Spaniens Tempelwächter
Ist in Madrid der Film »Qué contenta Aestoy!« (Wie froh ich bin) gedreht wurde, weigerte sich die Heldin plötzlich, weiterzuspielen. Bei der Trauungsszene war ihr der erschreckende Gedanke gekommen, das Spiel könnte unbeabsichtigter Ernst werden. Denn der Geistliche, der die Filmtrauung vollzog, war kein verkleideter Mime, sondern ein echter Priester: Pater Venancio Marcos vom Orden der Oblaten.
Bei mehreren Filmgesellschaften ist der temperamentvolle 39jährige »religiöser Berater«, in der Madrider Abendzeitung »El Pueblo« Leitartikler, vor Studenten hält er Vorlesungen über Philosophie und im Madrider Rundfunk ist ihm jeden Sonntagabend eine Sendung reserviert.
Diese halbe Stunde hat Venancio Marcos zu einem der populärsten Männer Spaniens gemacht. Hunderttausende Spanier sitzen ab acht Uhr siebenundfünfzig vor ihren Lautsprechern. Auch General Franco soll zu den Stammhörern des Paters Marcos gehören.
Der Radiopriester von Madrid spricht über religiöse Fragen. Aber er führt keine sanfte Sprache. Er reitet scharfe Attacken gegen korrupte Beamte und leitende Persönlichkeiten. Die Gegner des Regimes freuen sich, daß einer den Mut zu offenen Worten aufbringt. Unzählige sind begeistert von der Art, wie er religiöse Probleme mit solchen des Alltags verknüpft.
Pater Marcos' Programm ist sehr bunt. Er spricht über die Päpste des 15. Jahrhunderts und darüber, ob ein 16jähriges Mädchen den Lippenstift benützen soll. Er erörtert theologische Probleme und setzt sich mit Hörerbriefen auseinander, ob es für junge Spanierinnen schicklich sei, Zufallsbekanntschaften zu machen.
Sein Lieblingsthema ist der Schwarze Markt. Er improvisierte ein Hörspiel über den Bibeltext der Austreibung der Händler aus dem Tempel und zog die Nutzanwendung: »Die Pharisäer mißbrauchten die Religion als Deckmantel für ihre dunklen Geschäfte. Leider ist es heute bei den Katholiken auch nicht anders.« Viele Katholiken alten Schlages sind entsetzt über die Offenheit solcher Worte.
Die Zuschriften, die sich nach den Sendungen auf Pater Marcos' Schreibtisch türmen, enthalten nicht nur Zustimmung. Seiner Popularität tut das keinen Abbruch. Von der Politik hält er sich fern. »Meine Angriffe haben mit Politik, wie man etwa meint, nichts zu schaffen«, sagte er zu einem Reuter-Reporter, der ihn im Presbyterium der Madrider Oblaten-Kirche interviewte. »Ich halte es für meine Aufgabe, die Religion in das Leben der Menschen hineinzutragen.«
Von der Wirkung seiner Radiopredigten ist er tief überzeugt. »Es vergeht kaum eine Woche, ohne daß mindestens ein halbes Dutzend Menschen zu mir kommen, die jahrelang von religiösen Dingen nichts wissen wollten und nun plötzlich das Verlangen haben, eine Generalbeichte abzulegen und in den Schoß der Kirche zurückzukehren.«
»Leute von der Art des jungen Paters«, urteilt der Reuter-Korrespondent, »werden für den endgültigen Charakter eines sich entwickelnden neuen Spaniens bestimmend sein.«
Pater Marcos sprach für sie. Spanierinnen dürfen sich schminken