SPIELT NICHT MIT DEN SCHMUDDELKINDERN
Die Deutschen sind rührend zu ihren geschlagenen Feldherren und Politikern. Ob der Krieg siegreich, die Politik erfolgreich gewesen sei, scheint sie nur am Rande zu interessieren. Hauptsache, sie haben wieder einen Heros, und dazu genügt, daß der falsche Krieg mit Hartnäckigkeit verlängert, daß die falsche Politik bis zum Ende der Sackgasse durchgehalten wird. Wer den falschen Krieg, wer die falsche Politik bis zum Offenbarungseid durchhält, ist ein Kerl, und wenn er keinen Widerspruch duldet, sogar ein starker Mann. Ihm gebührt ein Platz in der Regensburger Walhalla.
Da auch die SPD-Mitglieder Deutsche sind, besonders treuliche Deutsche sogar, muß Herbert Wehner nicht befürchten, daß sie sich des Lobes enthalten, das diesem durchsetzungswilligen und konsequenten Parteimann von allen Seiten, namentlich von seinen politischen Gegnern, so reichlich gespendet wird. Er ist, trotz allem, der Größte, so wie Ludendorffs ausländische Kollegen neidlos anerkannten, daß der deutsche Kriegsmann seinen Konkurrenten, was Vitalität und Einfallsreichtum anging, überlegen gewesen sei.
Nur eben, er war einer Schimäre nachgerannt, dem Siegfrieden, hatte 1917 und 1918 die falschen Entscheidungen durchgesetzt. Seit den Wahlen in Niedersachsen ahnen auch die Begriffsschwachen, daß Herbert Wehner im vorigen Herbst das falsche Pferd geritten, daß er den falschen Zug bestiegen hat. Nicht nur hat er der Demokratie einen möglicherweise verhängnisvollen Stoß versetzt -- dafür wäre Interesse wohl schwerlich zu erwarten -, vielmehr hat er es ohne den erhofften Nutzen, er hat es vergebens getan.
Die Koalition mit der CDU erweist sich, wie zu erwarten, nicht als Durchgangszimmer zur Kanzlerschaft, sondern hat den Lauf zum Kanzler-Sessel unterbrochen. Die SPD muß froh sein, wenn sie nach den Bundestagswahlen von 1969 weiter mit in der Regierung sitzen wird und nicht wieder, diesmal schrecklich entmutigt, in der Opposition.
Macht die SPD für 1969 ein neues Wahlgesetz, so sitzt sie schon 1969 in der Kälte (vorausgesetzt, daß den Christen kein personelles Unglück widerfährt). Auf die FDP, wenn überhaupt, könnte die SPD jetzt nur noch zählen, wenn sie stärkste Partei würde oder Aussicht hätte, es zu werden.
Die Entscheidung des vorigen Herbstes wird fehlsam gezeichnet, wenn immer dargetan wird, man habe nur die Wahl gehabt, entweder den Kanzler mit der FDP oder den Vizekanzler unter Kiesinger zu stellen. Sollte nicht die wichtigere Entscheidung die gewesen sein, ob man nach siebzehn Jahren des Bürgerblock- und CDU-Regiments überhaupt in eine Bundesregierung eintreten sollte, obwohl die SPD nicht die stärkste Fraktion im Bundestag stellt?
Wie man weiß, ist darüber in der SPD-Fraktion nicht einmal diskutiert worden. Die Abgeordneten hielten sich an Herbert Wehners Spruch: »Das Brot ist in der Röhre und wird gebacken.«
Ja, wenn das so war, dann konnte man freilich der CDU keine Bedingungen stellen. Wenn man um jeden vernünftigen Preis in die Regierung wollte, blieb wirklich nur entweder die FDP oder Kiesinger. Für einen kühlen, nicht von seinem eigenen Konzept aufgefressenen Strategen mußte die Frage aber heißen: Sollen wir überhaupt?
Hatte man einen Kanzler, der Neuwahlen nicht scheute -- Zinn, Wehner oder Brandt -, so konnte man mit der FDP abschließen. Glaubte man aber, in Brandt, Wehner oder Zinn keinen Harold Wilson zu haben, so war es richtige Politik, den Kanzler-Posten für die stärkste im Bundestag vertretene Partei zu fordern; das Ist nun einmal, da die CSU eine Partei für sich ist, die SPD.
So hätte die SPD ihre Bereitschaft dokumentieren können, »den Karren aus dem Dreck zu ziehen« und »den Staat nicht verfaulen zu lassen«. Freilich hätte sie einen Preis verlangt: Die CDU hätte ihre Mißwirtschaft mit dem Verlust des Kanzlerpostens quittieren müssen, damit sie hinterher nicht wieder herumposaunen könnte, die SPD habe sich so sehr gewandelt, daß sie einer Gemeinschaft mit der CDU würdig geworden sei.
Das Geschäft wäre, vermutlich, nicht zustande gekommen. Vermutlich hätte Kiesinger dann doch mit der FDP abgeschlossen. Daß solch ein personell schwächeres Kabinett eine nennenswert schlechtere Arbeit geleistet hätte als die Große Koalition, ist gar nicht einmal gesagt. Was Kiesinger mit Brandt, Wehner und Schiller bisher gezeigt hat, hätte er auch mit der FDP leisten können oder müssen.
Aber mit Sicherheit hätte diese in den Augen der Öffentlichkeit zu schwache Bundesregierung eine ungünstige Optik geboten, mit dauernden Querelen zwischen einem ungleich stärkeren Strauß und den von der Platzangst ergriffenen Freien Demokraten, die sich den neuerlichen Rückfall zur CDU und den Umfall vor dem Bayern nicht hätten verzeihen mögen. Das Vertrauen in eine prosperierende Wirtschaft wäre von diesem Kabinett Kiesinger-Mende-Strauß kaum wiederhergestellt worden, aber solches will ja auch der Großen Koalition nicht gelingen.
Jedenfalls hätte Herbert Wehners Partei in der Opposition den Landtagswahlen und dem Jahre 1969 mit Gelassenheit entgegensehen können. Der Staat wäre nicht verfault. Und so viel Nerven muß eine zur Ablösung drängende Oppositionspartei aufbringen, den Staat noch ein Stück faulen zu lassen.
Das Wort vom verfaulenden Staat war denn auch wohl mehr der ideologische Überbau, um den Koalitionseintritt zu decken. Die Partei, wir zitieren hier einmal mehr Wehner, wäre daran zerbrochen, wenn sie noch länger hätte warten müssen. Er, Wehner, hätte die Daueropposition noch ziemlich lange ertragen.
Mit Verlaub, wenn das wahr sein sollte, dann wär"s fürchterlich. Man hat der SPD immer nachgesagt, sie habe kein Verhältnis zur Macht. 1914, als sie ohne irgendeinen Einfluß auf die Kriegspolitik dem Kaiser Kredite bewilligte, 1919, als sie der Reichswehr die Republik anvertraute, 1920, als sie vor dem General Seeckt kapitulierte, 1932, als sie ihre preußische Bastion mit verbindlicher Selbstverständlichkeit räumte, hat sie sich den Ruf eines ehrpusseligen Schuttabräumers erworben, dem hinterher mit einem Fußtritt gedankt wird.
Dem Kanzler Kiesinger hat die SPD das Seil gespannt und die Balancierstange hinaufgereicht, damit er seine Schaunummer zwischen Wehner! Brandt links, Barzel/Strauß/Guttenberg rechts vor allem Wählervolk abwedeln kann. Dieser Kanzler versteht sich aufs Scheinen, Ob er regiert, wird gar nicht entscheidend zu Buch schlagen. Jedenfalls beherrscht er die Kunst, es die Leute glauben zu machen.
Daß Brandt als Außenminister ebenso respektabel ist wie als Bürgermeister von Berlin, mag ihn persönlich beglücken -- für die Wähler bedeutet es zuwenig. Er steht im Schatten, als Gehilfe eines für die Außenpolitik passionierten Kanzlers.
Da doch der Spielraum der Entscheidungen sich ohnehin, durch die Apparaturen ständiger Anpassung, ständig einengt: Warum mußte die SPD ihn noch künstlich, durch Anpassung an die CDU, schrumpfen lassen?
Da doch die immer komplizierteren Zusammenhänge den Wählern immer unzugänglicher werden: Warum mußte man die Konturen der SPD im Einheitsbild verschwimmen machen?
Da das Gefühl für die Verbrauchtheit der CDU alle Schichten und Kreise durchsäuerte: Warum mußte Wehner die CDU als Kanzler-Partei wiederherstellen, warum den Regierungswechsel überflüssig und lächerlich machen?
Angst und bänglich kann einem werden, wenn Helmut Schmidt ausklingelt, die CDU habe »nur« einen guten Kanzler und die CSU »nur« einen vitalen Vorsitzenden wo es der SPD an beidem zu fehlen scheint. Muß die SPD konstatieren, daß Kiesinger »gut« ist? Wer Kiesinger und Strauß zusieht, und wer daneben die SPD-Minister betrachtet, dem keimt freilich ein idyllischer Verdacht:
Diese SPD-Leute werden nämlich ihr Ministerium vorbildlich wahrnehmen. Aber sie sind froh, die Zweiten zu sein. Sie wollen nicht mehr. Sie haben Kiesinger für die Wahlen 1969 zum Sieger präpariert, und sie haben Strauß moralisch geradezu aufgepäppelt, damit sie ihm 1973 wieder opponieren können. Wenn Strauß 1973 nicht Kanzler wird, mit einer durch ein neues Wahlgesetz erzwungenen absoluten Mehrheit, hat es gewiß nicht an der SPD gelegen, die ihr Möglichstes an Gedankenlosigkeit tut, ihm die Leiter zu halten.
Herbert Wehner freilich, der will mehr (obwohl er eben nicht Kanzler werden wollte). Aber das hilft nun nichts, ein Übermensch ist er auch nicht. Wer eine Politik will, muß auch ihre Konsequenzen wollen. Sechs Jahre hat er gerackert, um die SPD zum Junior-Partner der CDU zu machen, und das ist sie nun.
Wüßte man nicht, daß Kiesinger die SPD im Wahlkampf einstweilen schonen will, um sie durch schlechte Wahlergebnisse nicht aufsässig zu machen, könnte man an einen infamen Trick glauben: Eine SPD, die von der CDU geschont werden muß, ist schon ein umgekehrter Wahlschlager. Sagen die Politiker der beiden Parteigruppen im Wahlkampf mal ein deutliches Wort, so versichern die Partei-Zentralen in Bonn, laut »Welt«, daß »solchen Äußerungen als Beiträgen zum niedersächsischen Wahlkampf nur geringe Bedeutung zukomme« -- Äußerungen, die sich die Parteien demnächst zur Gänze vom Steuerzahler erstatten lassen wollen.
Wer erklärt einem die Logik der SPD? Weil der Genosse Trend sich letzthin in Bayern und Hessen verspätet hat, mußte die SPD in eine Kombination, die, was immer sie leistet, der SPD den gleichen Anteil an den Prügeln, den Christen aber, die ohnehin acht Prozent Vorsprung haben, die Kanzler-Prämie des Erfolges einträgt. Man will Wehner gern glauben, daß er letzten Herbst nicht die Nerven verloren hat. Aber welche Brille trug er, als er seine Nerven behielt?
Wie es scheint, die Emigranten-Brille. Brandt und Wehner, beide konnten sich vor Rührung kaum fassen, daß ein früherer Kommunist und ein früherer Spanien-Kämpfer neben richtigen CDU-Menschen Minister werden konnten
Der mindeste Vorwurf, den sich Wehner und Brandt gefallen lassen müssen, besagt, daß sie ihre Vergangenheit nicht von der Zukunft der Partei getrennt haben. Die SPD hätte den ihr zukommenden Platz einnehmen können, wenn sie gewartet hätte. Daß sie nicht gewartet hat, geschah weniger mit Rücksicht auf die Kader der Partei als auf die Wunden ihrer Führer.
Just als der Wahlsieg in Nordrhein-Westfalen bewiesen hatte, daß man nicht Minister stellen muß, um Stimmen zu gewinnen, schalteten sie in den Rückwärtsgang: Lieber weniger Stimmen, dafür aber im Salon. Einen Sozialdemokraten, nicht Wehner und nicht Brandt, hörte man sagen: »Bis 1969 wäre der Laden so verfahren, daß uns dann auch eine absolute Mehrheit nichts mehr nützen könnte.« So spricht die Ohnmacht.
Sie spricht mit zwei Zungen. Denn entweder befürchtet man, daß die CDU es schaffen, oder daß sie es nicht schaffen werde. Beides zusammen kann auch der ängstlichste Mann nicht befürchten.
Wär"s nur um die SPD zu tun, müßten wir uns nicht aufregen. Nur ist ja leider wahr, daß ohne einen Wahlsieg der SPD die deutsche Demokratie nicht konsolidiert, auch gar nicht etabliert werden kann.
Ihn auf absehbare, auf unabsehbare Zeit verhindert zu haben, kann Herbert Wehner sich zurechnen, und Willy Brandt, und Helmut Schmidt, und alle, alle. Denn eine ernsthaft retardierende Stimme hat es, wie so oft, wenn in der deutschen Geschichte ein Unglück passierte, nicht gegeben.
Wenn es stimmt, daß die Unkerei über das Schwächerwerden der Bonner Demokratie während des zurückliegenden Halbjahres nachgelassen hat, so könnte dies zwei Gründe haben, deren einer den anderen nicht rundweg ausschließt. Einmal könnte die Bildung eines Kabinetts der potentesten Partei-Männer jene Besorgnisse gemildert haben, deren Stichhaltigkeit zu Erhards Schlußzeiten offen ans Licht trat.
Zweitens aber könnte die vorwärtstreibende Kritik in Zaungast-Lethargie (oder blindes Protestieren) umgeschlagen sein, weil ihr jede Aussicht genommen scheint, auf eine parlamentarische, auf die einzige institutionelle Fronde also, einzuwirken.
Dies wäre denn ein einzigartiger Erfolg des Strategen Herbert Wehner: daß es ihm nicht nur gelungen ist, die SPD auf den zweiten Platz zu verweisen, sondern darüber hinaus, die außparlamentarische Opposition zu entmutigen und die parlamentarische lahmzulegen. Drei auf einen Streich.
Sechs Jahre hat Herbert Wehner sich angestrengt, die Bundesrepublik oppositionslos zu machen, Daß Demokratie ohne Opposition nicht möglich ist, konnte er mit seinem Naturell vielleicht nicht wissen; daß die SPD ohne Kampf nicht an die Macht kommen würde, hätte er wissen können. Da ist wieder mal ein Tannenberg-Denkmal fällig.