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Artikel 44 / 93

SPIEGEL Gespräch »Unsere Demokratie hält stand, hält stand«

Italiens Staatspräsident Alessandro Pertini über Terrorismus und Staatsverständnis in seinem Land
Von Dieter Wild
aus DER SPIEGEL 21/1981

SPIEGEL: Herr Staatspräsident, Italien wird wie kein anderer Staat der Europäischen Gemeinschaft von Krisen, Skandalen und Terror erschüttert. Die Roten Brigaden entführen Politiker und hohe Richter; in Italien, in Bologna, ereignete sich das blutigste Attentat der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die Inflationsrate liegt bei 20 Prozent, Staatsbetriebe machen Milliardendefizite. Wie lange kann Italien das noch durchhalten?

PERTINI: Man kann nicht sagen, daß sich Italien vor allem durch Skandale und Krisen auszeichne. Wir wollen also nicht auf diesem Register spielen. Kleine Gruppen, die den demokratischen Staat bekämpfen, gibt es überall, nicht nur in Italien.

SPIEGEL: Sie haben also nicht den Eindruck, daß es mit Italien immer weiter bergab geht?

PERTINI: Nein, das italienische Volk ist in seiner überwiegenden Mehrheit anständig und lebt von fleißiger Arbeit. Das beweisen auch unsere Arbeiter im Ausland, unter anderem in Deutschland, ich habe es bei meinem Deutschland-Besuch 1979 festgestellt. Der Generaldirektor der Münchner MAN-Werke, bei denen über 900 meiner Landsleute arbeiten, sagte mir, als wir zusammen Mittag aßen: »Wenn ich die Italiener nicht hätte, würden wir schwer in der Klemme stecken. Diese Leute sind fleißig, ehrlich und intelligent.«

SPIEGEL: Was nun aber den Terrorismus anlangt ...

PERTINI: ... da ist unser Land in der Tat ein Hauptziel der Umstürzler. Nur -- blicken Sie mal nach Spanien, wo jetzt besonders blutige Attentate verübt wurden. Ich habe gestern mit dem König von Spanien telephoniert, mit dem ich Freundschaft geschlossen habe. In seinem Land wird die Situation dramatisch. Er ist wie ich der Überzeugung, daß der Terrorismus internationale Ursachen hat. Die USA haben gerade wegen einschlägiger Vorwürfe sämtliche Diplomaten einer Botschaft ausgewiesen ...

SPIEGEL: Sie meinen die Botschaft Libyens in Washington?

PERTINI: Ich darf hier kein bestimmtes Land nennen. Aber es ist auch meine Überzeugung, daß die Zentrale des Terrorismus nicht in Italien liegt.

SPIEGEL: Sie haben das schon mal geäußert, aber nicht bewiesen.

PERTINI: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Es hieß, wenn es uns gelinge, den Terroristenchef Mario Moretti zu fangen, werde der Terrorismus aufhören. Aber nein! Moretti wurde verhaftet, S.141 und dennoch gingen die Attentate weiter.

SPIEGEL: Wo soll denn die ausländische Zentrale des Terrorismus eigentlich liegen?

PERTINI: Ich habe da meinen Verdacht, ich will mich dazu nicht weiter äußern. Man muß sich aber fragen, warum die Terroristen gerade Italien ins Visier genommen haben, und da gibt es meiner bescheidenen Meinung nach schon eine Antwort: Italien ist aufgrund seiner geographischen Lage eine demokratische Brücke zwischen Europa, Afrika und dem Nahen Osten. Wenn diese Brücke gesprengt wird, würde der Frieden nicht nur im Mittelmeer bedroht sein, sondern in der ganzen Welt. Deshalb nehmen die Terroristen Italien besonders aufs Korn.

SPIEGEL: Aber die Terroristen haben dieses Ziel, das Sie ihnen zuschreiben, doch offenbar noch nicht erreicht.

PERTINI: Genau, unser demokratisches System zerbricht nicht, es hält stand, es hält stand. Die Demokratie hat eben tiefe Wurzeln geschlagen. Ihr Journalisten solltet euch mal fragen, weshalb diese Ordnung standhält.

SPIEGEL: Ja, weshalb?

PERTINI: Die Antwort lautet, daß die Terroristen gerade bei jener Schicht, auf die sie besonders gehofft hatten, keinen Anklang fanden, nämlich bei der Arbeiterschaft.

SPIEGEL: Aber unter den Arbeitern gibt es zweifellos viel Unzufriedenheit, es gibt 1,6 Millionen Arbeitslose, Arbeitskämpfe, Wohnungsnot.

PERTINI: Das wissen die Terroristen, und sie wollten diese Mißstimmung ausnutzen. Dennoch konnten sie keine Bresche in die Arbeiterschaft schlagen.

Die Tatsache, daß es unter den Terroristen auch Arbeiter gibt, besagt dabei noch gar nichts. Die Arbeiterbewegung als Ganzes hat eine Barriere gegen den Terrorismus aufgerichtet. Als im Mai 1978 die Leiche Moros gefunden wurde, strömten 400 000 Menschen auf der Piazza San Giovanni zusammen. Vertreter aus allen sozialen Schichten kamen, aber die Mehrheit waren Arbeiter.

Als dagegen in Deutschland der Arbeitgeberpräsident Schleyer ermordet wurde, gab es keine große Protestkundgebung. Das fiel mir auf.

SPIEGEL: Mit der Entführung des christdemokratischen Politikers Cirillo in Neapel haben die Roten Brigaden zum erstenmal ihre Schlagkraft in Süditalien bewiesen. Glauben Sie, daß sie im Süden Chancen haben?

PERTINI: Nach dem Erdbeben, angesichts von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, hofften die Terroristen offenbar, den Volkszorn im Süden anzuheizen und für ihre Zwecke ausnutzen zu können. Aber sie haben kein Glück damit. Die Neapolitaner leisten Widerstand. Dieser demokratische Widerstand gegen den Terrorismus gereicht unserem Volk zur Ehre.

SPIEGEL: Herr Staatspräsident, der Terrorismus von rechts hat das blutigste Attentat verübt, das von Bologna. Der Terrorismus von links scheint eine klarere politische Zielrichtung zu haben. Ist für die italienische Demokratie der linke oder der rechte Terrorismus gefährlicher?

PERTINI: Ich mache da keine Unterschiede zwischen rechts und links.

SPIEGEL: Mit Blick auch auf die Gefahr, daß Sie selbst entführt werden S.144 könnten, haben Sie einen sehr mutigen Schritt getan. Sie haben für den Fall Ihrer Entführung verboten, mit den Terroristen zu verhandeln.

PERTINI: Ja, und ich habe diese Erklärung vor kurzem wiederholt.

SPIEGEL: Haben Sie keine Angst?

PERTINI: Sehen Sie, wahrer Mut besteht darin, die Angst zu besiegen, die man in sich spürt. Ob ich Angst habe? Natürlich laufe ich nicht gern und freudig den Terroristen in die Arme, ich bin nicht töricht. Mir gefällt das Leben. Ich habe eine Frau, die ich sehr liebe, ich habe viele Freunde, ich liebe das Leben, trotz meines hohen Alters, ich habe es immer geliebt.

SPIEGEL: Warum dann dieser todesmutige Schritt?

PERTINI: Unser Volk will dem Terrorismus eine Barriere vorschieben. Ich möchte das auch, damit nicht passiert, was bei Ihnen im Fall des entführten CDU-Politikers Lorenz geschah. Die Entführer forderten damals im Austausch die Freilassung gefangener Ultras, und die deutschen Behörden gaben nach. Viele sahen darin ein Zeichen von Schwäche. Auch bei uns haben die Terroristen, besonders im Fall Moro, die Freilassung von Häftlingen gefordert. Doch wir sind hart geblieben.

SPIEGEL: Wie war das nun mit Ihrem Verbot, nach einer Entführung über Ihre Freilassung zu verhandeln?

PERTINI: Ich habe bei meiner Frau, die zusammen mit mir am Partisanenkampf teilnahm, schon während meiner Amtszeit als Präsident des Abgeordnetenhauses die handschriftliche Erklärung hinterlegt, daß nach einer Entführung über meine Freilassung nicht verhandelt werden dürfe, und als Staatspräsident habe ich das bekräftigt. Meine Frau versprach mir -- und sie wird das Versprechen halten --, daß sie im Fall meiner Entführung diesen Brief sogleich der Presse übergibt.

SPIEGEL: Was steht in dem Brief?

PERTINI: Der Inhalt besagt: Falls ich entführt werden sollte, darf mit den Terroristen nicht verhandelt, darf ihnen nicht nachgegeben werden, etwa um mich freizubekommen.

Man soll mich mit den Terroristen allein lassen, allein mit meinem Gewissen und meiner politischen Überzeugung. Für den Fall jedoch, daß meine Frau aus Angst um mein Leben nicht den Mut hat, diesen Brief an die Presse zu geben, hat der Generalsekretär meines Amtes hier im Quirinal eine Photokopie des Schreibens. Dann soll er meinen Willen der Presse mitteilen.

Aber wissen Sie, meine Freunde, was mich wirklich bedrückt? Das ist die Sorge um meine Leibwächter, acht oder neun junge Männer. Jedesmal wenn ich den Quirinalspalast verlasse, könnten sie bei einem Attentat das Leben für mich verlieren. Das quält mich und läßt mir keine Ruhe.

SPIEGEL: Trotz allen Widerstands gegen den Terrorismus wächst in Europa der Eindruck, Italien sei kaum regierbar: 40 Regierungen seit Kriegsende. Um stabilere Mehrheiten zu ermöglichen, hat Ihr Parteifreund Craxi Reformen vorgeschlagen, beispielsweise das konstruktive Mißtrauensvotum und die Fünf-Prozent-Klausel. Was halten Sie davon?

PERTINI: Der Vorschlag, das konstruktive Mißtrauensvotum einzuführen, wird jetzt in der Tat von unseren demokratischen Parteien erörtert. Eine Sperrklausel im Wahlgesetz hingegen hat hierzulande keine Chancen. Es ist ja nicht die Vielzahl der Parteien, die das Land schwerer regierbar macht. Zur Zeit beispielsweise haben wir eine recht stabile Mehrheit aus vier Parteien. Ich hoffe sehr, daß die jetzige Regierung unter Arnaldo Forlani bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleibt. Forlani, den ich ausgewählt habe, ist ein tüchtiger Mann.

SPIEGEL: Sind Sie nun, um die häufigen Regierungskrisen zu vermeiden, für die genannten Reformen oder dagegen?

PERTINI: Dazu kann ich mich als Staatsoberhaupt nicht äußern. Wenn ich etwas sagen würde, gäbe es Ärger, meine Gegner würden gleich behaupten, der Präsident überschreite seine Befugnisse. Überhaupt will man mir ja gern den Mund verbieten. Dabei sagt unsere Verfassung, daß jeder Bürger das Recht und die Freiheit hat, seine Gedanken auszudrücken. Und ich glaube, auch der Präsident der Republik sollte dieses Recht haben. Aber die Politiker verweigern es mir. Wenn ich frei meine Meinung sage, gehen sie gleich auf mich los.

SPIEGEL: Viele Italiener sind wohl schon deshalb gegen die Reformen, weil diese aus dem deutschen politischen System stammen ...

PERTINI: Nein, nein, es ist keineswegs so, daß wir etwas lediglich deshalb ablehnen, weil es aus Deutschland kommt. Darum geht es nicht. Tatsache ist vielmehr, daß es bei euch in Deutschland eben nicht viele Parteien gibt und die Kommunisten beispielsweise beinahe ausgestorben sind. Italien kennt zum Unterschied zur Bundesrepublik eine größere Parteienvielfalt, S.147 schon aus historischen Gründen, und deshalb ist eine Regelung wie die Fünf-Prozent-Klausel bei uns wohl kaum zu verwirklichen.

SPIEGEL: Sie glauben also nicht, daß viele Italiener diese Reformen bereits wegen der ständig befürchteten »Germanisierung« ablehnen?

PERTINI: Nein, nein, mir mißfällt schon dieses Wort. Die Tatsache, daß unsere Parteien über die eventuelle Einführung des konstruktiven Mißtrauensvotums diskutieren, widerlegt solche Gedanken.

SPIEGEL: Im Blick auf das deutsch-italienische Verhältnis heißt es gelegentlich: Die Deutschen lieben die Italiener, aber sie achten sie nicht -die Italiener achten die Deutschen, aber sie lieben sie nicht. Stimmt das?

PERTINI: Ach, das ist so ein Wortspiel. Sehen Sie, wenn es einen Staatsbesuch in der Bundesrepublik gab, der dort eine unauslöschliche Erinnerung hinterlassen hat, war es meiner. Das haben mir erst vor kurzem wieder Vertreter der deutschen Regierung bestätigt. Außerdem habe ich viele Briefe mir unbekannter Deutscher erhalten, die über meinen Besuch und meine Reden in Deutschland voller Anerkennung sprechen. Sie wissen wohl, was passiert ist, als ich zur Berliner Mauer fuhr?

SPIEGEL: Nein, was denn?

PERTINI: Eigentlich dürfen Staatsoberhäupter ja gar nicht an die Mauer. Auf Antrag der Russen wurde deshalb sogar die interalliierte Kommission in Berlin einberufen, da ich entgegen den protokollarischen Vorschriften zur Mauer ging und hinüberblickte. Ich war bestürzt. Ich erinnere mich genau, als ich dort stand. Da flog aus dem Osten ein Vogel herüber, um sich neben mir auf einem Baum niederzulassen. Ich sagte, dieser Vogel sei frei und glücklich, niemand hindere ihn bei seinem Flug. Eine große Zeitung brachte diesen Ausspruch am nächsten Tag in Balkenüberschrift. Ich fügte damals noch hinzu: Wenn Rom so geteilt wäre wie Berlin, würde ich für die Wiedervereinigung kämpfen.

SPIEGEL: Gibt es denn Ihrer Meinung nach in Italien keine antideutschen Ressentiments mehr, die aus der antifaschistischen Resistenza herrühren?

PERTINI: Nein, das sehen Sie auch schon daran, wie gern ich, ein ehemaliger Widerstandskämpfer, mich an meine Deutschlandreise erinnere. Ich bekam großartigen Kontakt mit der deutschen Bevölkerung, sowohl in Bonn als auch in Berlin oder München. Und bedenken Sie dabei: Der jetzt zu Ihnen spricht, hatte einen Bruder, der im KZ Flossenbürg ermordet wurde. Das hindert mich nicht, das deutsche Volk zu schätzen und zu lieben. Bei meinem Trinkspruch sagte ich in Erwiderung auf die Ansprache eures Bundespräsidenten: »Ich habe ein Fenster geöffnet, das die Deutschen verschlossen hielten.« Den Anwesenden gefiel der Trinkspruch. Die Frau Bundestagspräsidentin Renger war ganz gerührt.

SPIEGEL: Mehr als Staatsbesuche tragen vielleicht doch die deutschen Touristen in Italien und die italienischen Gastarbeiter in Deutschland zum gegenseitigen Verständnis bei.

PERTINI: Ja, die meisten der 600 000 Italiener in der Bundesrepublik sagen, daß sie sich wohl fühlen. Wenn diese Menschen Probleme haben, dann nicht so sehr mit den deutschen Behörden, sondern mit den unsrigen. Die italienischen Lehrer etwa, die italienische Kinder in der Bundesrepublik unterrichten, wollen genau dieselben Rechte und Vergünstigungen wie ihre Kollegen in Italien haben. Wissen Sie übrigens, wie viele italienische Restaurants es in Berlin gibt?

SPIEGEL: Vielleicht 50?

PERTINI: Nein, über 100, und das ist ein Glück.

SPIEGEL: Wieso?

PERTINI: Damals, bei meinem Berlin-Besuch, hat man mich auch in ein deutsches Restaurant geführt. Ich bestellte eine Art Schweinskotelett, und ich bekam so ein Ding mit einer scheußlichen Sauce drüber. Ich kriegte es nicht runter. Später, im Hotel, protestierte ich mit den Worten: Ich bin hungrig, meine Herren, ich möchte nicht mit leerem Magen zu Bett gehen. Folglich brachte man mir einen Milchkaffee mit Apfelstrudel. Und ein deutscher General, der mir als Begleitung zugestellt worden war, sagte mir: »Herr Präsident, wenn wir Berliner gut essen wollen, gehen wir nicht in ein deutsches, sondern in ein italienisches Restaurant.«

SPIEGEL: Deutsch-italienische Annäherung im Restaurant -- Sie haben sich ja mit Ihren Einfällen und eigenwilligen Reden daheim schon bei manchem Politiker unbeliebt gemacht. So haben Sie wenige Tage nach dem Erdbeben in Süditalien im Fernsehen die Ineffizienz der staatlichen Hilfsmaßnahmen angeprangert und Bestrafung der Schuldigen gefordert. Nun geht der Wiederaufbau im Erdbebengebiet immer noch langsam voran, leben die meisten Obdachlosen immer noch in Wohnwagen. Wäre es daher nicht angebracht, daß Sie Ihren Appell vom November 1980 wiederholen?

PERTINI (lacht): Ich merke schon, Sie wollen mich aufs Glatteis führen.

SPIEGEL: Nein, nein, keineswegs.

PERTINI: Sie meinen es nicht böse, ich weiß schon. Sie üben Ihren Beruf aus. Ich kannte einen bedeutenden Journalisten, Claudio Treves, der sagte einmal: Wenn du mit einem Journalisten sprichst, vergiß nicht, ein Journalist bleibt Journalist, auch wenn er mit seiner Frau im Bett liegt.

Doch Scherz beiseite: Damals, im November 1980, sah ich im Erdbebengebiet erschütternde Szenen, die ich nie vergessen werde. Daher kritisierte ich in einer vierminütigen Fernseh-Ansprache die Langsamkeit und Ineffizienz der S.150 staatlichen Hilfsmaßnahmen. Wäre die Hilfe schneller gekommen, hätte man viele Menschenleben gerettet.

Aber bestimmte Politiker verübelten mir meinen Appell und hätten mich beinahe zerfleischt. Und da wollen Sie jetzt, daß ich wieder eine solche Rede halte und daß man wieder auf mir rumhackt? Den Gefallen tue ich Ihnen nicht. Ich habe schon genug geredet, Sie wissen, wie mir in dieser Frage zumute ist.

SPIEGEL: Der Wiederaufbau im Erdbebengebiet hat die Probleme Süditaliens wieder ins Blickfeld gerückt. Die angesehene Zeitung »La Repubblica« veröffentlichte jüngst einen aufsehenerregenden Artikel, der dem Sinne nach besagte, es sei unsinnig, den rückständigen Süden industrialisieren zu wollen, die Süditaliener sollten lieber Tomaten anbauen, das könnten sie besser.

PERTINI: Diese These weise ich zurück. Und ich bringe Ihnen ein Beispiel dafür, daß sie nicht stimmt: In Apulien gibt es fast keine Arbeitslosigkeit. Denn dort ist nicht nur die Landwirtschaft gut entwickelt -- denken Sie an Wein und Oliven --, sondern auch die Kleinindustrie. Und die Arbeiter dieser Betriebe sind Einheimische, sie kommen nicht etwa aus Mailand oder Turin.

SPIEGEL: Sie meinen, die Kleinbetriebe könnten somit zum Aufschwung des Südens besser beitragen als etwa Großunternehmen wie Alfasud?

PERTINI: Ja, wenn man überall in Süditalien dem Beispiel Apuliens folgen und mehr Kleinbetriebe einrichten würde, gäbe es dort kaum noch Arbeitslose. In der Kleinindustrie und der Landwirtschaft sehe ich große Chancen für den Süden.

SPIEGEL: Herr Staatspräsident, seit 36 Jahren regiert in Ihrem Land die Christdemokratische Partei. Ein Machtwechsel schien bisher nicht möglich, weil dann die Kommunisten die Führung übernommen hätten. Und die KP hat sich nach Meinung der meisten Italiener noch nicht genügend als demokratische, von Moskau unabhängige Partei legitimiert, auch wenn eine Evolution unverkennbar ist. Wie bewerten Sie die Entwicklung der KPI?

PERTINI: Das ist eine heikle Frage. Ich kenne die KPI seit ihrer Gründung, also seit 1921, als sich die Kommunisten von der Sozialistischen Partei trennten. Seit damals hat die KPI einen langen Weg zurückgelegt, sie hat sich sehr gewandelt, ich würde sagen, radikal gewandelt.

Heute besteht ein Unterschied zwischen dem KPI-Chef Berlinguer und seinem französischen Genossen Marchais. Ich kann und will hier nicht urteilen, aber es heißt, Marchais sei noch am Stalinismus orientiert. Im französischen Wahlkampf bot Marchais die Stimmen der KPF dem Sozialisten Mitterrand an. Auch in Frankreich wurde bei dieser Gelegenheit allerdings das lateinische S.152 Sprichwort zitiert: »Timeo Danaos et dona ferentes« (Ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen).

SPIEGEL: Dieser Unterschied zwischen Berlinguer und Marchais ...

PERTINI: ... wäre für viele Beobachter leicht zu beweisen. Die italienischen Kommunisten betonen zum Beispiel, daß Berlinguer 1980 nicht zur Konferenz der Kommunistischen Parteien Europas nach Paris fuhr.

SPIEGEL: Glauben Sie denn, daß die geläuterte KPI bald in der Regierung sitzen wird?

PERTINI: Dazu kann ich nicht Stellung nehmen.

SPIEGEL: Die Kommunisten hätten ja auch mit Hilfe der Sozialisten noch keineswegs die Mehrheit im Parlament.

PERTINI: Nein, sie müßten noch die kleinen Parteien bis hin zu den Radikalen für sich gewinnen. Und um eine Links-Regierung zu verhindern, würde sich eine starke Gegenkraft bilden. Dann würden sich nämlich die Neofaschisten mit den Christdemokraten verbünden.

SPIEGEL: Eine linke Alternative ist also in Italien nicht in Sicht?

PERTINI: Meiner Meinung nach vorläufig nicht. Und ich möchte betonen, daß die Regierung Forlani, die sich auf ein Bündnis aus Christdemokraten, Sozialisten, Sozialdemokraten und Republikanern stützt, gute Arbeit leisten kann. Arnaldo Forlani, den ich ausgewählt habe, ist tüchtig. Es stimmt zwar, er neigt zum Phlegma. Wissen Sie, wie ich ihn nenne? Das können Sie ruhig schreiben: Ich nenne ihn den Kutusow der derzeitigen Lage. Sie wissen: Kutusow war ein russischer General, der gegen Napoleon kämpfte und sich dabei, etwa in der Schlacht von Borodino, so vorsichtig verhielt, daß seine Offiziere ihn aufforderten, energischer anzugreifen. Er ließ zu, daß Napoleon bis nach Moskau kam, als aber Moskau dann brannte, kniete Kutusow nieder und sagte: »Gott sei Dank, wir haben gesiegt.«

SPIEGEL: Ist der Vergleich mit Forlani nicht sehr weit hergeholt?

PERTINI: Nein, Forlani bleibt immer ruhig und gelassen, auch wenn alle anderen nervös werden. Wie ich schon sagte: Ich hoffe, daß er die ganze Legislaturperiode durchsteht.

SPIEGEL: Ihre Vorgänger im Quirinal haben das Präsidentenamt vorwiegend als zeremonielle, repräsentative Aufgabe verstanden. Sie dagegen sehen in dem höchsten Staatsamt offenbar eine Art moralische Anstalt. Bitte erläutern Sie uns, wie Sie Ihr Amt interpretieren.

PERTINI: Über meine Vorgänger möchte ich nicht reden. Ich will Ihnen zunächst mal erzählen, was ich unmittelbar S.153 nach meiner Amtsübernahme im Quirinal gemacht habe. Ich habe alle 650 Angestellten des Präsidentenamtes versammelt und ihnen gesagt: Zweifellos gibt es einen Unterschied zwischen euch und mir: Ich habe eine Verantwortung, die ihr nicht habt. Ich wünsche mir eine gute und herzliche Zusammenarbeit, damit ich meine schwere Aufgabe würdig erfüllen kann.

SPIEGEL: Das heißt?

PERTINI: Die Arroganz der Macht ist aus dem Quirinal verschwunden, die gibt''s hier nicht mehr. Das werden Sie schon gemerkt haben, als Sie reingekommen sind. Zwischen mir und meinen Mitarbeitern hier herrscht Vertrauen, ich fühle mich als Vater der Familie im Quirinal.

SPIEGEL: Wir meinten eher, ob Sie Ihr Amt im Unterschied zu Ihren Vorgängern als ein politisches Amt auffassen.

PERTINI: Lassen Sie meine Vorgänger aus dem Spiel. Wenn Sie über die etwas wissen wollen, gehen Sie hin zu ihnen und interviewen Sie sie.

Sehen Sie, man hat zum Beispiel meine Frau sehr kritisiert, weil die nicht die geringste Absicht hatte, hier im Quirinal als Erste Dame Italiens aufzutreten. Sie setzt keinen Fuß in den Quirinal, sie nimmt an keiner offiziellen Veranstaltung teil. Wir haben eine kleine Mansardenwohnung am Platz vor dem Trevi-Brunnen ...

SPIEGEL: Sie verlassen tatsächlich jeden Abend den Quirinal?

PERTINI: Ja, und ich bin froh darüber. Auf diese Weise kann ich abends als der höchste Angestellte des Staates aus dem Amt gehen und nach Hause zu meiner Frau fahren. Wir diskutieren, essen und sehen fern, und am nächsten Morgen um neun Uhr sitze ich als höchster Angestellter des Staates wieder an meinem Schreibtisch im Quirinal. Auf diese Weise kann mich die Macht-Atmosphäre des Palastes nicht vereinnahmen. Verstehen Sie, was ich meine?

SPIEGEL: Durchaus.

PERTINI: Ich erreiche, daß ich gleichsam meine menschliche Dimension nicht verliere, daß ich meine private Sphäre behalte, wie ein Angestellter. Warum eigentlich hat man meine Frau kritisiert, als sie nicht in den Quirinal ziehen wollte? Hat sie etwa nicht das Recht, eine freie Bürgerin zu sein? Warum wollte man sie zwingen, die First Lady zu spielen? Sie begleitet mich bezeichnenderweise auch nicht auf meinen Reisen. Bloß nach China fuhr sie mit.

SPIEGEL: Abgesehen von diesen privaten Fragen -- Ihre Appelle für eine größere Moral im öffentlichen Leben verleihen Ihrem Amt doch einen ungewohnten politischen Akzent.

PERTINI: Was die Moralisierung des öffentlichen Lebens anlangt, dürfen wir keine Pauschalurteile fällen. Ich war von 1945 bis zu meiner Wahl als Staatspräsident Mitglied des italienischen Parlaments und habe in dieser Zeit Hunderte von ehrbaren, fleißigen, opferbereiten Abgeordneten und Senatoren kennengelernt.

SPIEGEL: Niemand hat behauptet, daß es in Italien keine ehrbaren Politiker gäbe.

PERTINI: Zuallererst muß freilich der Präsident der Republik integer sein, andernfalls wäre das eine Beleidigung für den Bürger, der arbeitet und Opfer bringt. Dem Sprichwort zufolge darf auf Cäsars Frau kein Verdacht fallen. Das ist Unsinn: Vor allem darf Cäsar selbst nicht in Verdacht geraten; S.155 und seine Frau, na ja, sie darf ihm keine Hörner aufsetzen.

SPIEGEL: Sie sind derzeit die populärste Persönlichkeit Italiens und trotz Ihres hohen Alters besonders bei der Jugend beliebt. Wie erklären Sie dieses »Phänomen Pertini«?

PERTINI: Warum ich populär bin? Die Jugendlichen und Kinder sagen »Sandro« zu mir und duzen mich. Kinder haben ja einen Spürsinn ähnlich wie Hunde. Allein als Präsident des Abgeordnetenhauses habe ich sage und schreibe 55 000 Schüler empfangen. Und in den fast drei Jahren, in denen ich im Quirinal amtiere, kamen 36 000 jugendliche Besucher. Da geht es nicht steif zu. Ich will keine Distanz zwischen mir und diesen jungen Leuten. Die sollen nicht scheu an der Wand stehen und zuhören, während ich eine Ansprache halte. Wenn ich reinkomme, sage ich gleich, kommt näher, ich will menschlichen Kontakt, keine Distanz.

SPIEGEL: Wie ist die Reaktion?

PERTINI: Ja, rufen die Kinder dann im Chor, lange Reden öden uns an. Also machen wir''s so: Die Schüler stellen Fragen, ich antworte. So entsteht ein Dialog. Sie sollten mal dabeisein, dann würde Ihnen klar, warum ich mich mit den Jugendlichen so gut verstehe. Die stellen ernste Fragen, nicht einer stellt eine dumme Frage.

SPIEGEL: Sie haben großes Vertrauen in die Jugend?

PERTINI: Ja, ein ganz großes. Und das spüren die jungen Menschen. Unsere Jugend will, daß man Vertrauen in sie hat, denn wenn man ihr Feindseligkeit und Mißtrauen entgegenbringt, antwortet sie mit Haß und verschließt sich. Zwischen der Jugend und mir besteht in der Tat ein Vertrauensverhältnis.

SPIEGEL: Und damit erklärt sich Ihre Volkstümlichkeit?

PERTINI: Ja, jedenfalls zu einem großen Teil. Ich verstehe die Probleme der jungen Menschen und sie die meinen. Nur ein Beispiel. Ein sechsjähriger Junge fragte mich neulich: Stimmt es eigentlich, Sandro, daß du gar nicht Präsident werden wolltest? Ja, sagte ich, ich wollte es nicht. Das wissen alle, besonders die Abgeordneten.

SPIEGEL: Sie wurden, mit 81 Jahren, erst im 16. Wahlgang gewählt, zumeist von Parlamentariern, die sich dachten, daß Sie schon wegen Ihres Alters ein schwacher Übergangspräsident sein würden, doch heute ...

PERTINI: Hahahaha ...

SPIEGEL: ... heute gelten Sie als ein starker Staatspräsident und werden allgemein geschätzt. Amüsiert es Sie, daß Sie ein ganz anderer Präsident wurden, als viele der Politiker sich vorstellten, die Ihnen ihre Stimme gaben?

PERTINI: Lassen wir mal die Frage beiseite, ob es mir Spaß macht. Sicher ist: Die meisten, die mich gewählt haben, haben es schon bereut.

SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

PERTINI: Einen herzlichen Gruß dem deutschen Volk!

S.140Mit Redakteuren Bernhard Müller-Hülsebusch und Dieter Wild.*S.144Nach der Entführung Aldo Moros.*

Bernhard Müller-Hülsebusch
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