Zur Ausgabe
Artikel 42 / 81

Spion im Lager der Mörder

aus DER SPIEGEL 51/1968

Im September 1939 erließ Hitler den geheimen Befehl, alle Geisteskranken und Schwachsinnigen zu töten. Die Anwendung der Euthanasie wurde der unmittelbaren Kontrolle der Kanzlei des Führers unterstellt und mit höchster Sorgfalt getarnt. Ende 1939 war ein erstes Tötungszentrum in Brandenburg errichtet worden; fünf weitere darunter Grafeneck und Hadamar -- wurden 1940 in Betrieb genommen.

Mit den Hinrichtungen wurde Christian Wirth, Oberkommissar der Kriminalpolizei in Stuttgart, beauftragt. Anfangs tötete Wirth die Kranken mit der Pistole, doch bald wurde eine perfektioniertere Technik angewendet: Man baute die ersten Gaskammern.

»Die Einrichtung war einfach«, schreibt der in Paris lebende Historiker Léon Poliakov. »In jeder Anstalt wurde ein Raum, als Duschraum getarnt, hermetisch abgeriegelt. In diesen Raum zog sich ein Röhrennetz, das an Kohlenoxydflaschen angeschlossen wurde. Die Kranken wurden im allgemeinen mit Hilfe von Morphium- oder Skopolaminspritzen schläfrig gemacht oder mit Schlafmitteln halb betäubt, ehe sie in diese Gaskammern geführt wurden.

»Die Euthanasiestationen erhielten außerdem ein kleines Krematorium, in dem die Leichen eingeäschert wurden. Die Familien wurden durch stereotype Briefe verständigt, in denen man ihnen das Ableben des Toten infolge von »Herzschwäche' oder »Lungenentzündung' mitteilte.«

Von Januar 1940 bis August 1941 wurden 70 273 Geisteskranke getötet.

© Bertelsmann Sachbuchverlag 1989. Kurt Gerstein in seinem Rechenschaftsbericht: »Im Jahr 1940 erfuhr ich vom Landesbischof in Stuttgart von den Massentötungen der Geisteskranken in Hadamar und Grafeneck. Meine Schwägerin Bertha Ebeling gehörte zu den Opfern.«

Tatsächlich hatten sich Gerüchte über die Euthanasie durch ganz Deutschland verbreitet. Die Häufigkeit der Todesfälle in den psychiatrischen Anstalten, die stets geheimnisvollen Umstände beim Tode erregten Verdacht. Das übrige taten Indiskretionen.

Wenn man einer Eingabe glauben darf, die das Frankfurter Gericht im Mal 1941 an den Reichsjustizminister Gürtner sandte, war die Euthanasie in der Öffentlichkeit bekannt: Die Kinder von Hadamar empfingen die Autobusse, in denen die Kranken befördert wurden, mit den Rufen: »Da werden wieder welche vergast!«

»Am 20. Februar 1941 fand in Saarbrücken«, wie Gersteins Bruder Karl berichtet, »die Beisetzung der Urne meiner Schwägerin statt; an ihr nahm auch mein Bruder Kurt teil. Die Umstände des plötzlichen Todes waren merkwürdig gewesen:

»Man hatte der Mutter brieflich mitgeteilt, ihre Tochter habe plötzlich aus einer saarländischen Heilanstalt nach Hadamar verlegt werden müssen, dort sei sie dann einer Epidemie zum Opfer gefallen; aus Gründen der Seuchenhygiene habe man die Leiche verbrennen müssen, die sterblichen Überreste würden der Stadtverwaltung in Saarbrücken zugestellt und könnten dort in Empfang genommen werden.

»So befremdet wir waren, so waren wir doch ohne Arg. Bruder Kurt war es, der meine ahnungslose Frau und mich auf dem Heimweg von der Beisetzung aufklärte.

»Unser fassungsloses Staunen steigerte sich, als Kurt uns dann auch noch eröffnete, er wolle sich zur Waffen-SS melden. Auf diese Weise werde er dann Klarheit darüber gewinnen können, was an den vielerlei Gerüchten Wahres sei und was eigentlich wirklich in der SS vorgehe. Ich muß gestehen, daß wir damals Kurt nicht ernst genommen haben.«

Pastor Wehr, der den Trauergottesdienst gehalten hatte, sprach ebenfalls mit Gerstein »Nach der Beisetzung«, so erzählte der Geistliche, »teilte er mir seinen Entschluß mit, er wolle dahinterkommen, was über die umlaufenden Gerüchte solcher und anderer verbrecherischer Aktionen den Tatsachen entspräche. Meinen sehr starken Bedenken, in das Lager der dämonischen Mächte hineinzugehen, begegnete er mit leidenschaftlich bewegter Entschlossenheit.«

Und dem befreundeten Pastor Kurt Rehling vertraute Gerstein an: »Wenn Sie merkwürdige Dinge von mir hören, so denken Sie nicht, ich sei ein anderer geworden. Ich habe mich zur SS gemeldet und rede jetzt manchmal deren Sprache.

»Ich tue das aus zwei Gründen: Der Zusammenbruch kommt. Das ist absolut gewiß. Es kommt Gottes Gericht. In dem Augenblick werden diese gewissenlosen Desperados alle jene noch umbringen, die sie als ihre Gegner ansehen. Dann hilft kein Widerstand von außen. Die einzige Hilfe kann nur durch einen kommen, der dann Befehle unterschlägt oder sie verstümmelt weitergibt. Dahin gehöre ich jetzt!

»Und der andere Grund: Ich bin so vielen Verbrechen auf der Spur. Meine Schwägerin ist in Hadamar getötet worden. Ich will wissen, an welcher Stelle und durch wen diese Mordbefehle gegeben werden!«

Wenn man sich an diese Aussagen hält, scheint das Motiv für Kurt Gersteins Entschluß einfach und unzweideutig zu sein. Doch nach dem, was wir von seiner schwankenden Einstellung zum Regime während der voraufgegangenen Jahre wissen, sehen wir uns zu der Ansicht gedrängt, daß die Beweggründe für seinen Eintritt in die Waffen-SS weit vielschichtiger waren.

Daß die Ermordung Bertha Ebelings eins der Elemente bei dieser Entscheidung war, ist wahrscheinlich; aber gewiß war sie nicht das einzige. Und außerdem stimmen verschiedene Zeugen weniger mit den oben zitierten überein.

Nach Angabe von Pastor Heinz Schmidt, einem Freund Gersteins aus der evangelischen Jugendbewegung, hatten Gerstein und er bereits Ende 1939, nach dem Polenfeldzug, den Gedanken, in die Waffen-SS einzutreten, da »man doch nur von innen den Dingen beikommen könnte«. Der Pastor fährt fort: »Wir haben damals diese Überlegungen nicht weiter verfolgt, da sie uns dann doch als illusionistisch vorkamen.«

Wenn diese Aussage korrekt ist, kann die Euthanasie nicht die Ursache dieser Entscheidung gewesen sein, da die ersten Tötungen erst Anfang 1940 vorgenommen wurden, und man begreift nicht recht, was Schmidt und Gerstein im Herbst 1939 in der Waffen-SS entdecken wollten. Wir wissen jedoch, daß sich Gerstein um diese Zeit mit dem Gedanken trug, freiwillig in die Wehrmacht einzutreten.

Im Jahr 1955 entdeckte das Frankfurter Schwurgericht in der Verhandlung gegen Dr. Gerhard Peters, den Direktor jener Firma, die das Giftgas Zyklon B für das Vernichtungslager Auschwitz lieferte, ebenfalls gewisse Widersprüche im Hinblick auf die Gründe für Gersteins Eintritt in die Waffen-SS. Das Gericht vermerkte:

»Seiner Frau hat Gerstein keinen Grund genannt und lediglich gesagt: »Die wollen mich nicht, die müssen mich aber nehmen', ohne allerdings eine Erklärung für dieses angebliche »müssen' zu geben. Daß er, wie er dem Zeugen Nebelthau erzählt hat, nach Verabredung mit Pfarrer Niemöller in die SS eingetreten ist, kann schon deshalb nicht zutreffen, weil Niemöller sich bereits seit 1937 in einem Konzentrationslager befand und seitdem mit Gerstein nicht mehr in direkter Verbindung stand.

»Auch dem Zeugen Dr. Eckardt hat er erklärt, er sei nach Befragung seiner geistlichen Berater in die SS gegangen, ohne daß jedoch einer der geistlichen Zeugen dies bestätigt hat. In gewissem Gegensatz dazu steht die Erklärung, die er seinem alten Freund, dem Zeugen Scharkowski, gegeben hat: Er habe unter ständiger Aufsicht des Sicherheitsdienstes gestanden und dieser habe ihn aufgefordert, in die SS einzutreten. Er, Gerstein, habe dies als einen Anruf Gottes angesehen, in das Lager des Feindes zu gehen.«

Doch welches auch die wahren Beweggründe Gersteins gewesen sein mögen, in die Waffen-SS einzutreten, sein Aufnahmegesuch bei dieser Organisation wurde nicht nach der Beisetzung von Bertha Ebeling gestellt, sondern vorher.

Bei seiner Vernehmung am 20. Juli 1945 erklärte er: »Im Dezember (1940) hatte ich ein Aufnahmegesuch für den Wehrdienst bei der Waffen-SS gestellt.« Aus einem Schreiben des Arbeitsamtes Eisenach an die Firma Wintershall« bei der Gerstein um diese Zeit beschäftigt war, geht sogar hervor, daß er sich bereits im September 1940 freiwilllg zur Waffen-SS gemeldet hatte.

Am 10. März 1941 begann Gerstein seinen Dienst in der SS. Bis zu diesem Augenblick scheint es nichts zu geben, was ihn zu der Rolle bestimmt hätte, die ihm zufallen sollte. Er war ein Deutscher wie viele andere, der sich den Einflüssen nicht ganz entzogen hatte, von denen die Entwicklung der deutschen Gesellschaft in den dreißiger Jahren geprägt wurde. Seine Herkunft, sein Milieu und seine Erziehung hatten ihn ganz und gar nicht auf sein Schicksal vorbereitet. Was ihm zustieß, hätte Millionen von Deutschen ebenso zustoßen können. Doch er blieb allein.

»10. März bis 2. Juni 1941 militärische Grundausbildung in Hamburg-Langenhorn, Arnheim (Holland) und Oranienburg mit 40 Ärzten«, so beschreibt Gerstein 1945 seine Anfänge in der SS. »Wegen meines Doppelstudiums -- Technik und Medizin -- erhielt ich den Befehl, im technischärztlichen Dienst des SS-Führungshauptamts -- Amtsgruppe D, Sanitätswesen der Waffen-SS, Abteilung Hygiene -- zu arbeiten.

»Beim Hygiene-Dienst wählte ich mir sofort selber die Aufgaben, fahrbare Desinfektionsanlagen, Trinkwasserfiltriergeräte für die Truppe, für Gefangenenlager und für Konzentrationslager zu konstruieren. Dank meinen industriellen Erfahrungen hatte ich bald Erfolge -- meine Vorgänger hatten diese nicht. So war es möglich, die Sterblichkeit der Gefangenen beträchtlich zu senken. Wegen meines Erfolgs wurde ich bald zum Leutnant befördert.«

Seinem Vater und seinen Brüdern stellte Kurt mit Wärme den Kameradschaftsgeist und die vorbildliche Ehrlichkeit dar, die in seiner Einheit herrschten, ebenso die ausgezeichneten Beziehungen zwischen Offizieren und Rekruten. Dagegen fehlen in dem Brief, den er am 26. April 1941 aus Arnheim an seine Frau schickt, die versteckten Andeutungen nicht:

»Das ist ein merkwürdiges Leben, das ich führen muß«, schreibt er. »Oft wurde ich an Welzheim erinnert, womit manches eine verzweifelte Ähnlichkeit hat*. Trotzdem kann ich es nicht bedauern, hierher gekommen zu sein. Die Bereicherung der Blicke, die innere Klarheit, ist unendlich viel größer geworden.«

In dieser Zeit begegnet Gerstein einem alten Freund, dem holländischen Ingenieur Übbink, wieder. »Er hat meine Wohnung im Sommer 1941 sehr häufig besucht«, berichtet Übbink »Unsere Gespräche hatten den Krieg und den Nationalsozialismus zum Inhalt. Dabei zeigte er sich als ein sehr großer Gegner des Nationalsozialismus. Aus diesen Gesprächen habe ich einige sehr markante Aussprüche behalten: Wir müssen diesen Krieg verlieren: Besser ein hundertfaches Versailles, als daß diese Verbrecherbande bleibt. Was hilft es einem Volk, ob es die ganze Welt gewinnt, und seine Seele leidet Schaden?«

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland ließ Gerstein einige seiner alten Kameraden aus der Jugendbewegung seine intimsten Gedanken ahnen. Dazu schreibt sein Jugendfreund Helmut Franz: »Im Sommer 1941, kurz nach seiner militärischen Grundausbildung, besuchte er mich in Bad Kreuznach. In dieser Zeit sei es einfach unumgänglich, sagte er mir, auf schmalen Graten zu gehen und gefährlich zu leben.

»Wenn viele seiner alten Freunde ihn jetzt für einen Abtrünnigen hielten, so müsse er das im Interesse seines besonderen Auftrages in Kauf nehmen. So schmerzlich ihm diese Verkennung seiner Person auch sei, so müsse er das zu seiner Tarnung geradezu willkommen heißen.«

Im November geriet die Laufbahn Gersteins in der SS ganz plötzlich in Gefahr: In Hamm, wo Gerstein an der Beerdigung seines Bruders Alfred teilnahm, bemerkte ihn einer der Richter des Gaugerichts, das 1936 seinen Ausschluß aus der Partei verfügt hatte. Die Führung der SS wurde unverzüglich unterrichtet, und die Partei forderte Gersteins Versetzung. Doch seine technischen Kenntnisse waren eine wichtige Trumpfkarte: Er blieb auf seinem Posten.

Während der folgenden Monate interessierte sich Gerstein immer stärker für seine Arbeit. Anscheinend hatte er die Gründe vergessen, die ihn in die SS geführt hatten. Nur ein einziger Satz in einem Brief aus dem August 1941 an seine Frau könnte darauf hindeuten, daß sich seine Absichten nicht geändert hatten:

»Eigentlich hatte ich noch nach Tübingen kommen wollen, leider geht es nicht mehr. Ich baue z. Zt. mit Verbissenheit eine größere Anzahl X-Züge (Desinfektions-Wagen), eine sehr schöne, aber überaus nüchterne Arbeit. Immerhin deckt sich seit einigen Mo-

* Gerstein war 1939 wegen staatsfeindlicher Tätigkeit im KZ Welzheim inhaftiert.

naten bei mir endlich wieder Neigung und Beruf. Ich bin hier an einem Platze, wo ich in der Tat ungeheuer viel nützen und -- verhindern kann.«

Am 5. September schrieb er wieder an seine Frau: »Gleich geht's auf etwa 5 Tage mit dem Auto nach Asniéres in Frankreich, anschließend nach München und Celle. Ich habe eine wirklich schöne, aber in ihrer ausschließlichen Verantwortung sehr arbeitsreiche Dienststellung,«

Doch plötzlich hat sich die Geistesverfassung Gersteins völlig gewandelt. Was ist geschehen? Genaues darüber ist nicht bekannt. Helmut Franz berichtet: »Ich wurde im Januar 1942 verwundet und kam Ende April in ein Heimatlazarett nach Neustrelitz. Kaum war ich dort, kam Gerstein mich von Berlin aus besuchen.

»Für mich völlig überraschend stand er eines Tages wie ein Gespenst in SS-Uniform vor meinem Bett. Ich war erschüttert darüber, wie trostlos und pessimistisch seine Stimmungslage war. Dabei hatte er damals die Vernichtungslager in Polen noch nicht besichtigt gehabt. Das Schlimmste stand ihm also noch bevor.

»Und dennoch hatte das, was er sonst in der SS so gesehen und gehört hatte, genügt, um ihn zu einem verzweifelten und unproduktiven Menschen zu machen. In dauernder Angst vor Entlarvung lebend, war er mit den Nerven völlig heruntergekommen.

»Der Satanismus der Nazis schien ihm so gigantisch, daß er ihren Endsieg

für durchaus möglich hielt. Um so größer war sein allgemeiner Pessimismus und seine tiefe innere Zerschlagenheit. Gegenüber einem solchen aus Haß, Angst und Verzweiflung bestehenden Nervenbündel glaubte ich mich als überlegener und ruhiger Mensch abheben zu können.«

Einige Monate später, im Juni 1942, schrieb Helmut Franz an seinen Bruder: »Welche Veränderung! Vor einigen Jahren war er in meinen Augen noch eines der erfolgreichsten Genies -- heute ist er ein vollkommen erledigter Mensch, ohne Entschluß, ohne Kraft und Halt.«

Vielleicht waren es lediglich Gerüchte, von denen Gerstein geleitet wurde, aber im Juni des gleichen Jahres wurde er plötzlich der »Zeuge«, der er hatte sein wollen. Und hier nun begann seine historische Rolle. Er sollte der »Endlösung« der Judenfrage beiwohnen.

Man weiß nicht genau, wann sich der Gedanke einer physischen Vernichtung der Juden dem Geist Hitlers aufdrängte. Bis zum Krieg hatte die antisemitische Politik der Nazis die Zwangsaussiedlung der Juden aus dem Reich, danach aus den annektierten Gebieten zum Hauptziel gehabt. Die Feindseligkeiten machten dieser Möglichkeit bald ein Ende.

Eine Zeitlang diskutierte man in Berlin »Kolonialprojekte«. Man wollte alle Juden Europas in Madagaskar zusammenpferchen, wodurch die Insel zu einer Art riesigem jüdischem »Reservat« unter deutscher Kontrolle geworden wäre.

Gleichzeitig entwickelte sich bereits eine Lösung auf einem anderen Gebiet, die diesmal »realistischer« war: Nach einem von Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamts, ausgearbeiteten Plan begann die Konzentrierung der polnischen Juden, denen die deutschen und tschechischen Juden bald folgen sollten, bereits im Osten Polens, im Gebiet Lublin. In den großen polnischen Städten wurden die Juden in Gettos eingeschlossen.

Am 31. Juli 1941 gab Göring dem SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich folgende Anweisung: »In Ergänzung der Ihnen bereits mit Erlaß vom 24. Januar 1939 übertragenen Aufgabe, die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa.

»Sofern hierbei die Zuständigkeiten anderer Zentralinstanzen berührt werden, sind diese zu beteiligen.

»Ich beauftrage Sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Voraussetzungen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen.«

Mittlerweile begannen in den von den deutschen Truppen eroberten Gebieten Rußlands »ungeordnete« Exekutionen von Juden. Der Generalplan der »Endlösung« war noch nicht aufgestellt, aber schon traten »Einsatzgruppen« in Aktion. Die angewendete Methode war zunächst die der Massenerschießungen.

Im Rahmen dieser »ungeordneten« Vernichtung traten an die Stelle der Erschießungen häufig Gasautos. Bei diesen Lastwagen wurden die Auspuffgase in den hinteren Teil des Fahrzeugs hineingeleitet, in dem die Opfer eingeschlossen waren. Diese Wagen begleiteten die »Einsatzgruppen«, oder sie wurden in einem Gebiet mit starkem jüdischem Bevölkerungsanteil aufgestellt und bildeten dort eine Art rudimentäres Vernichtungslager.

Am 20. Januar 1942 legte Heydrich seinen Plan für die Ausrottung der Juden auf der sogenannten Wannsee-Besprechung vor, zu der hohe Beamte der wichtigsten Reichsministerien (darunter Justiz, Inneres und Auswärtiges) sowie Mitglieder der Reichskanzlei und hohe SS-Offiziere zusammengekommen waren.

»Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage«, so heißt es im Protokoll der Wannsee-Besprechung, »kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht, Unter entsprechender Leitung sollen im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.«

Im Rahmen der systematischen Vernichtung errichteten die Nazis eigene Lager, die mit Gaskammern ausgestattet wurden, von denen einige eine »Kapazität« von fast 15 000 Menschen je Tag aufwiesen.

Im Frühjahr 1942 erhielt Kriminaloberkommissar Wirth den Befehl, sich dem SS- und Polizeiführer Globocnik in Lublin für die Indienststellung der ersten Lager dieser Art zur Verfügung zu halten. Bald waren vier Vernichtungszentren auf dem Gebiet des Generalgouvernements -- des mittleren und östlichen Teils des früheren Polen -- in Betrieb: Belzec, Sobibor, Treblinka und Lublin (Maidanek).

Das verwendete Gas war noch immer Kohlenoxyd, das von Dieselmotoren in die Kammern geleitet wurde. Vervollkommnungen boten sich an. Und hier finden wir nun den SS-Untersturmführer Kurt Gerstein wieder, der mittlerweile als Abteilungsleiter Gesundheitstechnik im Hygiene-Institut den ganzen technischen Desinfektionsdienst einschließlich der Desinfektion mit hochgiftigen Gasen in der SS leitete.

In seinem Anfang Mai 1945 niedergeschriebenen Bericht über seine Tätigkeit erzählt Gerstein: »Ich erhielt am 8. Juni 1942 Besuch von dem mir bis dahin unbekannten SS-Sturmbannführer Günther vom Reichssicherheitshauptamt. Günther kam in Zivil.

»Er gab mir den Auftrag, für eine äußerst geheime Angelegenheit 100 kg Blausäure zu beschaffen und mit dieser in einem Auto zu einem unbekannten Ort zu fahren, der nur dem Fahrer des Wagens bekannt sei. Wir fuhren alsdann einige Wochen später nach Kolin bei Prag.

»Ich konnte mir ungefähr die Art des Auftrages denken. Aber ich übernahm ihn. Selbst heute glaube ich noch, daß mir ein Zufall, der seltsam der Vorsehung ähnelt, die lange ersehnte Gelegenheit gab, in diese Dinge hineinzuschauen. Unter den Hunderten von anderen Tätigkeiten, die möglich gewesen wären, wurde ich mit der Mission beauftragt, die dem Gebiet, das mich interessierte, am nächsten war.

»Das wirkte um so unwahrscheinlicher, als ich in der Vergangenheit mehrmals von der Gestapo für antinazistische Betätigung eingesperrt worden war. Meine Vorgesetzten wußten es, da mich die Partei bei ihnen denunziert hatte. Tatsächlich hatten der Nachrichtendienst und das Reichssicherheitshauptamt derartig geschlafen, und sie haben den falschen Mann gewählt.

»Als Sachverständiger für Blausäure war ich so autoritär und kompetent, daß es mir auf jeden Fall ein Leichtes sein mußte, die Blausäure unter irgendeinem Vorwand als untauglich -- weil zersetzt oder dergleichen -- zu bezeichnen und ihre Anwendung für den eigentlichen Tötungszweck zu verhindern. Ich nahm also ohne die geringsten Skrupel den Auftrag an, der mir erteilt worden war.

»Jeder andere hätte ihn in dem von der SS gewünschten Sinn erfüllt. Ich dagegen konnte die Verwendung der Blausäure für die Tötung von Menschen verhindern. Von diesem Augenblick an trug ich ständig Gift und eine geladene Pistole bei mir, um mich selbst zu töten, falls meine wahren Gefühle entdeckt werden sollten.

»Auf dem Weg nach Kolin* wurden wir von SS-Obersturmbannführer Professor Dr. med. Pfannenstiel begleitet, der Ordinarius der Hygiene an der Universität Marburg a. d. Lahm. war. In der Fabrik in Kolin ließ ich absichtlich durchblicken, daß die Säure für die Tötung von Menschen bestimmt sei. Das tat ich, um Gerüchte unter der Bevölkerung auszustreuen.«

Als Kurt Gerstein am 10. Juli 1945 von Major Mattei vom Zweiten Militärgerichtshof in Paris vernommen wurde, gab er zusätzliche Erklärungen über die Art seines Auftrags ab:

Mattei: »Haben Sie für diesen Auftrag einen schriftlichen oder einen mündlichen Befehl erhalten, und wie war er formuliert?«

Gerstein: »Ich erhielt für den Auftrag einen mündlichen Befehl, der mir achtundvierzig Stunden später durch schriftlichen Befehl bestätigt wurde. Die Formulierungen des schriftlichen Befehls waren etwa die folgenden: Ich befehle Ihnen, sich Blausäure zu beschaffen und sie an einen Ort zu bringen, der Ihnen von dem Fahrer des Wagens Nr. (unbekannt) angegeben wird, der für diesen Auftrag benutzt wird. Kolin suchte ich mir selbst aus, weil ich wußte, daß die Blausäure dort auf gleiche Weise wie in Dessau hergestellt wird.«

Der Gersteln -Bericht fährt fort: »Wir fuhren alsdann mit dem Wagen

* In den Kaliwerken Kolin bei Prag und in den Dessauer Werken für Zucker und Chemische Industrie wurde das Blausäuregas Zyklon B hergestellt.

nach Lublin (Polen), wo uns der SS-Gruppenführer Globocnik erwartete. Er sagte uns: »Diese ganze Angelegenheit ist eine der geheimsten Sachen, die es zur Zeit überhaupt gibt, man kann sagen die geheimste. Wer darüber spricht, wird auf der Stelle erschossen. Erst gestern sind zwei Schwätzer erschossen worden.

Dann erklärte er uns: »Im Augenblick -- das war am 17. August 1942 -- haben wir drei Anstalten in Betrieb, nämlich

I. Belzec, an der Chaussee und Bahnstrecke Lublin-Lemberg, an der Schnittlinie mit der Demarkationslinie mit Rußland. Höchstleistung pro Tag 15 000 Personen.

II. Treblinka, 120 Kilometer nordöstlich von Warschau, Höchstleistung 25 000 Personen pro Tag.

III. Sobibor, auch in Polen, ich weiß nicht genau wo, 20 000 Personen Höchstleistung pro Tag.

Maidanek bei Lublin war damals noch in Vorbereitung. Belzec, Treblinka und Maidanek habe ich persönlich eingehend mit dem Leiter dieser Anstalten, dem Polizeihauptmann Wirth, zusammen besichtigt.

Globocnik wendete sich ausschließlich an mich und sagte: »Es ist Ihre Aufgabe, insbesondere die Desinfektion des sehr umfangreichen Textilgutes durchzuführen. Die ganze Spinnstoffsammlung ist doch nur durchgeführt worden, um die Herkunft des Bekleidungsmaterials für die Ostarbeiter usw. zu erklären und als Ergebnis des Opfers des deutschen Volkes darzustellen. In Wirklichkeit ist das Aufkommen unserer Anstalten das 10- bis 20fache der ganzen Spinnstoffsammlung. Ihre andere, noch weit wichtigere Aufgabe ist die Umstellung unserer Gaskammern, die jetzt mit Dieselauspuffgasen arbeiten, auf eine bessere und schnellere Sache. Ich denke da vor allem an Blausäure. Vorgestern waren der Führer und Himmler hier. Auf ihre Anweisung muß ich Sie persönlich dorthin bringen, ich soll niemand schriftliche Bescheinigungen und Einlaßkarten ausstellen.

Darauf fragte Pfannenstiel: »Was hat denn der Führer gesagt?' Globocnik: »Schneller, schneller die ganze Aktion durchführen. Sein Begleiter, der Ministerialrat Dr. Herbert Linden, hat dann gefragt: »Herr Globocnik, halten Sie es für gut und richtig, die ganzen Leichen zu vergraben, anstatt sie zu verbrennen? Nach uns könnte eine Generation kommen, die das Ganze nicht versteht!'

Darauf Globocnik: »Meine Herren, wenn je nach uns eine Generation kommen sollte, die so schlapp und so knochenweich ist, daß sie unsere große Aufgabe nicht versteht, dann allerdings ist der ganze Nationalsozialismus umsonst gewesen. Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß man Bronzetafeln versenken sollte, auf denen festgehalten ist, daß wir den Mut gehabt haben, dieses große und so notwendige Werk durchzuführen. Darauf der Führer: »Gut, Globocnik, das ist allerdings auch meine Ansicht!'

Später hat sich die andere Ansicht durchgesetzt. Die Leichen sind dann auf großen Rosten, die aus Eisenbahnschienen improvisiert würden, verbrannt worden unter Zuhilfenahme von Benzin und Dieselöl.

Am anderen Tage fuhren wir nach Belzec. Südlich der Chaussee einige Häuser mit der Inschrift »Sonderkommando Belzec der Waffen-SS. Da der eigentliche Chef der gesamten Tötungsanlagen, der Polizeihauptmann Wirth, noch nicht da war, stellte Globocnik mich dem SS-Oberscharführer Oberhauser vor. Dieser ließ mich an jenem Nachmittag nur das sehen, was er mir eben zeigen mußte.

Ich sah an diesem Tage keine Toten, nur der Geruch der ganzen Gegend im heißen August war pestilenzartig, und Millionen von Fliegen waren überall zugegen. Dicht bei dem kleinen zweigleisigen Bahnhof war eine große Baracke, die sogenannte Garderobe, mit einem großen Wertsachenschalter. Dann folgte ein Zimmer mit etwa 100 Stühlen, der Friseurraum,

Dann eine kleine Allee im Freien unter Birken, rechts und links von doppeltem Stacheldraht umsäumt, mit Inschriften: »Zu den Inhalier- und Baderäumen'! Vor uns eine Art Badehaus mit Geranien, dann ein Treppchen, und dann rechts und links je Räume 5 X 5 Meter ... Auf dem Dach als »sinniger kleiner Scherz' der Davidstern! Vor dem Bauwerk eine Inschrift: »Heckenholt-Stiftung'. Mehr habe ich an jenem Nachmittag nicht sehen können.

Am anderen Morgen um kurz vor sieben Uhr kündigt man mir an: »In zehn Minuten kommt der erste Transport!' Tatsächlich kam nach einigen Minuten der erste Zug von Lemberg aus an. 45 Waggons mit 8700 Menschen, von denen 1450 schon tot waren bei ihrer Ankunft. Hinter den vergitterten Luken schauten, entsetzlich bleich und ängstlich, Kinder durch, die Augen voller Todesangst, ferner Männer und Frauen.

Der Zug fährt ein: 200 Ukrainer reißen die Türen auf und peitschen die Leute mit ihren Lederpeitschen aus den Waggons heraus. Ein großer Lautsprecher gibt die weiteren Anweisungen: sich ganz ausziehen, auch Prothesen, Brillen usw. Die Wertsachen am Schalter abgeben, ohne Bons oder Quittung. Die Schuhe sorgfältig zusammenbinden, denn in dem Haufen von reichlich 25 Meter Höhe hätte sonst niemand die zugehörigen Schuhe wieder zusammenfinden können.

Dann die Frauen und Mädchen zum Friseur, der mit zwei, drei Scherenschlägen die ganzen Haare abschneidet und sie in Kartoffelsäcken verschwinden läßt. »Das ist für irgendwelche Spezialzwecke für die U-Boote bestimmt, für Dichtungen oder dergleichen', sagt mir der SS-Unterscharführer, der dort Dienst tut.

Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Voran ein bildhübsches junges Mädchen, so gehen sie die Allee entlang, alle nackt, Männer, Frauen, Kinder, ohne Prothesen. Ich selbst stehe mit dem Hauptmann Wirth oben auf der Rampe zwischen den Kammern. Mütter mit ihren Säuglingen an der Brust, sie kommen herauf, zögern, treten ein in die Todeskammern!

An der Ecke steht ein starker SS-Mann, der mit pastoraler Stimme zu den Armen sagt: »Es passiert euch nicht das geringste! Ihr müßt nur in den Kammern tief Atem holen, das weitet die Lungen, diese Inhalation ist notwendig wegen der Krankheiten und Seuchen'.

Auf die Frage, was mit ihnen geschehen werde, antwortet er: »Ja, natürlich, die Männer müssen arbeiten, Häuser und Chausseen bauen, aber die Frauen brauchen nicht zu arbeiten. Nur wenn sie wollen, können sie im Haushalt oder in der Küche mithelfen. Für einige von diesen Armen ein kleiner Hoffnungsschimmer, der ausreicht, daß sie ohne Widerstand die paar Schritte zu den Kammern gehen -- die Mehrzahl weiß Bescheid, der Geruch kündet ihnen ihr Los!

So steigen sie die kleine Treppe herauf, und dann sehen sie alles. Mütter mit Kindern an der Brust, kleine nackte Kinder, Erwachsene, Männer und Frauen, alle nackt -- sie zögern, aber sie treten in die Todeskammern, von den anderen hinter ihnen vorwärtsgetrieben oder von den Lederpeitschen der SS getrieben. Die Mehrzahl, ohne ein Wort zu sagen.

Eine Jüdin von etwa 40 Jahren mit flammenden Augen ruft das Blut, das hier vergossen wird, über die Mörder. Sie erhält fünf oder sechs Schläge mit der Reitpeitsche ins Gesicht, vom Hauptmann Wirth persönlich, dann verschwindet auch sie in der Kammer, Viele Menschen beten, andere fragen: »Wer wird uns das Totenwasser reichen?'

Ich bete mit ihnen, ich drücke mich in eine Ecke und schreie laut zu meinem und ihrem Gott. Wie gern wäre ich mit ihnen in die Kammern gegangen, wie gern wäre ich ihren Tod mit gestorben. Sie hätten dann einen uniformierten SS-Offizier in ihren Kammern gefunden -- die Sache wäre als Unglücksfall aufgefaßt und behandelt worden und sang- und klanglos verschollen. Noch also darf ich nicht, ich muß noch zuvor künden, was ich hier erlebe!

Wirth hatte mir gesagt: »Es gibt nicht zehn lebende Menschen, die soviel wie Sie gesehen haben oder sehen werden.' Alle ausländischen Hilfsmannschaften werden am Ende erschossen. Ich bin einer der wenigen Menschen, die die ganze Einrichtung gesehen haben, und bestimmt der einzige, der diese Mörderbande als Feind besucht hat.

Die Kammern füllen sich. Gut vollpacken -- so hat es der Hauptmann Wirth befohlen. Die Menschen stehen einander auf den Füßen. 700 bis 800 auf 25 Quadratmetern, in 45 Kubikmetern! Die SS zwängt sie physisch zusammen, soweit es überhaupt geht. Die Türen schließen sich.

Währenddessen warten die andern draußen im Freien, nackt. Man sagt mir: »Auch im Winter genauso!' -- »Ja, aber sie können sich ja den Tod holen!' sagte ich. -- »Ja, grad for das sinne se ja doh!' sagt mir ein SS-Mann darauf in seinem Platt.

Jetzt endlich verstehe ich auch, warum die ganze Einrichtung Heckenholt-Stiftung heißt. Heckenholt ist der Chauffeur des Dieselmotors, ein kleiner Techniker, gleichzeitig der Erbauer der Anlage. Mit den Dieselauspuffgasen sollen die Menschen zu Tode gebracht werden. Aber der Diesel funktioniert nicht! Der Hauptmann Wirth kommt. Man sieht, es ist ihm peinlich, daß das gerade heute passieren muß, wo ich hier bin. Jawohl, ich sehe alles!

Und ich warte. Meine Stoppuhr hat alles brav registriert, 50 Minuten, 70 Minuten -- der Diesel springt nicht an! Die Menschen warten in ihren Gaskammern. Vergeblich. Man hört sie weinen, schluchzen »wie in der Synagoge', sagt Professor Pfannenstiel, das Auge an das Fenster gepreßt, das in der hölzernen Tür angebracht ist.

Der Hauptmann Wirth schlägt mit seiner Reitpeitsche dem Ukrainer, der dem Unterscharführer Heckenholt beim Diesel helfen soll, zwölf- bis 13mal ins Gesicht. Nach 2 Stunden 49 Minuten -- die Stoppuhr hat alles wohl registriert springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen vier Kammern, viermal 750 Menschen in viermal 45 Kubikmetern!

Von neuem verstreichen 25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht das durch das kleine Fensterchen, in dem das elektrische Licht die Kammer einen Augenblick beleuchtet. Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Endlich, nach 32 Minuten ist alles tot! Von der anderen Seite öffnen Männer vom Arbeitskommando die Holztüren. Man hat ihnen -- selbst Juden -- die Freiheit versprochen und einen gewissen Promillesatz von allen gefundenen Werten für ihren schrecklichen Dienst. Wie Basaltsäulen stehen die Toten aufrecht aneinandergepreßt in den Kammern. Es wäre auch kein Platz, hinzufallen oder auch nur sich vornüberzuneigen.

Selbst im Tode noch kennt man die Familien. Sie drücken sich, im Tode verkrampft, noch die Hände, so daß man Mühe hat, sie auseinanderzureißen, um die Kammern für die nächste Charge frei zu machen. Man wirft die Leichen -- naß von Schweiß und Urin, kotbeschmutzt, Menstruationsblut an den Beinen -- heraus, Kinderleichen fliegen durch die Luft.

Man hat keine Zeit, die Reitpeitschen der Ukrainer sausen auf die Arbeitskommandos. Zwei Dutzend Arbeiter öffnen mit Haken den Mund und sehen nach Gold. »Gold links, ohne Gold rechts!' Andere brechen mit Zangen und Hämmern die Goldzähne und Kronen aus den Kiefern. Einige Arbeiter kontrollieren Genitalien und After nach Gold, Brillanten und Wertsachen.

Unter allen springt der Hauptmann Wirth herum. Er ist in seinem Element. Er ruft mich heran: »Heben Sie mal diese Konservenbüchse mit Goldzähnen, das ist nur von gestern und vorgestern!' In einer unglaublich gewöhnlichen und falschen Sprechweise sagt er zu mir: »Sie glauben gar nicht, was wir jeden Tag finden an Gold und Brillanten und Dollar!'

Die nackten Leichen wurden auf Holztragen nur wenige Meter weit in Gruben von 100 x 20 x 12 Meter geschleppt. Nach einigen Tagen gärten die Leichen hoch und fielen alsdann kurze Zeit später stark zusammen, so daß man eine neue Schicht auf dieselben drauf werfen konnte. Weder in Belzec noch in Treblinka hat man sich irgendeine Mühe gegeben, die Getöteten zu registrieren oder zu zählen.

Der Hauptmann Wirth bat mich, in Berlin keine Änderungen seiner Anlagen vorzuschlagen und alles so zu lassen, wie es wäre und sich bestens eingespielt und bewährt habe. Ich sagte wahrheitswidrig, daß die Blausäure sich durch den Transport bereits zersetzt habe und sehr gefährlich sei; deshalb müsse ich sie vergraben, was ich sofort tat.

Am anderen Tage -- dem 19. August 1942 -- fuhren wir mit dem Auto des Hauptmanns Wirth nach Treblinka. Die Einrichtung war etwa dieselbe, nur viel größer als in Belzec. Acht Gaskammern und wahre Gebirge von Koffern, Textilien und Wäsche. Zu unseren Ehren wurde im Gemeinschaftssaal im typisch Himmlerschen altdeutschen Stil ein Bankett gegeben.

Das Essen war einfach, aber es stand alles in jeder Menge zur Verfügung. Himmler hatte selbst angeordnet, daß die Männer dieser Kommandos so viel Fleisch, Butter und sonstiges erhielten, insbesondere Alkohol, wie sie wollten. Bei der Abfahrt bot man uns mehrere Kilo Butter und eine große Anzahl von Flaschen Alkohol an. Nicht ohne Mühe wies ich das Angebot zurück und sagte, daß ich von unserem Hof ausreichend verpflegt würde.«

Soweit der Gerstein-Bericht. Als Gerstein wieder in Warschau eingetroffen war, nahm er sofort den Zug nach Berlin. Von nun an ist sein Ziel, die Welt zu alarmieren.

IM NÄCHSTEN HEFT

Gerstein informiert ausländische Diplomaten über den Judenmord -- Der Päpstliche Nuntius in Berlin weist den SS-Mann ab -- Alliierte und Neutrale ignorieren die Hilferufe Gersteins

Saul Friedländer
Zur Ausgabe
Artikel 42 / 81
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren