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Kabinett »Späne im Kraftfeld«

Helmut Kohl hat mehr denn je Lust auf eine weitere Runde als Kanzler - zumal ihm die schwache SPD keine Schwierigkeiten bereitet. Falls die Sozialdemokraten aber bei ihrer Dauerblockade aller Spargesetze im Bundesrat bleiben, sieht die Regierung einen Ausweg: schnelle Neuwahlen.
aus DER SPIEGEL 30/1996

So gefallen dem Kanzler die Genossen besonders gut: zerstritten, ungeschickt, führungsschwach.

Im Nato-Saal des Kanzleramts hatte sich Mitte Juni die Runde der Ministerpräsidenten zum Gespräch mit Helmut Kohl eingefunden. Es ging ums Sparen, um den Standort Deutschland und auch um die Frage, ob die vom Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) geleitete Bund-Länder-Arbeitsgruppe Finanzen weitermachen solle. Gegen die Arbeit dieser Gruppe habe er nichts, sagte der Saarländer und SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine.

Dann folgte, so sahen es Teilnehmer aus der Union, »ein klägliches Schauspiel« sozialdemokratischer Konfusion.

Der Hanseat Voscherau breitete vor den politischen Gegnern sein ganzes Leid mit den Genossen aus: Es sei bekannt, daß er mit seinen Ansichten zur Finanz- und Steuerreform ein bißchen quer zu den Vorstellungen der SPD-Parteispitze und der Bundestagsfraktion liege. Er wolle und werde sich aber nicht verbiegen. Voscherau schließlich zu Lafontaine: »Okay, Oskar, ich mache das, aber dann mußt du das dem Präsidium verklickern.«

Der Saarländer errötete, einige SPD-Ministerpräsidenten blickten betreten drein, die Unionsvertreter und ihr beamtetes Gefolge grienten. Kohl genoß die Szene und höhnte: »Wenn ihr euch nicht einig seid, dann muß ich wohl auch noch ins SPD-Präsidium kommen.«

Regierung und Parlament gehen nach der Sommerpause in die zweite Halbzeit - und das Spiel ist bisher ganz anders gelaufen als zu Beginn der Wahlperiode erwartet.

Trotz aller Milliardenlöcher im Haushalt, trotz drückender Sparzwänge, schwacher Konjunktur und fast vier Millionen Arbeitsloser stehen Kohl & Co. selbstgefällig im Sonnenschein.

Selten war eine Regierung mit so horrenden Problemen derart ungefährdet. Selten hat eine schwache, konzeptionslose Opposition mit politischen und handwerklichen Fehlern der Regierung die Sache so leicht gemacht.

Knapp zwei Jahre sind vergangen, seit Kohl für die CDU das schlechteste Bundestagswahlergebnis seit 1949 zu verantworten hatte - eine spärliche Mehrheit von zehn Abgeordneten-Stimmen blieb ihm. Selbst in der Union glaubten nur wenige, daß der Kanzler die ganze Wahlperiode durchstehen, gar noch eine weitere Amtszeit anhängen könnte.

Bis hinauf zu den Spitzen seiner Partei argwöhnten enttäuschte Anhänger, es werde nur eine Frage der Zeit sein, wann Kohl aufstecke und an Fraktionschef Wolfgang Schäuble die Macht übergebe - möglicherweise nur, damit sich der Nachfolger in eine Große Koalition mit der SPD rette.

Die Koalitionspartner aus der FDP konnten den bedrängten Konservativen in jenen dunklen Tagen keine Sicherheit mehr bieten. »Das Risiko, mit einer Niederlage zu enden, war ihm damals zu groß«, erinnert sich sein langjähriger treuer Knappe Eduard Ackermann, weshalb der Kanzler den Wechsel zu Schäuble scheute. Arbeitsminister Norbert Blüm jedenfalls erinnert sich genau: »Er hatte die Schnauze voll.«

Und jetzt, im Sommer 1996? Alles ganz anders. Die FDP hat sich mit dem Erfolg bei den drei Länderwahlen im März gerettet und damit auch den Fortbestand der Koalition garantiert.

CDU-Verkehrsminister Matthias Wissmann, der sich früher oft an Kohl gerieben, Reformen und Verjüngungen angemahnt hatte, gerät geradezu ins Schwärmen. Wissmann preist den »unglaublichen Charme einer einmaligen CDU-Konstellation: Kohl mit seinem animalischen Machtinstinkt, dahinter Schäuble, der uns unbedingt inhaltlich weiterbringen will«. Mit diesem Duo an der Spitze könne »die Union sogar die politische Melodie für das nächste Jahrhundert« vorgeben. Ähnlich hymnisch lobt CSU-Finanzminister Theo Waigel den »Superstar der Staatsmänner«, der nicht nur die Politik in Deutschland dominiere, sondern auch Europas Geschicke.

Kohl schweigt sich bisher darüber aus, ob er bei der Bundestagswahl 1998 zum fünften Mal antreten wird. Seine Kandidatur jedoch gilt inzwischen quer durch CDU und CSU als sicher. Die Spekulationen um Schäubles Ambitionen sind verstummt. »Die Magnetspäne sammeln sich wieder im Kraftfeld des Kanzlers«, beobachtete ein Bonner Staatssekretär.

Mehrmals haben Kohl und Schäuble während der zurückliegenden Wochen - zweimal unter vier Augen - über die nächste Kanzlerkandidatur beraten. Beide haben verabredet, daß der Spitzenmann der Union, läuft alles normal, frühestens Ende 1997 ausgerufen wird. Erst dann seien die politischen Rahmenbedingungen des Wahlkampfes abzusehen, von der wirtschaftlichen Lage bis zum Stand der Europäischen Währungsunion.

Namen sparten die beiden bislang bewußt aus. Der zweite Mann wartet, bis der Kanzler das heikle Thema anschneidet. Schäuble werde mit Personalien nur vorpreschen, weiß ein Vertrauter des Fraktionschefs, »wenn er fürchtet, der Laden fliege auseinander«. Ansonsten pflegt er das Image, er könne jederzeit ins Kanzleramt umziehen, Kohl müsse nur rufen. Solange sollen sich die Wähler mit dem Eindruck bescheiden, die Union habe nur einen Kandidaten, den amtierenden Kanzler.

Unermüdlich sammeln und streuen Kohls Getreue frische Indizien für des Kanzlers neue Entschlossenheit. Dauernd verweise der gelernte Historiker auf das Faszinosum der bevorstehenden Jahrtausendwende. Immer häufiger strapaziere er die Floskel von der »Pflicht, das Land auf das 21. Jahrhundert vorzubereiten«.

Andere orientieren sich an Handfesterem. Der Eifer sei nicht zu übersehen, mit dem der Kanzler nicht nur über Kosten und Architektenentwurf des neuen Kanzleramtes in Berlin entschieden habe. Jedes Detail des Neubaus am Spreebogen bestimme er selber: die Größe des Kabinettssaales, die Anzahl der Stockwerke, den Zuschnitt der Arbeitszimmer. »Da will Helmut Kohl noch eine Zeitlang sitzen«, steht für einen erfahrenen Kanzlerdeuter fest.

Seit langem beobachten die engeren Mitarbeiter beim Kanzler wieder auffällige Lust am Schalten und Walten.Verschoben haben sich auch die Gewichte zwischen den Ministern. »Außer Kohl«, so ein Unionsminister der zweiten Garnitur, »zählt am Kabinettstisch derzeit nur noch Waigel.« Der äußert sich zunehmend auch zu allgemeinen politischen Fragen.

Weitgehend verstummt ist dagegen Außenminister Klaus Kinkel, dem nach Verlust des FDP-Vorsitzes einige politische Pannen und Pleiten wie die mißglückte Islam-Konferenz zu schaffen machten. »Auf mich ist es niedergeregnet, jeder Politiker hat seine Ups and Downs«, sucht sich der liberale Chefdiplomat zu trösten. Amtsmüde indes sei er mitnichten.

Union und Koalition profitieren zweifellos von der bislang armseligen Rolle der SPD. Die größte Oppositionspartei, die über ihre Dominanz im Bundesrat die Bundespolitik gehörig beeinflussen kann, hat aus ihrem respektablen Wahlergebnis nichts gemacht. Unter Führung von Lafontaine hat die SPD Verweigerung und Blockade zum Markenzeichen ihrer Politik erhoben. Die Partei kämpfte, etwa bei der Verteidigung von Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, sogar dort mit den Gewerkschaften gegen das Sparpaket der Regierung, wo sie am Ende nichts bewirken kann.

Ohne zu begreifen, daß angesichts schwacher Konjunktur und anschwellender Arbeitslosigkeit die Opferbereitschaft der verunsicherten Bevölkerung durchaus zugenommen hat, blieb die SPD auch am vorigen Freitag im Bundesrat bei ihrem Nein. Sie feierte ihren Rundum-Protest gegen soziale Demontage als Erfolg.

Dabei hätten die Sozialdemokraten bei geschickter Regie der Regierung wirklich weh tun und die Front der Koalitionsabgeordneten spalten können. Sie hätten nur das Rezept des bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Edmund Stoiber übernehmen müssen: ja zum Sparen im Allgemeinen und nein zu bestimmten unsozialen Härten wie der Kürzung der Lohnfortzahlung für Schwangere.

Stratege Schäuble hat die Schwäche des gegnerischen Konzepts früh erkannt und kalt genutzt. Er teilte das Sparpaket so auf, daß sich die SPD zunächst mit nicht zustimmungspflichtigen Gesetzentwürfen verzetteln konnte - ohne sonderliche Erfolgschancen. Im November, nach aufwendigen Vermittlungsrunden, wird die Kanzlermehrheit im Bundestag die Regierungsvorlagen durchbringen. Schäuble: »Der Zirkus in der SPD gibt uns die Chance, unseren klaren und ruhigen Weg vorzuführen.«

Im letzten Quartal des Jahres darf sich die SPD dann den Steuergesetzen zuwenden, die der Zustimmung der SPD-geführten Bundesratsmehrheit bedürfen. Auch hier hat Schäuble seine Leimruten bereits ausgelegt.

Sozialdemokraten wie Rudolf Scharping haben sich darauf konzentriert, die »obszöne soziale Schieflage« des Regierungsvorhabens anzuprangern. Die Erhöhung des Kindergeldes um 20 Mark soll rückgängig gemacht werden, die Vermögensteuer aber will die Regierung abschaffen. Schäuble setzt darauf, daß sich die »Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat einigen«, zumal das Bundesverfassungsgericht die Vermögensteuer in der heutigen Form für grundgesetzwidrig hält.

Die Länder könnten, das zeigt der Blick in ihre leeren Kassen, den Ausfall von jährlich neun Milliarden Mark Vermögensteuer ohne Kompensation nicht verkraften. Erneut stünde die Oppositionspartei als großmäuliger Verlierer dumm da.

Gefährlich für die Koalition wird es erst, wenn sie ihre Ankündigungen umsetzt und das Steuerrecht, das Rentensystem und den Öffentlichen Dienst reformiert. Dann kann das Ausmaß der staatlichen Finanzklemme nicht mehr vernebelt werden.

Die Rentenversicherung zum Beispiel läßt sich nur sanieren, wenn die sogenannten versicherungsfremden Leistungen, von der Ostförderung bis zur Familienpolitik, vom Staat bezahlt werden anstatt von den Beitragszahlern der Altersversicherung. Dafür müßten künftig nach Berechnung der Länderarbeitsminister 57,6 Milliarden Mark aus den Steuerkassen fließen.

Ohne Abgabenerhöhung, ob Mehrwert- oder Mineralölsteuer, wird das nicht gehen. Auch darüber herrscht im Regierungslager längst stillschweigender Konsens. Ohne zusätzliche Einnahmen bei den Verbrauchsteuern wird auch die versprochene Reform des Lohn- und Einkommensteuersystems schwierig. Denn die Milliarden für die Renten sind nicht aus den Staatskassen zu holen, falls die Einkommensteuersätze, wie angekündigt, kräftig sinken sollen.

Zugleich braut sich eine weitere Finanz-Katastrophe zusammen: Rund 40 Milliarden Mark muß der Staat in diesem Jahr für seine Beamten-Pensionäre aufbringen. Im Jahr 2020 wird der Betrag, wenn nichts geschieht, dreimal so groß, im Jahre 2040 mit etwa 238 Milliarden Mark rund sechsmal so groß sein. Das haben Wissenschaftler der Uni Trier vorausberechnet.

Schäuble versucht trotzdem den Angriff. Er hat den Zeitplan für die Renten- und Steuerreform so ausgerichtet, daß Union und Koalition möglichst bis zum Ende dieses Jahres Eckpunkte vorlegen, die dann im nächsten Jahr in Gesetzentwürfe umgesetzt werden können.

Schäuble hat den Widerstand der Sozialdemokraten einkalkuliert, die im Bundesrat der Steuerreform zustimmen müssen: »In diesem Fall gehen wir mit Renten und Steuern in den Wahlkampf.« Das ginge auch gegen die FDP, wenn sie weiter lautstark Widerstand gegen jegliche Steuererhöhungen leistet.

Sollte Lafontaine seine Partei aber in einem heißen Herbst tatsächlich stur auf Dauerblockade schalten, könnte ein Drehbuch wieder interessant werden, das im Kanzleramt für den Notfall bereitlag. Das Szenario »vorgezogene Neuwahlen« war zu Jahresbeginn als Rückversicherung bei einem schnellen Dahinscheiden der FDP schon mal durchgespielt worden.

Allerdings, ob Bundespräsident Roman Herzog, ein Verfassungsexperte, die fragwürdige Prozedur mitmacht, ist noch unklar. Es liegt bei ihm, ob er den Bundestag auflöst, wenn Kohl sich von seinen eigenen Leuten dort ein Mißtrauensvotum aussprechen ließe.

Für die Regierung wäre das Notfall-Szenario gar nicht so schlimm - im Gegenteil. Bei Neuwahlen im Frühjahr 1997 könnte die Koalition die Sozialdemokraten kalt erwischen und wohl auch noch einer nervigen Euro-Diskussion im folgenden Jahr entgehen.

Einer aus dem Kabinett, der Kohl recht nahe steht, glaubt zu wissen, wie der Kanzler handeln wird, wenn im Spätherbst für die Regierung alles schieflaufen sollte: »Dann entscheidet das Volk.«

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