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Artikel 39 / 67

Spion im Lager der Mörder

aus DER SPIEGEL 3/1969

3. Fortsetzung und Schluß

Kurt Gerstein war tot, seine sterbliche Hülle nach der Verkleinerung des Pariser Thiais-Friedhofs verschwunden. Rätselhaft wie sein beben blieb auch sein Tod. Erst vier Jahre nach Gersteins Ende erfuhr seine Witwe, daß der Kronzeuge der nationalsozialistischen Massenverbrechen in einem französischen Militärgefängnis am 25. Juli 1945 Selbstmord verübt habe.

Jede Spur Gersteins schien ausgelöscht zu sein: der Tote unter einem falschen Namen begraben, die Akten über seinen Fall in den militärischen Geheimarchiven Frankreichs verschwunden, die Briefe nicht mehr auffindbar, in denen er die Gründe seines Selbstmords dargelegt haben sollte.

Die Erinnerung an den »Spion Gottes in der Uniform des Teufels«, wie ihn Gerstein-Biograph Franz genannt hatte, war so gründlich ausgetilgt, daß Elfriede Gerstein sich und ihren Mann als Opfer einer raffinierten Verschwörung sah. An den Selbstmord Gersteins mochte sie nicht glauben: »Nein, das ist ausgeschlossen. Er ist ermordet worden. Seiner ganzen Persönlichkeit, seinen Plänen und seinem Glauben nach ist Selbstmord unmöglich.«

Die Witwe wollte sogar »wegen der Mordaufklärung« nach Paris reisen und die »Wahrheit ergründen«, denn immer deutlicher wurde ihr, daß die deutsche Nachkriegsgesellschaft nur allzu gerne den einzigen Deutschen zu vergessen wünschte, der das Ausland über die deutschen Verbrechen informiert und die Mordmaschine zu sabotieren versucht hatte.

Elfriede Gerstein sah sich einer Mauer des Schweigens gegenüber. »Mir wurde nach dem Kriege«. erinnert sie sich nicht ohne Entrüstung, »von vorübergehend maßgeblicher Stelle ein Wort gesagt, das ich nicht vergessen kann: Mein Mann hätte wissen müssen, daß er als einzelner doch nichts ausrichten kann. Und ein weiteres: Man habe meinen Mann nicht gebraucht, .um das alles zu erfahren, das habe man auch so gewußt!«

Den lästigen Zeugen großdeutschen Herrenwahns hätte die Nation bequem vergessen können, wäre nicht der tote Kurt Gerstein in den wunderlichen Automatismus der Entnazifizierung geraten. Eine Spruchkammer in Tübingen unternahm, was besorgte Freunde Gersteins dem in das Schwarze Korps eingetretenen Bekenntnis-Christen immer prophezeit hatten: Die Entnazifizierer belangten ihn wegen seiner Dienststellung im SS-Apparat.

Was nutzte es nun, daß der französische Militärkommandant von Reutlingen dem Ehrenhäftling Gerstein 1945 bestätigt hatte: »Der Inhaber dieses Ausweises ist kein wirklicher SS-Mann und darf nicht als solcher behandelt werden« -- die Perfektionisten der Entnazifizierung bemerkten nur die formale Belastung des ehemaligen SS-Obersturmführers und rollten den Fall auf.

Nie konnte geklärt werden, warum die Entnazifizierer ausgerechnet den Gegner der Massenvernichtung abzuurteilen wünschten. Artikel 37 des von den Alliierten erlassenen »Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« sah ein Verfahren gegen verstorbene Funktionäre des Dritten Reiches nicht zwingend vor; eine Kann-Vorschrift erlaubte lediglich, ein Verfahren anzuordnen, »wenn der Betroffene als Hauptschuldiger oder Belasteter im Sinne des Gesetzes anzusehen ist«.

Keiner Spruchkammer war je in den Sinn gekommen, den Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) und Chef-Beauftragten der Endlösung, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, postum zu verurteilen -- den Saboteur der Endlösung aber hielten die Tübinger Entnazifizierer für belastet genug, ein Verfahren gegen ihn zu eröffnen. Dem seltsamen Prozeß entsprach das Urteil.

Nach Prüfung recht lückenhafter Dokumente und Zeugenaussagen entschied die Kammer am 16. November 1950, Gerstein sei in die Gruppe der Belasteten einzuordnen, in jenen Personenkreis, der vom Entnazifizierungs-Gesetz mit den Vokabeln »aktive Militaristen« und »Nutznießer« umschrieben wird. Das Urteil hielt fest: Trotz »einer Tat des Widerstandes« könne man Gerstein angesichts »der Scheußlichkeit der begangenen Mordtaten nicht von seiner Mitverantwortung freisprechen«.

Gerstein, so argumentierte die Kammer, habe Deutsche und Ausländer über NS-Verbrechen informiert, zwei Blausäure-Lieferungen unbrauchbar gemacht und sich dabei »den größten Gefahren ausgesetzt": Das seien Milderungsgründe, die es ausschlössen, den SS-Obersturmführer als einen Hauptkriegsverbrecher einzustufen; allerdings könnten die Widerstandshandlungen Gerstein nicht von der Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen entlasten.

Die Kammer folgerte: »Nach dem, was er im Lager Belzec gesehen hatte, hätte sich Gerstein einer weiteren Mitwirkung bei der organisierten Vernichtung mit allen Kräften widersetzen sollen. Die Spruchkammer hält dafür, daß er nicht alles in seiner Macht Stehende diesbezüglich unternommen hat, und daß er zweifellos noch andere Möglichkeiten hatte, sich einer solchen Mitwirkung zu entziehen ... Daß er als Einzelgänger die Vernichtung nicht verhindern und auch keine Menschenleben, und wenn auch nur in geringer Zahl, retten konnte, hätte ihm nach dem Gesehenen klar sein sollen.«

Damit hatte die Tübinger Spruchkammer ein Urteil gefällt, das praktisch besagte, es wäre noch immer besser gewesen, den Massenverbrechen des Nationalsozialismus schweigend und untätig zuzuschauen, als sie -- und sei es in noch so kleinem Rahmen -- zu sabotieren. Im Lichte solcher Logik wurde der Endlösungs-Saboteur Gerstein eindeutig zum Endlösungs-Funktionär.

Elfriede Gerstein bäumte sich gegen das Urteil auf, zumal sie durch die von der Spruchkammer verfügten »Sühnemaßnahmen« aller Rentenansprüche beraubt worden war -- während die Witwe Heydrichs nach wie vor eine ansehnliche Rente beziehen durfte. Mehr als der Entzug der materiellen Lebensgrundlage aber schockierte Elfriede Gerstein, was ihr schon im Dritten Reich »schrecklich« gewesen war: »als SS-Frau angesehen zu werden«.

Unermüdlich versuchte sie, eine Revision des Gerstein-Urteils zu erwirken. Im Oktober 1955 reichte sie beim Justizministerium Baden-Württembergs ein Gnadengesuch ein, in dem sie bat, ihren Mann in die Gruppe der Entlasteten umzustufen. Das Ministerium lehnte ab.

Frau Gerstein resignierte. Da erhielt sie unerwartet Unterstützung: Freunde und Bewunderer Gersteins vereinigten sich zu einer Kampagne für die Ehrenrettung des toten SS-Mannes; der Kampf für Gerstein setzte sich auf bundesdeutschen Bühnen fort und ergriff sogar Kirchenmänner und Politiker.

Schon 1953 hatte der Historiker Hans Rothfels mit einem Beitrag in den »Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte« den Anfang gemacht. Er veröffentlichte den Gerstein-Bericht von 1945 und zeichnete dabei das Bild eines konsequenten Widerstandskämpfers, der »trotz früher Parteizugehörigkeit ein leidenschaftlicher, ethisch-religiös bestimmter Gegner der nationalsozialistischen Kirchen- und Rassenpolitik« gewesen sei.

Der Rothfels-Aufsatz löste eine Welle der Sympathiebekundungen für Gerstein und seine Witwe aus, Freunde und Partner boten ihre Hilfe an.

Vom Kirchenpräsidenten Niemöller bis zu dem Hagener Superintendenten Rehling gab es kaum einen geistlichen Gesprächspartner Gersteins, der sich nicht zu dem Toten bekannte. Gerstein-Freundin Alexandra Balz formulierte: »Es müßte eine Stelle ausfindig gemacht werden, die diesem ganz besonders gelagerten Fall Gerstein auf eine humane Art Gerechtigkeit zukommen läßt und seine Angehörigen wenigstens vor materieller Not schützt.«

Der christliche Publizist Gert H. Theunissen, Kulturredakteur am Westdeutschen Rundfunk, nahm sich vor, die erste Gerstein-Biographie zu schreiben. Er sammelte Augenzeugenberichte, arbeitete Spruchkammer-Akten durch und durfte die Privatpapiere Elfriede Gersteins einsehen.

Sein Gerstein-Porträt, im April 1957 an den WDR-Mikrophonen vorgetragen, vertiefte noch das Bild des Widerstandskämpfers, denn dem Chronisten Theunissen erschien Gerstein als ein Mann, »der sich in den Abgrund stürzte, damit er sich schlösse und unser Vaterland von den satanischen Gewalten befreit werde«.

Die sich immer deutlicher abzeichnende Gerstein-Renaissance bewog den Dramatiker Rolf Hochhuth, sich Gerstein zur Gegenfigur des Papstes in seinem Pius-XII.-Stück »Der Stellvertreter« zu erwählen. Der ehemalige SS-Obersturmführer, der den Richtern des Frankfurter Degesch-Prozesses noch 1955 als »ein verhältnismäßig kleines Rad in einer ungeheuren Maschinerie« erschienen war, polterte nun als eine Art Urrevolutionär über die Bretter, Symbolfigur des Protestes gegen Verbrechen und menschliche Feigheit. Frau Gerstein stimmte zu: »Hochhuth hat meinen Mann zweifellos richtig begriffen.«

Der spektakuläre Erfolg des Hochhuth-Dramas spülte auch die letzten Vorbehalte gegen Gerstein hinweg. »Als »Der Stellvertreter' auf die Bühne kam,« kommentierte die Wiener »Volksstimme«, »stand vor Hunderttausenden Menschen in vielen Ländern Gerstein aus dem Grab auf -- und Hunderttausende hörten, wie man mit ihm verfahren war.«

Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. H. G. van Dam, rief schließlich die Landesregierung von Baden-Württemberg auf, sie müsse »die erforderlichen Schritte ergreifen« und Gerstein rehabilitieren. Als die Regierung zögerte, nahm sich der jüdisch-polnische Kaufmann und ehemalige KZ-Häftling Issy Wygoda des Falles an: Er ließ sich von Frau Gerstein zur Vertretung ihrer Ansprüche bevollmächtigen und verhandelte mit der Landesregierung in Stuttgart.

Vor solchen Pressionen wich der Stuttgarter Regierungschef Kurt Georg Kiesinger zurück. Am 21. Januar 1965 verfügte er: »Kurt Gerstein wird aufgrund des Gesetzes zur einheitlichen Beendigung der politischen Säuberung vom 13. Juli 1953 in die Gruppe der Entlasteten umgestuft.« Gerstein, so erklärte Kiesinger, sei ein Mann gewesen, »der versuchte, den Auftrag seines Gewissens zu erfüllen«.

Das Staatsministerium erläuterte, Gerstein sei damit voll rehabilitiert worden, weil anerkannt werde, daß er »nach Kräften aktiven Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistet und dadurch Nachteile erlitten« habe. Frau Gerstein erhielt eine Kriegshinterbliebenen-Rente -- monatlich 120 Mark.

In der Genugtuung über die Rehabilitierung Gersteins aber ging unter, daß durch den gutgemeinten Kreuzzug zu Ehren Kurt Gersteins eine neue Legende entstanden war. Die Verteidiger verzeichneten das Gerstein-Porträt fast ebenso, wie es die Verfasser des Spruchkammer-Urteils getan hatten. Folgte man den Ausführungen der Verteidiger, so war Gerstein ein konsequenter Gegner des Nationalsozialismus gewesen, der seil 1933 das braune Regime bekämpft hatte, wegen seines Eintretens für die Bekenntniskirche in Gefängnisse und Konzentrationslager geworfen worden und als bewußter Christ in die SS eingetreten war.

»Weitab von aller Koketterie mit jener Macht, die in der SS ihre sogenannte Elite verherrlichte« (so Theunissen), habe sich Gerstein durch eine meisterhafte Tarnung eine einflußreiche Stellung »in der Reichsführung der SS« (so Kirchenrat Wehr) oder gar »im Stabe von Himmler« (so Rehling) gesichert. Dabei seien Menschen von ihm gerettet worden, ohne daß er selber »jemals auch nur in die Versuchung gekommen wäre, sich für den Nationalsozialismus einzusetzen« (Niemöller).

Solche Fehldeutungen konnten den Interpreten unterlaufen, weil sie die Erklärungen und Selbstdarstellungen Gersteins allzu wörtlich nahmen. »Ich bezweifle kein Wort seiner von ihm selbst gegebenen Darstellung«, so Niemöller, »und bin überzeugt, daß jeder Zweifel daran ihm Unrecht tut.«

Keinem der Apologeten fiel jedoch auf, daß die überlieferten Äußerungen Gersteins eher über seine Vorstellungen als über seine Taten Auskunft geben. Der neurotisch-nervöse Jugendführer fand nur schwer ein nüchternes Verhältnis zur Wirklichkeit; oft erträumte er sich Rollen, die ihm geschichtsträchtigen Einfluß auf seine Umwelt gewährten.

Ob er als evangelischer Jugendführer das Neuheidentum der NSDAP bekämpfte oder christliche Gesangbücher im Sinne Alfred Rosenbergs »reinigte«, ob er sich für die sittliche Sauberkeit in Friseurläden ereiferte oder den Massenmord im Osten enthüllte -- selten konnte er sich anders denn in einer führenden Position sehen.

Seiner Frau rief er einmal zu: »Man wird von mir hören, verlaß dich drauf! Du wirst dich wundern, was ich alles getan habe.« Die Alliierten erfuhren von ihm, als Geheimagent für Pastor Niemöller habe er einen höheren Posten in der NSDAP erhalten und an Besprechungen teilgenommen, in denen über das Leben von KZ-Häftlingen entschieden worden sei. In der SS wollte er »an führender Stelle« gewirkt und durch seinen Belzec-Bericht »erheblichen Einfluß auf die schwedisch-deutschen Beziehungen gehabt« haben.

Nahm er an einer Besprechung mit dem 55-Brigadeführer Odilo Globocnik teil, so wandte der sich »ausschließlich an mich«. Mußte er sich vor einem Parteigericht wegen NS-feindlichen Verhaltens rechtfertigen, so verwies er »auf meine jahrelange Abwehr gegen jüdisch-bolschewistische Angriffe gegen die deutsche Volkskraft, die ich, als ich von meiner Kirche im Stich gelassen wurde, auf eigene Faust und Kosten unter einem ungeheuren Arbeitsaufwand endlich zu einem siegreichen Ende habe führen dürfen«.

So sah er sich immer wieder: in vorderster Front, stets den Atem der Geschichte im Nacken, vom Schicksal dazu ausersehen, Vaterland und Jugend auf den rechten Weg zu führen. Der messianische Drang in ihm, das Gefühl der Auserwähltheit, setzte sich in hektische Unruhe um, in eine Gereiztheit der Sinne, die ihn seine Rollen in grotesker Vergrößerung sehen ließ.

Gewiß, den Geheimagenten Niemöllers auf einem hohen NS-Posten hatte es nie gegeben -- noch im Krieg hegte Niemöllers Frau Bedenken, ob man dem Nicht-Pg Gerstein Päckchen für den verhafteten Pastor im KZ Dachau anvertrauen könne. Der Einfluß auf die deutsch-schwedischen Beziehungen -- eine Wunschvorstellung Gersteins. Der siegreiche Alleinkampf gegen den Bolschewismus -- eine Utopie. Dennoch glaubte er an seine Star-Rolle.

Er steigerte sich in eine solche Betriebsamkeit, daß ihm selbst das Essen als eine lästige Unterbrechung galt und daß es sein Freund Franz »durchaus strapaziös« fand, »längere Zeit mit ihm zusammen zu sein«. Der Aktivis-

* Philip Bruns als Gersteln und Jeremy Brett als Ricardo In einer Aufführung des Hochhuth-Dramas »Der Stellvertreter« im New Yorker Brooks-Atkinson-Theater, 1964.

mus-Kult der Jugendbewegung ließ ihn nicht mehr aus seinem Bann; es trieb ihn vorwärts, in jede Bewegung, die Kampf, Aufregung und Taten versprach.

Nur so läßt sich bei Gerstein erklären, was sich im Grunde jeder logischen Deutung entzieht: Er trat in die Partei ein und arbeitete sich in die vordersten Ränge der evangelischen Jugendbewegung vor, die einen verzweifelten Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus führte. Er störte nazistische Weihefeiern und schwor dem Führer unwandelbare Treue. Er attackierte den Arbeitsdienst, wurde mit einem Redeverbot belegt und mühte sich doch jahrelang, seinen Ausschluß aus der Partei rückgängig zu machen.

Er verschickte mit dem Geruch der Staatsfeindlichkeit behaftete Schriftstücke der Bekenntniskirche und konnte sich doch in einem Brief an seinen Vater rühmen: »Ich selbst habe Niemöller öfter gewarnt und ihn darauf aufmerksam gemacht, daß sein Kurs nicht der Kurs der jungen Mannschaft sei, die sich froh und geschlossen hinter das politische Wollen des Führers stelle.«

Er geißelte die geistige Unfreiheit im Dritten Reich und war zugleich stolz auf seine »große Arbeit für die Deutsche Arbeitsfront«. Er stellte sich im Kampf gegen die Christenfeinde der NSDAP auf die Seite der Kirche und konnte zur selben Zeit darangehen, evangelische Kirchenlieder ("Lied für Lied, Vers für Vers, Zeile für Zeile") im NS-Sinne zu »entjuden« und in einer Broschüre mit dem Titel »Deutscher Glaube, christlicher Glaube, arteigene Religion« gegen Darstellungen der Beschneidung Christi ("Dieser Unfug im germanischen Lebensraum") anzugehen.

In mutigen Reden widersetzte er sich dem Terrorsystem der Gestapo und befürwortete zugleich noch schärfere Polizei-Eingriffe auf dem sexuellen Gebiet: »Befreiung der Schaufenster von Drogerien, Friseurgeschäften usw. von Attrappen und Reklamen empfängnisverhütender Mittel und Gegenstände, ... Verschwinden müssen auch die getarnten Reklamen hierfür ... die ganze Gemeinheit dieser von Juden ausgetüftelten Spekulation und Sauerei.«

Zwischen den unsichtbaren Fronten innerhalb des Dritten Reiches rochierte der ewige Jüngling hin und her, heute ergebener Paladin des Führers, morgen empörter Rebell wider das Unrechtssystem des Nationalsozialismus.

Später freilich, als er in den letzten Wochen vor dem Tod den nach ihm benannten Bericht verfaßte, versuchte Gerstein, in die Ungereimtheiten seines Lebens Ordnung zu bringen. Da ging ihm auf, daß er von jeher im Widerstand gegen die Hitler-Diktatur gestanden hatte und stets im Lager der Opposition zu finden gewesen war.

Da war er »aktiver Anhänger von Brüning und Stresemann« gewesen und »seit Juni 1933 von der Gestapo verfolgt wegen christlicher Betätigung gegen den Nazi-Staat«. Auf einmal erhielt alles seinen Sinn: sein Ausschluß aus der NSDAP, seine Entlassung aus dem Staatsdienst, der erste Zusammenstoß mit der Gestapo. Seine Untersuchungshaft im Herbst 1936 sah er denn auch als Konsequenz der »religiösen Betätigung für die Bekenntnis-Kirche«. Gerstein »Diese erste Verhaftung erfolgte wegen Versendung von 8500 staats(nazi)-feindlicher Broschüren.«

Er hatte offenbar verdrängt, daß ihm nicht die Versendung von 380 Broschüren zum Verhängnis geworden

* Vor einer Bibelkreis-Gruppe im Jugendlager Berchum bei Hagen, 1935.

** Zur Zeit der zweiten Verhaftung Gersteins gab es im Deutschen Reich sechs KZ: die Männerlager Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Mauthausen und Flossenbürg sowie das Frauenlager Lichtenburg. war sondern ein Scherz, in dem der Gerstein-Biograph Burkhardt »kommunardenhafte, spätpubertäre Züge« erkennt: Gerstein hatte Plakatzettel mit der Aufschrift »Abteil für Reisende mit ansteckenden Krankheiten' oder »Abteil für Reisende mit tollwütigen Hunden« verteilt.

Eine nationalsozialistische Zeitung nahm den Scherz übel und alarmierte die Gestapo, die nun in der Tat die regimekritischen Kirchenbroschüren in der Wohnung Gersteins fand. Ein Verfahren wurde gegen ihn eröffnet, jedoch im März 1937 niedergeschlagen.

Nicht präziser waren Gersteins Erinnerungen an die zweite Verhaftung im Juli 1938, die er auch im Zusammenhang mit dem Kirchenkampf sah. Seine »Einlieferung in das Konzentrationslager Welzheim wegen staatsfeindlicher Betätigung« bleibt eine ungeklärte Affäre, denn Welzheim besaß kein KZ, wohl aber ein Arbeitserziehungslager der Polizei. In ihm wartete Gerstein auf das Strafverfahren, das dann wegen Unerheblichkeit eingestellt wurde**.

Mit Sicherheit aber stand er nicht mehr eindeutig im Dienst der Bekenntniskirche.« Seit September 1936 habe ich mich nicht mehr für die Bekennende Kirche betätigt«, schrieb er schon im Oktober 1938 an seinen Vater. Er hatte inzwischen beschlossen, sich dem Regime weitgehend anzupassen und die Rückkehr in die Partei durch den seltsamsten und umstrittensten Schritt seines Lebens zu erzwingen: den Eintritt in die SS.

Aber auch dieses Ereignis wollte der Denkschriften-Autor von 1945 als einen bewußten Akt des Widerstands gedeutet sehen: »Als ich von der beginnenden Umbringung der Geisteskranken in Grafeneck und Hadamar und andernorts hörte, beschloß ich, auf jeden Fall den Versuch zu machen, in diese Ofen und Kammern hineinzuschauen, um zu wissen, was dort geschieht. Dies um so mehr, als eine angeheiratete Schwägerin -- Bertha Ebeling -- in Hadamar zwangsgetötet wurde.«

Gerstein verlegt damit seinen SS-Eintritt in das Frühjahr 1941. Nun ist unbestreitbar, daß er damals gegenüber seinen Freunden diesen Schritt mit Widerstands-Motiven begründet hat. Superintendent Rehling erinnert sich an das Gerstein-Argument, die Gewalttaten des Regimes ließen sich nicht von außen her verhindern, sondern nur von innen, von Menschen, die am Schalthebel säßen und verbrecherische Befehle hintertreiben könnten.

Tatsächlich aber hatte sich Gerstein bereits anderthalb Jahre vor dem Tod seiner Schwägerin zur SS gemeldet. In einem »Lebenslauf« für die SS-Akten schrieb er: »Da es sich jetzt ermöglichen ließ abzukommen, habe ich nunmehr um Berücksichtigung meiner im Oktober 1939 abgegebenen freiwilligen Meldung gebeten.«

Die Geschichte seines Weges in die SS läßt sich heute dokumentarisch genau belegen. Am 17. August 1940 fuhr Gerstein nach München, um in der Parteizentrale ein Gnadengesuch für die Wiederaufnahme in die NSDAP vorzulegen. Er wurde abgewiesen und an den Probe-Assessor Arlt vom Obersten Parteigericht weitergeleitet, der ihm zu verstehen gab, Gerstein müsse sich erst noch »bewähren«, ehe ihn die Partei erneut aufnehme. Gerstein versprach, sein »Vorbringen möglichst glaubhaft zu machen«, und verpflichtete sich zwölf Tage später definitiv bei der SS-Annahmestelle Eisenach zum Dienst in der SS -- in der brutalsten Truppe Himmlers, den KZ-bewachenden Totenkopfverbänden.

Aus der Laufbahn in den Totenkopfverbänden entwickelte sich jedoch eine Karriere im Sanitätsdienst der Waffen-SS. Gerstein wurde zunächst Untersturmführer und Sonderführer. er kam als medizinisch-technischer Spezialist zur Fachgruppe »Kriegswesen« des SS-Führungshauptamtes, man kommandierte ihn in die Abteilung »Trinkwasserbeschaffung« im Hygiene-Institut der Waffen-SS.

Er baute eine neue Abteilung ("Gesundheitstechnik") auf und konstruierte Entlausungs- und Trinkwasserzüge für die Truppe. »Die Waffen-SS«, so der Leiter des Instituts, »ist von allen Wehrmachtsteilen der einzige, der über ein eigenes Konstruktionsbüro dieser Art verfügt und sich nicht in die Abhängigkeit von Privatfirmen begeben hat. Der Vorsprung vor anderen Wehrmachtsteilen ist daher verständlich. Er ist in erster Linie Gerstein zu verdanken.«

Gerstein wußte sich von seinen Vorgesetzten geschätzt und gefördert. Inzwischen hatte man ihm das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern angeheftet, und auf die Beförderung zum Obersturmführer würde er nicht mehr lange zu warten brauchen.

Da aber führte ihn das erschütternde Erlebnis einer Massenvernichtung im Lager Belzec an die unüberschreitbare Grenze, die seiner Anpassung an das NS-Regime gezogen war. Von da an wußte Gerstein, daß er niemals einer der ihrigen werden würde. Alles in ihm bäumte sich auf gegen die Mordmaschine, in der ihm der Zufall eine Funktion zugewiesen hatte: die Aufgabe der Blausäure-Beschaffung.

Freilich wird man auch hier Gersteins Bericht nicht unkritisch übernehmen dürfen. Nach Kriegsende wollte er sich erinnern, daß eines Tages im Juni 1942 der SS-Sturmbannführer Rolf Günther vom Reichssicherheitshauptamt in Gersteins Zimmer getreten sei und ihm befohlen habe, 100 Kilo Blausäure zu besorgen und mit Günther in das Vernichtungslager Belzec zu fahren.

Auf der Fahrt, so erzählt Gerstein weiter, habe sich ihnen der SS-Sturmbannführer und Hygiene-Professor Wilhelm Pfannenstiel angeschlossen. In Lublin seien sie alle von dem SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik empfangen worden, der ihnen eröffnet habe, kürzlich sei Hitler bei ihm gewesen und habe zu beschleunigter Massenvernichtung der Juden gedrängt; die Sache sei geheim, erst kürzlich habe Globocnik zwei schwatzhafte SS-Männer erschießen lassen,

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, was der Historiker Rothfels meinte, als er schrieb, der Gerstein-Bericht leide an »Übergenauigkeiten im Nebensächlichen«. Alles deutet darauf hin, daß Gersteins Bericht über die Vorgeschichte der Belzec-Reise ebenso anfechtbar ist wie seine Angabe über die Höhe der NS-Morde ("25 Millionen") oder seine Darstellung über Vergasungen im Lager Theresienstadt.

Schon Adolf Eichmanns subalterner Verstand wehrte sich gegen die Behauptung, ein Sturmbannführer habe einen unter ihm stehenden Obersturmführer aufgesucht, ganz zu schweigen von der für NS-Bürokraten ungeheuerlichen Vorstellung, der Angehörige eines SS-Hauptamtes habe dem Mitglied eines anderen SS-Hauptamtes Befehle erteilt. Tatsächlich kamen die Befehle für Gersteins Blausäure-Transporte von dem Reichsarzt-SS und Polizei, dem das Hygiene-Institut unterstellt war. Berührungen mit dem Reichssicherheitshauptamt ergaben sich dabei nicht.

Der einzige Überlebende der Gerstein-Mission, der Mitfahrer Pfannenstiel, konnte sich denn auch nie erinnern, daß der RSHA-Funktionär Günther den Transport nach Belzec begleitet hatte. Ebenso fragwürdig ist die Globocnik-Szene: Hitler hat niemals ein Vernichtungslager besucht, ja in der fraglichen Zeit (Sommer 1942) das Führerhauptquartier nicht verlassen.

Dennoch ist kein Zweifel daran erlaubt, daß Gerstein vor den Gaskammern von Belzec wirklich erlebt hat, was er in seinem Bericht beschreibt. Sicherlich kann man mit Rothfels fragen, ob »solche Genauigkeit der Beobachtung überhaupt im erregenden Moment möglich« sei -- Gerstein wollte noch genau wissen, daß in Belzec 200 Ukrainer gearbeitet, hundert Stühle im Friseur-Raum des Lagers gestanden und zwölf bis dreizehn Peitschenhiebe das Gesicht eines Ukrainers getroffen hatten.

Fast jedes Detail der Massenvernichtung in Belzec hatte sich ihm eingeprägt. An der Richtigkeit seiner Aussagen wurde nie gezweifelt, selbst der SS-Professor Pfannenstiel bestätigte die Belzec-Passagen Gersteins, obwohl er den übrigen Bericht für eine »Mischung von Dichtung und Wahrheit« hielt. Für den israelischen Vernehmer Eichmanns, Polizeihauptmann Avner Less, ist der Gerstein-Bericht »eines der wichtigsten Dokumente, weil er zum erstenmal eine genaue Schilderung der Vorkommnisse in Vernichtungslagern brachte«.

Die Erlebnisse in Belzec erschütterten Gerstein derart, daß er sie nie aus seinem Gedächtnis löschen konnte, Jetzt endlich wußte er, was er In der SS zu tun hatte: Menschen zu helfen und das »Schlimmste« zu verhüten. Nicht einen Augenblick zögerte er, die Welt über die nationalsozialistischen Massenverbrechen zu informieren und das Ausland zu Hilfsaktionen für die Opfer des Endlösungs-Programms anzuspornen.

Mit Tränen in den Augen ("Helfen Sie, helfen Sie") beschwor er seine Gesprächspartner in kaum noch zu bändigendem Zorn, ein Einzelgänger, den nur noch das eigene Gewissen lenkte. Er nahm jede Gefahr auf sich, wenn er glaubte, Blausäure-Lieferungen verschwinden lassen zu können und bedrohte Menschen warnen zu müssen. Wer immer seine Hilfe erbat, stets fand er Gerstein zu jeder Unterstützung bereit.

Hatte er aber auch damit den Bruch mit dem Regime vollzogen, dessen Uniform er noch trug? Er führte seine doppelte Rolle, an die er seit langem gewöhnt war, auf eine weit furchtbarere, fast krankhafte Art fort: am Tage der dienstbeflissene SS-Führer, am Abend der verbitterte Regime-Gegner, der aus seinem lautdröhnenden Radiogerät die Sendungen des Londoner Rundfunks durchs Haus tönen ließ.

Er glich fast jenem hilfsbereiten Arzt Dr. Jekyll aus Robert Louis Stevensons Erzählung, der sich nachts mittels Drogen in den finster-brutalen Mr. Hyde verwandelt. Jede neue Mordaktion, jede neue Untat der Nazis verstrickte Gerstein in die Ausweglosigkeit seiner Jekyll-Hyde-Rolle und verschlimmerte die körperlichen und seelischen Leiden, die ihn nicht mehr zur Ruhe kommen ließen.

Der Mann, der die Menschen seines Vertrauens zum Widerstand gegen den nationalsozialistischen Terror aufrief, diente weiterhin korrekt dem SS-Apparat und vertrat die Interessen des Regimes. Die Vorgesetzten kannten ihn nur als ergebenen Nationalsozialisten, sie beförderten ihn gerne zum SS-Obersturmführer.

Er offenbarte solchen Eifer, daß ihn sogar die SS-Führung dämpfen mußte. Gerstein hatte Anfang 1943 die Bergwerksgesellschaft »Wintershall AG«, der er einst selber angehört hatte, wegen angeblicher Verstöße gegen die Vorschriften zur Verwertung von Altmaterial angezeigt. Gersteins Vorwürfe erwiesen sich als falsch, worauf sich der Reichskommissar der Altmaterialverwertung beim SS-Personalhauptamt beschwerte.

Das SS-Führungshauptamt leitete ein Disziplinarverfahren gegen Gerstein ein, in dem geprüft werden sollte, ob er sich eines Verstoßes gegen den Paragraphen 164 des Strafgesetzbuches (Falsche Anschuldigung) schuldig gemacht habe. Die 55-Ermittler kamen, so eine Aktennotiz des Führungshauptamtes von Ende Februar 1943, »zu dem Ergebnis, daß sich der Genannte bei Abfassung seiner Eingaben nicht von unehrenhaften Motiven hat leiten lassen. Von einer disziplinaren Bestrafung ist daher Abstand genommen worden. Gerstein ist lediglich dienstlich verwarnt und angewiesen worden, in Zukunft derartige Angaben zu unterlassen«.

Besonders verhängnisvoll aber mußte sich die Schizophrenie Gersteins auswirken, als ihm seine dienstlichen Pflichten immer größere Blausäure-Lieferungen für den Massenmord abverlangten. Er beteuerte zwar später, er habe die Lieferungen von den Gaskammern fernhalten können, aber nicht in jedem Fall gelang ihm dies.

Als im März 1944 die Dessauer Zyklon-B-Fabrik durch einen Luftangriff zerstört und dadurch die Blausäure-Zufuhr für Auschwitz unterbrochen wurde, drängte Gersteins Abteilung die Firma »Degesch«, sofort für Ersatz zu sorgen. Am 5. April forderte ein Mitarbeiter Gersteins, der Untersturmführer Bremenburg, eine Blitzlieferung von fünf Tonnen Zyklon-B an, da sie »dringendst benötigt« würden.

Am 24. Mai stieß Abteilungschef Gerstein mit einem Brief an den Degesch-Direktor Peters nach. Da die Leitung des Hygiene-Instituts befürchtete. die Blausäure könne auf dem Transport nach Auschwitz verderben, erkundigte sich Gerstein, wie lange der Transport dauere und wann die Blausäure sich zersetze; die Sache sei wichtig, denn es würden »erhebliche Mengen -- d. h. eigentlich die ganzen verwahrten Mengen -- unter Umständen plötzlich benötigt«.

Peters konnte Gerstein beruhigen. Ende Mai 1944 traf der Zyklon-B-Transport in Auschwitz ein. Der Vernichtungsfabrik in Oberschlesien sollte die Blausäure niemals ausgehen.

Aus all den Spannungen und Versuchungen, denen Gerstein fast jeden Tag ausgesetzt war, gab es nur einen Ausweg: Gerstein hätte sich vom Hygiene-Institut wegversetzen lassen sollen, zu einer anderen SS-Dienststelle in Berlin oder zur kämpfenden Truppe.

Die Freunde und Verteidiger Gersteins aber bestreiten, daß ihm dieser Fluchtweg offenstand. »Das ist natürlich ein abwegiger Irrtum!« protestiert die Gerstein-Freundin Alexandra Bälz. »Mit dem Wissen um die Dinge in den KZ wäre Gersteln selbstverständlich sofort beseitigt worden.«

Sie übersieht dabei, daß für die NS-Führung die Beteiligung am Massenmord eine Art höchste weltanschauliche Bewährungsprobe war, die nur fanatischste Nationalsozialisten bestehen konnten; wer sich aber dem Befehl zum Morden entzog, der galt zwar als »feige« oder »krank«, er hatte jedoch keine lebensgefährdenden Strafen zu befürchten. Es gibt keinen einzigen Fall, in dem ein Endlöser wegen Gehorsamsverweigerung liquidiert wurde. Er hatte allenfalls eine Degradierung oder eine Strafversetzung zu gewärtigen.

Einige Angehörige der SS nutzten die Chance, dem Verbrechen zu entkommen. Eine breite Skala des Eskapismus bot sich an: Man konnte sich versetzen lassen. Man konnte sich krank melden. Man konnte Beziehungen zu höheren Führern nutzen. Man konnte sachliche Einwände gegen einen Mordbefehl vorbringen, ja man konnte sich sogar offen auflehnen.

Der Gießener Strafrecht-Professor Herbert Jäger sammelte 103 Fälle, in denen SS-Männer die Ausführung von Mordbefehlen verweigert hatten; die Fälle sind »zumeist durch Zeugenaussagen belegt« (Jäger) und kamen wiederholt in westdeutschen Nachkriegsprozessen zur Sprache. Aus Jägers Sammlung:

* Ein Untersturmführer des »Begleitbataillons Reichsführer-SS z. b. V.« weigerte sich, an weiteren Massenerschiellungen teilzunehmen. Der Bataillonskommandeur pflichtete ihm bei und informierte das SS-Führungshauptamt, er werde seine Einheit nicht mehr für Erschießungen zur Verfügung stellen. Das Bataillon wurde aufgelöst, der Kommandeur versetzt.

* Der zweite Rapportführer des KZ Sachsenhausen erklärte sich außerstande, an Tötungen von Häftlingen in der Genickschußanlage des Lagers teilzunehmen. Er wurde versetzt. Von einer Bestrafung ist nichts bekannt.

* Ein im Osten eingesetztes Polizeibataillon weigerte sich, einen Erschießungsbefehl auszuführen. Trotz Androhung schärfster Repressalien durch den Höheren SS- und Polizeiführer blieb es bei seiner Weigerung. Das Bataillon wurde innerhalb von 24 Stunden abgelöst.

* Der Brigadeführer Dr. Thomas, Leiter der Einsatzgruppe C in Rußland, schickte ohne Bestrafung zwei SS-Führer seines Kommandos nach Deutschland zurück, weil sie ihm vorgetragen hatten, ihr Gewissen erlaube ihnen keine weitere Teilnahme an der Judenvernichtung.

* Ein nach Auschwitz abkommandierter SS-Mann versuchte zunächst erfolglos, sich zur kämpfenden Truppe versetzen zu lassen, und erhielt von dem KZ-Kommandanten Höß einen scharfen Verweis. Später konnte er sich zu einem Lehrgang auf einer Führerschule melden und so an die Front kommen.

* Der Kommandeur eines Polizeibataillons lehnte eine vom SD befohlene Judenerschießung mit der Begründung ab, ihm liege keine entsprechende Weisung des Befehlshabers der Ordnungspolizei vor. Gegen ihn wurde ein Verfahren wegen »Unentschlossenheit« eingeleitet, kurz darauf wieder eingestellt. Wenige Monate später erhielt er das Ritterkreuz.

Bis in Gersteins Dienststelle drang die Kunde von dem Ungehorsam einzelner SS-Männer. Ein Untersturmführer im Lager Auschwitz sollte zu den Selektionen auf der berüchtigten Rampe eingeteilt werden. Er trug darauf dem Hygiene-Institut in Berlin seine Bedenken vor und erwirkte ein Fernschreiben. in dem bescheinigt wurde, der Untersturmführer sei ausschließlich in der Dienststelle Auschwitz des Hygiene-Instituts zu verwenden.

Gerstein wußte denn auch, daß er selber seinen Posten aufgeben könne. »Ich wünschte mir bald nichts sehnlicher«, erzählt Elfriede Gerstein, »als daß er aus dieser Formation wieder heraus wäre. Seine Antwort war: »Ich hätte schon ein paar Mal herauskönnen, ich will nicht raus, ich muß wissen, was die vorhaben!'«

Nichts konnte ihn davon abbringen, die seit den beklemmenden Erlebnissen in Belzec selbstgewählte Rolle bis zum Ende durchzuhalten: als »Spion Gottes« die Scheußlichkeiten des Regimes zu beobachten und zu registrieren, Menschen zu helfen und dereinst Zeugnis abzulegen von der grausigsten Entartung, der politische Machthaber jemals fähig gewesen sind.

Die Qual der eigenen Existenz im Apparat der Mörder mochte ihm erträglich erscheinen, weil er sich von Kameraden umgeben wußte, die seinen Horror teilten. Der Sturmbannführer Dr. Focht, der Hauptscharführer Heinrich Hofländer. der Hauptsturmführer Dr. Fritz Krantz. der Gruppenführer Dr. Blumenreuther -- sie alle zählte Gerstein zu den SS-Männern, »die diese Methoden schärfstens verurteilten und die darüber zur Ablehnung oder gar zu einem glühenden Haß gegen den Nationalsozialismus gelangten«.

Freilich, die letzten Geheimnisse seines Lebens konnte er auch diesen Menschen nicht enthüllen. Gerstein blieb allein -- allein mit seinem Gewissen, seinen Depressionen, seinen Krankheiten. Einsam fieberte er der Befreiung durch die Alliierten entgegen und sah sich bereits in einer neuen Welt, die wiederum Führungsaufgaben für ihn bereit haben würde: Als Berater im Kampf gegen nazistische Durchhalte-Fanatiker, als Aufklärer des deutschen Volkes wollte er sich vom Alpdruck der Vergangenheit befreien.

Doch die bittere Ironie der Geschichte versagte ihm einen neuen Start. Nach der Götterdämmerung des Nationalsozialismus verschwand er, der falsche und doch richtige SS-Mann, in einem Pariser Militärgefängnis, das ihn nicht mehr freigab. Wie er gelebt, so starb er: rätselhaft und widerspruchsvoll.

Was von Kurt Gerstein blieb, war die Erinnerung an einen seltsamen Einzelgänger und an seinen Mut, der ihn über die Masse der anpassungstüchtigen Deutschen erhob. Wie immer man die Ungereimtheiten dieses Lebens einordnen mag -- er war stets bereit gewesen, jene Gefahr, jenes Risiko auf sich zu nehmen, das in einer totalitären Diktatur allein die Mitläufer von den Aufbegehrern unterscheidet. In einer Welt des Konformismus und der Passivität blieb er ein einsamer Aktivist.

»Das Schweigen der Deutschen«, so urteilt Serien-Autor Friedländer, »das Ausbleiben jeder Reaktion bei den Alliierten und den Neutralen, ja des gesamten christlichen Abendlandes gegenüber der Vernichtung der Juden verleihen der Rolle Gersteins erst die wahre Bedeutung: Sein Rufen blieb ohne Widerhall, seine Hingabe war einsam, sein Opfer erschien deshalb 'unnütz' und wurde zur »Schuld'.« Ende

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