich Jusos durch Mitglieder-Werbung unter Gleichgesinnten und organisierten Schlepperdienste für ihre Anhänger, um auf wichtigen Genossen-Meetings die notwendigen Mehrheiten zusammenzubekommen. Eine weitere, oft freilich überbewertete Juso-Taktik ist die »Mitternachts-Methode« (Parteijargon). Die unermüdlichen Jungaktivisten diskutierten so lange, bis die müden Traditions-Genossen zu Bett gehen, und setzten dann ihre Kandidaten und Resolutionen durch. Klügere Jungsozialisten allerdings versuchten diesen Trick nie. Denn sie sahen voraus, daß derart hintergangene Altgenossen auf diese Weise nur provoziert werden und die frisch gewonnene Macht mithin stets gefährdet Ist.

Den Juso-Taktikern fehlt es freilich in vielen SPD-Bezirken noch immer an Fußvolk -- so in Baden-Württemberg, wo die Jusos »noch nicht stark genug sind, um den Kampf aufnehmen zu können« (Landesvorsitzender Eberhard Lorenz); so auch In West-Berlin, wo sie immer noch »nur Sandkastenspiele machen« (Juso-Funktionär Adolf Straub).

Auch In Hamburg und Nordhessen beispielsweise mangelt es den Jusos an jenem Einfluß, über den sie etwa in Schleswig-Holstein, Hessen-Süd, Nordrhein-Westfalen, Südbayern und auch im Saarland verfügen, wo letztes Jahr Friedel Laepple, noch im Jungsozialisten-Alter, zum Landesparteichef gewählt wurde.

Wie solcher Einfluß in den Parteiorganisationen zu erringen ist, das exerzierten die beiden Bremer Genossen Olaf Diné und Gerd Settje schon zu einem Zeitpunkt vor, als die Münchner Jusos im Jahresbericht sich noch der »eigenen Initiative« rühmten, »in altertüml. Badeanzügen ... Reklame« für die Partei gemacht zu haben.

Diné und Settje ließen sich im Ortsverein Altstadt bereits ein Jahr nach Ihrem Parteieintritt 1963 zum Schriftführer und Kassierer wählen, rekrutierten im Juso-Treffpunkt« der »Lila Eule«-Bar, Partei-Nachwuchs und übernahmen schon 1966 »sozusagen die Macht« (Diné) im Ortsverein: Settje wurde Vorsitzender und blieb es bis 1970. Seither praktizieren die Altstadt-Genossen das rotierende Mandat -- die Vorstandsmitglieder wechseln einander in regelmäßigen Abständen In der Führung ab.

Anderswo setzte der Juso-Ansturm auf· Parteiämter später, dafür aber um so konzentrierter ein. So im freilich traditionell linken SPD-Unterbezirk Frankfurt, wo vor allem Jungsozialisten in den beiden letzten Jahren dafür sorgten, daß in nur elf von 44 Ortsvereinen Vorsitzende sich behaupten konnten, die schon seit 1967 amtierten. In sieben Ortsvereinen eroberten Jusos selbst den Vorsitz, in sieben weiteren stellen sie den Vize. Die Gewinne an der Basis schließlich machten es möglich, daß heute sieben Partei-Junioren im 15köpfigen Frankfurter Unterbezirksvorstand sitzen. Norbert Gansel, einstiger Juso-Bundesvize: »Viele kleine Unterwandererstiefel haben die SPD in Bewegung gebracht.«

Die Stiefel bekamen altgediente Genossen zu spüren. Im SPD-Bezirk Hannover bewerkstelligten Jusos mit hartnäckiger Kleinarbeit, daß Partei-Patriarch Egon Franke, heute Minister in Bonn, den 18 Jahre lang unangefochten behaupteten Vorsitz an den linken Peter von Oertzen abtreten mußte. Jungsozialisten der Niedersachsen-Hauptstadt verdarben Innenminister Richard Lehners die Landtags-Kandidatur, und derzeit wartet Hannovers Juso-Bezirkschef Herbert Schmalstieg, 28, auf seine Chance, jüngster Oberbürgermeister der Bundesrepublik zu werden.

In vielen Parteigremien und Parlamenten haben Jusos begonnen, ihre politischen Vorstellungen durchzusetzen. Bei der letzten SPD-Unterbezirkskonferenz in Düsseldorf beispielsweise wurden alle Anträge der Jungsozialisten, die nur 50 der 260 Teilnehmer stellten, angenommen -- darunter Resolutionen, die eine »Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktionsvermögen« oder ein »Wohnungsvermittlungs-Monopol« der öffentlichen Hand fordern.

»Nicht gegen die Alt-SPD, sondern mit ihr« ("Die Zelt") läuft die Entwicklung oftmals dort, wo die SPD, etwa wie in Südhessen, Ihrer linken Tradition treu geblieben ist. In Frankfurt, Offenbach, Darmstadt und Wiesbaden wurde mit Juso-Unterstützung in städtischen Betrieben und Wohnungsbau-Unternehmen die Mitbestimmung weitgehend schon eingeführt. In Schleswig-Holstein stifteten die zehn Bonner Abgeordneten des Landes 1000 Mark für Juso-Aktivitäten. Die Beschenkten unterstützen dafür den Landtagswahlkampf der Partei auf ihre Weise. An Jungwähler verteilen sie eine Schrift mit Forderungen wie:

* »Bauherren, die öffentliche Mittel bekommen, müssen die Mietermitbestimmung einführen.«

* »Langfristig muß die pharmazeutische Industrie vergesellschaftet werden.«

* »Die Bundesbahn schafft die zweite Klasse ab.«

»Natürlich«, sagt Jochen Steffen, »ist mitunter ein gewisser anarchistischer Anflug da, aber die Juso-Führungsgruppen sind natürlich für rationelle Argumente sehr aufgeschlossen. Und die große Mehrheit war immer für vernünftige Politik des Möglichen.«

In Nordrhein-Westfalen bekundet die SPD-Führung, daß es keine ernst zu nehmende Krise zwischen Partei und Jusos gebe. Vielmehr herrsche, so Landes-Vize Hans-Otto Bäumer, ein »gesundes Spannungsverhältnis« bei dem In der Regel die Tendenz zur konstruktiven Zusammenarbeit dominiert«. Freilich rät Bäumer den Jungsozialisten, »bei der Formulierung ihrer Zielvorstellungen klarer zu werden«. Und manche Jusos, wie NRW-Vorstandsmitglied Christoph Zöpel, geben zu, »daß wir versäumt haben, in der Partei ausreichend klarzumachen, was die sachlichen Gründe für unsere Forderungen sind«.

Krach hingegen gibt es dann, wenn Jusos Genossen indoktrinieren wollen, die bei Sozialismus sofort an die »Zone«, bei Sozialisierung sofort an die große Pleite denken. Krach gibt es auch, wenn lokale Partei-Honoratioren, die jahrelang unangefochten geherrscht haben, plötzlich angefochten werden. Oder wenn persönliche Pfründen bedroht scheinen, wie bei Ärzten etwa, die in die Partei gingen, um Im sozialdemokratisch verwalteten Kreiskrankenhaus Chef-Karriere zu machen, und die Jusos plötzlich klassenlose Hospitäler fordern.

Im nordrhein-westfälischen Oberhausen verbrachte Oberbürgermeister Luise Albertz, 69, »zwei schlaflose Nächte« und verkündete dann ihren Rückzug aus dem SPD-Unterbezirks-Vorstand. Ein paar Wochen zuvor hatten, wie die Alt-Genossin vermutete, »Jungsozialisten« in despektierlicher Weise die Frage nach der Albertz-Ablösung aufgeworfen: Im Schaufenster des Oberhausener Jugendklubs »K 14« hing ein Plakat mit der Frage: »Wer wird neuer Oberbürgermeister? Wünsche und Anregungen werden hier entgegengenommen.

Solche Konflikte häufen sich, seit sich die Jusos der Partei-Arbeit zugewandt haben. Solange sie nur Theorie-Debatten führten, wurde ihnen, so erinnert der nordrhein-westfälische Juso-Chef Manfred Dammeyer, 31, »wohlwollend auf die Schulter geklopft«. Seit sie aber auf kommunaler Ebene mit den etablierten Genossen konkurrieren, ist »die Kacke am Dampfen« (Dammeyer).

Korrumpiert, kleinkariert, karriereorientiert -- so erscheinen vielen Jusos in dieser Konfliktsituation alteingesessene Genossen. Düsseldorfs Juso-Vorstandsmitglied Hubert Maessen: »Die Partei hat jahrelang auf ihrem dicken Arsch gesessen, und jetzt ist sie sauer über die politische Arbeit der Jusos.«

Dogmatisch, fanatisch, psychopathisch -- so sieht mancher Sozialdemokrat das Partei-Jungvolk. Der bayrische SPD-Bundestagsabgeordnete Günther Müller zu Jusos: »Ihr macht diesen Staat kaputt.« Der Frankfurter Sozialdemokrat Dr. Hans Kiskalt über Jusos: »Leute, die sich interessant machen wollen.« Ein Alt-Genosse in der Wahlkreis-Konferenz Stormarn-Mitte zum Juso-Vormarsch: »Das ist dasselbe, als wenn der Ulbricht kommt.«

Um die vermeintlichen Ulbrichts zu stoppen, formieren sich allenthalben besorgte oder auch nur aufgeschreckte Sozialdemokraten: In Frankfurt schlossen sich Juso-Gegner schon im Sommer 1970 zu einem »Kreis der Freunde und Förderer des Godesberger Programms« zusammen -- mit dem Ziel, bei monatlichen Treffen »unsere Gedanken zu festigen und uns mehr Sicherheit zu geben«. Das brauchen sie auch. Denn die schweigende Genossen-Mehrheit, auf die sich die Anti-Juso-Fraktionäre gern berufen, bleibt in Versammlungen gewöhnlich stumm.

Auch in München hatte der Macht-Gewinn der Jusos die Gründung einer Sammlungsbewegung zur Folge: Im Mai letzten Jahres klagten 16 Genossen in einem Rundbrief über das Innerparteiliche »Bild der Zerrissenheit und Zerfleischung«. Die Briefschreiber, unter ihnen Partei-Prominente wie Ex-Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, versuchten ein Roll-back bei den Delegierten-Wahlen in den Sektionen: »Laßt euch nicht einschüchtern!«

Die Aussichten eher rechter Genossen, den wachsenden Juso-Einfluß zu stoppen, waren auch In München ungewiß -- so lange jedenfalls, bis ihnen OB Vogel mit Juso-Anklage und Rücktritts-Ankündigung zu Hilfe kam.

Über die wahren Motive für Vogels Abzwitschern freilich gibt es in Münchens SPD verschiedene Versionen -- auch noch nachdem sich in der letzten Woche OB-Gegner und OB-Gefolgschaft mit umfänglichen Dokumentationen bekriegt hatten.

Ein »Verein zur Verbesserung der Information und der Zusammenarbeit unter den demokratischen Sozialisten Münchens«, zu dessen 15 Mitgliedern Vogel zählt, warf dem Juso-nahen Unterbezirksvorstand »Störung realer Reformen« vor. Die SPD-Linken wiederholten Ihre These, der »Zampano maximus urbis et orbis« ("Juso-Information« über Vogel) ziehe sich aus der Stadtpolitik in Wahrheit deshalb zurück, weil er sich von der Partei in der souveränen Führung der 37 000 Stadt-Bediensteten gestört sehe und sich nach den Olympischen Spielen weitere Popularitätssteigerung eher in der Landespolitik versprechen könne als In der Isar-Metropole.

Dieses alles vorerst in der Schwebe, stürzte sich die Vogel-Truppe In der letzten Woche hektisch in die Vorbereitung der Machtübernahme in der Münchner SPD. Unter den Gleichgesinnten zirkulierte eine Unterschriftsliste gegen den linken Unterbezirks-Vorstand. Schon am Donnerstag hatten 130 Delegierte das Papier unterschrieben. Manche von Ihnen, die vor Genossen ihre Unterschrift nicht verweigern wollten, riefen hinterher beim Unterbezirk an: »Ich habe zwar unterschrieben, werde aber am Samstag ganz anders wählen.«

Für die Abstimmung am Samstag bereitete der Unterbezirk geheime Wahlkabinen vor, um freie Wahlen zu gewährleisten. Rund 100 der 214 Delegierten sind nämlich nach Feststellung des Unterbezirks gleichzeitig Angestellte der Stadt und damit direkte Untergebene Vogels. 300 Vogel-Angestellte -- vom städtischen Schlachthof -- gingen gar auf die Straße, um Solidarität mit ihrem Dienstherrn und Abneigung gegen die Partei-Linken zu bekunden. Auf einem Plakat rieten die Schlachter dem Partei-Nachwuchs: »Jusos, bleibt auf dem Teppich.«

Die Jungsozialisten auf dem Teppich zu halten ist heute, 15 Monate nach ihrem Münchner Linksruck, das Problem der SPD. Wieder einmal steht die Partei vor der Frage, ob sie nach altem Muster disziplinieren oder ihnen gestatten soll, von Vorstandsmeinungen abweichende Ansichten innerhalb und außerhalb der Partei zu vertreten.

Die Statuten bieten alle Möglichkeiten für Disziplinierung. Denn die Jungsozialisten sind durch die SPD-Satzung enger an ihre Partei gebunden als die Junioren der Unionschristen und Freidemokraten. Nach den Richtlinien der SPD sind die Jusos nur eine Arbeitsgemeinschaft wie etwa die sozialdemokratischen Ärzte, Lehrer und Juristen. Sie dürfen keine eigenen Beiträge kassieren, ihre Sekretäre sind Angestellte der Partei, und ihre Aktivitäten, wie beispielsweise Versammlungen oder Resolutionen, können von SPD-Vorständen verboten werden.

Zwar hatte die SPD-Hierarchie von diesen Kontrollrechten im letzten Jahr kaum Gebrauch gemacht. Nun aber -- seit dem Juso-Sprung In die Praxis -- besinnen sich Bezirksvorstände auf ihre Richtlinien-Kompetenzen. Ausgerechnet der SPD-Bezirk Hannover, dessen Vorsitzender, der niedersächsische Kultusminister Peter von Oertzen, seine Partei-Position den Jusos verdankt, versuchte Mitte Januar, die hannoverschen Jungsozialisten an die Kandare zu nehmen.

Der Bezirksvorstand beschloß: »Öffentliche Erklärungen der Jungsozialisten-Organe ... dürfen nur dann abgegeben werden, wenn diese Erklärungen vorher mit dem jeweiligen Parteivorsitzenden oder seinem Stellvertreter besprochen worden sind.«

Die schärfste Waffe der Partei im Richtungskampf gegen die Jusos aber ist der Münchner Anti-Kommunisten-Beschluß vom letzten November. Um den durch verbal-radikale Juso-Auftritte und durch die neue Ostpolitik aufkommenden Verdacht zu zerstreuen, die SPD könne sich womöglich mit den Kommunisten gemein machen, beschloß der sozialdemokratische Parteirat, allen SPD-Genossen die Zusammenarbeit etwa mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) oder der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) zu verbieten.

Die Jusos jedoch, die häufig schon bei Mieterkampagnen und Lehrlingsdemonstrationen mit Kommunisten gemeinsame Sache gemacht hatten, fühlen sich in besonderem Maße gegängelt. Sie wollen auf Diskussionen nicht verzichten, und bei Aktionen sind sie häufig gar nicht in der Lage, sich den Partner auszusuchen.

Der Hamburger Juso-Chef Dr. Jürgen Näther: »Ein paar Kommunisten sind bei öffentlich wirksamen Aktionen doch Immer dabei.«

Daß für Sozialdemokraten die Zusammenarbeit mit Kommunisten In vielen Fällen unvermeidlich ist, mußte auch die SPD-Führung zugeben. Willy Brandt auf dem Bremer Juso-Kongreß: »Wo Kommunisten beispielsweise in Betriebsräte, Gewerkschaftsleitungen oder Gemeinderäte gewählt wurden, Werden die Sozialdemokraten selbstverständlich nicht das Feld räumen.«

Marburger Jungsozialisten beschlossen, Ihre »Zusammenarbeit mit sozialistischen Organisationen konsequent fortzusetzen«. Die Jusos in Ostholstein verbaten sich »jede derartige Gängelung mündiger Parteigliederungen«. Der Juso-Bezirk Ostwestfalen-Lippe verurteilte den Beschluß »angesichts der Formierung der Rechtskräfte als unverantwortlich«, und die südhessischen Jungsozialisten schließlich forderten »Aktionsgemeinschaften mit Kommunisten dort zu praktizieren, wo es einer Politisierung der Lohnabhängigen dient«.

»Punktuelle Zusammenarbeit zur Mobilisierung der Massen« halten Jungsozialisten -- wie etwa im Bezirk Weser-Ems -- nach wie vor dort für notwendig, wo »Sozialdemokraten und Kommunisten einer Meinung sind (z. B. Mietpreisentwicklung, Preisdruck der Monopole)«. Befürchtungen, daß Jusos auf »Volksfront-Ideologen« (so Hans-Jürgen Fip, Inzwischen zurückgetretener Juso-Chef im Bezirk Weser-Ems) hereinfallen und sich für Ziele der Kommunisten einspannen ließen, hält Juso-Chef Voigt für ungerechtfertigt: »Denen sind wir allemal noch gewachsen.«

Auch die Hamburger Jungsozialisten, die am Donnerstag vorletzter Woche Im örtlichen DKP-Kreisbüro mit den geächteten Genossen das Thema »Demokratie und Sozialismus« diskutiert hatten, fühlten sich gewachsen. Doch obwohl selbst der Bericht eines V-Mannes aus dem SPD-Landesvorstand ausweist, daß DKP-Thesen »von den anwesenden Teilnehmern der Jungsozialisten heftig kritisiert« worden waren, machte die Hamburger SPD-Spitze »einen schweren Verstoß gegen die Grundsätze der Partei« aus und leitete gegen fünf Jusos »Parteiordnungsverfahren mit dem Ziel des Ausschlusses« ein.

Ohne »den »Fall Vogel'«, freilich, so vermutete Springers Lokalorgan »Hamburger Abendblatt«, wäre der Hamburger Vorgang »vermutlich parteiintern unter den Tisch gekehrt worden«. Daß an der Elbe Indes das »Alarmsignal von der Isar richtig verstanden« wurde (so das »Abendblatt"), befürchtet auch Hamburgs Juso-Chef Näther: »Es besteht der Verdacht, daß die SPD den starken Mann herauskehren möchte.«

Der starke SPD-Mann Innensenator Heinz Ruhnau bestätigte prompt den Verdacht: »Wenn die Grenzlinie zwischen SPD und DKP aufgehoben wird, hört das Verständnis auf.« Anfangen könnte, so fürchten denn auch Linke wie der hannoversche Landtagsabgeordnete Wolfgang Pennigsdorf, eine »Psychose, sich nach links abgrenzen zu wollen«. Pennigsdorf: »Es wird so eine Art Kommunisten-Hatz oder Sozialisten-Hatz veranstaltet werden, wenn die Partei den Schmitt-Vockenhausens und den Lebers nachgibt.«

Doch sosehr den Genossen in der Bonner Baracke und in den Vorstandszimmern der Landesverbände die Tuchfühlung an der Volksfront auch mißfallen und sowenig sich ideologischer Radau in ihr Regierungskonzept einzufügen vermag -- kein führender Genosse denkt gegenwärtig ernsthaft daran, den Juso-Kader zu zerschlagen.

Die Auflösung oder die Abspaltung von der Partei brächte beiden Verlust: Den Jusos würde die Chance genommen, in und mit der Partei zu wirken, der SPD würde nicht nur das letzte Nachwuchs-Reservoir, sondern auch die aktivste Wahlhelfer-Truppe bei den rund fünf Millionen Erstwählern der nächsten Bundestagswahl abhanden kommen.

Solche Konsequenzen könnte die SPD-Bürokratie auch nur dann ziehen, wenn es ihr gelänge, dem ganzen Juso-Verband -- etwa wegen Nichtbeachtung des Anti-Kommunismus-Beschlusses -- parteischädigendes Verhalten oder beharrliche Mißachtung des Godesberger Grundsatzprogramms nachzuweisen.

Bei diesem Nachweis aber tut sich die Partei schwer. Gleich nach dem Bremer Kongreß hatte der Bonner Vorstand drei Referenten beauftragt, die Juso-Resolutionen abzuklopfen. Ergebnis: erhebliche Abweichungen von den SPD-Prinzipien in der Wirtschaftspolitik, doch keine eindeutigen Verstöße gegen das Godesberger Programm.

Die Jungsozialisten hatten das vorausgesehen. »Was wir fordern«, so listig Karsten Voigt, »wird vom Godesberger Programm voll gedeckt; allerdings interpretieren wir dieses Programm vielleicht etwas anders als einige unserer Kritiker.« Und tatsächlich bietet die Godesberger SPD-Fibel viele Möglichkeiten der Exegese.

Als die Jungsozialisten auf ihrem Münchner Kongreß langfristig forderten, »die private Verfügungsgewalt über Produktionsmittel« müsse durch »gesellschaftliche Verfügungsgewalt ersetzt« werden, konnten sie sich ebenso auf eine Formel im SPD-Grundgesetz berufen wie der Parteivorstand auf seine andere Lesart.

Zwar regelt das Programm: »Das private Eigentum an Produktionsmitteln hat Anspruch auf Schutz und Förderung, soweit es nicht den Aufbau einer gerechten Sozialordnung hindert.« Gleichzeitig aber schreibt es vor: »Wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht gewährleistet werden kann, ist Gemeineigentum zweckmäßig und notwendig.«

Die Jusos gehen von der Voraussetzung aus, daß »andere Mittel« auf die Dauer nicht ausreichen. Doch der SPD-Bundesvorstand meinte am Freitag letzter Woche, in Bremer Juso-Beschlüssen Verstöße gegen das Godesberger Programm feststellen zu können. Zu Parteifeinden mochte er die Jungsozialisten gleichwohl nicht erklären.

Willy Brandt: »Jedenfalls bin und bleibe ich dafür, der Auseinandersetzung mit kritischen, auch sehr kritischen jungen Menschen nicht auszuweichen.«

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