KIRCHE / AUTORITÄT Splittern und spalten
(siehe Titelbild*)
Am Gründonnerstag hielt Papst Paul VI. die wohl düsterste Predigt seiner bisherigen Amtszeit. Zum erstenmal bekundete er in öffentlicher Rede seine Sorge, der katholischen Kirche könne eine Spaltung, ein neues Schisma, bevorstehen.
Paul zelebrierte -- nach der Fußwaschung von zwölf Ministranten -- in der Lateranbasilika die feierliche Abendmahlsmesse. Er predigte dabei, wie unzählige Male zuvor in diesem und im letzten Jahr, über die Einheit der Kirche, den »geheimnisvollen Leib Christi«. »Schismatisches Gären« drohe, führte Paul aus, diese Einheit zu zerstören, die Kirche zu spalten und »in Gruppen« aufzusplittern. Diejenigen, die solcherweise den »Leib Christi« gefährdeten, trügen -- so der Montini-Papst -- die »Maske eines christlichen Pluralismus« oder die Maske der »Gewissensfreiheit«. In Wirklichkeit jedoch strebten sie nach einer »selbstherrlichen, letztlich egoistischen Autonomie
* Nach dem Isenheimer Altarbild »Die Versuchung des heiligen Antonius« von Matthias Grünewald.
Wer mit dieser Anklage gemeint war, sagte der Papst nicht. So fragte denn auch nach Ostern die »Wochenzeitung im Bistum Essen«, das »Ruhr-Wort« »Wer ist Schismatiker? Wer ist Häretiker in der heutigen katholischen Kirche? Daß es sie gibt, darüber läßt der Papst keinen Zweifel. Aber wo soll sie der Gläubige suchen, wo sie finden, wie sich vor ihnen hüten, wenn ihm außer allgemeinen Andeutungen nichts über sie gesagt wird?«
Daß der Papst keine Namen nannte, ist offenkundig kuriale Taktik. Für eine offene Auseinandersetzung mit den Reformbewegungen fühlt Rom sich nicht stark genug. So begnügt sich die vatikanische Propaganda einerseits mit anonymen Verdächtigungen und andererseits damit, Papst und Kirche als märtyrerähnliche Opfer kirchlicher Herostraten darzustellen.« Für Christus«, so verkündete nach Ostern Radio Vatikan, »gab es den mörderischen Haß der Priester und Ältesten des Volkes, die Verleugnung durch die Jünger und sogar den Verrat eines der Erwählten. Das, was heute die Kirche trifft, ist derselbe Haß, dieselbe Flucht, derselbe Verrat.«
Diese ausgeklügelte Propaganda-Taktik rückt nicht nur Pauls Äußerungen der Sorge vor einem neuen Schisma in ein zweifelhaftes Licht, sondern auch viele seiner Schritte und Maßnahmen. Sind die Abschaffung des roten Kardinalshuts, des »Galero«, oder die Reform der Anreden ("Herr Kardinal« statt »Eminenz") mehr als nur Schönheitskorrekturen angesichts der heißenden Kritik deutscher Theologen am barocken Kurialstil? Ist der von Papst Paul angekündigte Besuch in Genf, also in der Stadt Calvins, am Sitz des Wellkirchenrates, wirklich ein Schritt zur Versöhnung mit den anderen Konfessionen, wenn gleichzeitig gesagt wird, der Heilige Vater folge dabei einer Einladung des Internationalen Arbeitsamtes?
Paul VI. gilt als krank. Schon im Frühjahr 1968 wußte die deutsche Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) zu melden, daß der Heilige Vater unter Nervosität und Abgespanntheit leide. Im Dezember dementierte der Vatikan aufgekommene Gerüchte, wonach Paul von seinem Amt zurücktreten wolle. Die ohnehin zerbrechlich wirkende Erscheinung Pauls und seine zitternde Stimme vertieften die Wirkung solcher Verlautbarungen.
Die Leiden bewahrten den Papst jedoch nicht vor Spott und Verdacht. Der Mailänder Bildhauer Floriano Bodini zimmerte aus Kirschbaumbrettern eine Papst-Karikatur, die ei in diesem Jahr in vielen Großstädten Europas zeigt und die den Papst selbst sehr erschreckt haben soll. Auf die übergroßen Hände der Statue anspielend, soll Paul wiederholt ausgerufen haben: »Nein, diese Hände -- nein!« Auch gibt es Kirchenmänner, die in Pauls dauernden Klagen, der Kirche drohe durch die Neuerer ein Schisma, den Versuch sehen, jegliche Reform zu diffamieren. Freilich, mag Pauls Sorge vor einem Schisma auch übertrieben sein unbestritten ist die Bedrängnis des Papstes -eine Bedrängnis, die sowohl auf den Zeitgeist als auch auf die Geschichte der Kirche als auch auf Pauls Politik zurückzuführen ist. Mit mindestens drei Entscheidungen partizipiert Paul an den Ursachen seines Ungemachs.
Im Juni 1967, im fünften Jahr seines Pontifikats, verkündete er durch die
Enzyklika »Sacerdotalis caelibatus« seinen Willen, »daß das geltende Gesetz des heiligen Zölibats (der Ehelosigkeit) auch heute noch mit dem geistlichen Amt fest verbunden sein muß«.
Ein Jahr später, im Juli 1968, machte er den Versuch. den Eheleuten seiner Kirche die Empfängnisverhütung durch die Pille oder andere Mittel zu verbieten (Enzyklika »Humanae vitae").
Anfang Dezember ließ er ein negatives Kardinalsgutachten über den Holländischen Katechismus veröffentlichen. Er kränkte damit nicht nur die katholischen Theologen des Höheren Katechetischen Instituts in Nimwegen, sondern auch den Amsterdamer Kardinal Alfrink« der dem Katechismus (deutscher Titel: »Glaubensverkündigung für Erwachsene") das Imprimatur erteilt hatte. Weitaus mehr als eine Million Gläubige in Europa und Amerika kauften das mißbilligte Werk, und viele demonstrierten damit gegen Papst und Kurie.
Zwar verursachte keine einzelne dieser Entscheidungen für sich genommen Pauls Bedrängnis, insgesamt aber schärften sie den kritischen Sinn vieler Gläubiger, die damit empfänglich wurden für eine seit langem aufsässige Theologie.
Bischöfe und Kleriker, Theologiestudenten und junge Ehepaare In aller Welt -- diese ob der Zölibats-Bekräftigung enttäuscht, jene wegen des Pillenverbots verbittert -, dazu die in Ihrem Stolz gekränkte holländische Kirche, deren Empörung von Millionen deutscher und angelsächsischer Christen geteilt wird, sie alle gesellten sich zu jenen Mönchen und Gottesgelehrten, die nach dem Stichwort von Pauls Vorgänger Johannes XXIII. ein »Aggiornamento«, eine »Anpassung« der Kirche an die moderne wissenschaftliche und technische Welt verlangen.
Uralter Zorn über den Hochmut der Päpste und immer wieder erneuerter Unmut angesichts der Prunksucht der Kurie und des herrscherlichen Geistes ihres Lehramtes verbündete sich nach dem von Johannes einberufenen II. Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) mit der neuen revolutionären Theologie des »Gott vor uns«.
Diese Theologie möchte die Kirche In eine gesellschaftskritische Anstalt umfunktionieren. Sie will dem Christen auferlegen, ohne Rast und Ruh einem irdischen Gottesreich nachzujagen. Diese Theologie ist der frischen Umsturzgesinnung der Jugend verwandt.
»Raserei« habe den Menschen heute erfaßt -- »eine Sucht nach Neuerung und Veränderung, ein Wahnsinn, der alles umstürzen will«. So zog Paul Mitte Januar im Petersdom die Bilanz der Hiobsnachrichten eines Jahres. Sie kamen aus allen Enden der Welt, von allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie, und berichteten
* von wachsender revolutionärer Gesinnung unter dem lateinamerikanischen Klerus, der in einem Konkurrenzkampf mit Kommunisten und Guevara-Ideologen um die geistige Führung des Kontinents steht;
* von flauen und ausweichenden Stellungnahmen deutscher, belgischer, holländischer und amerikanischer Bischofskonferenzen zum Pillenverbot;
* von dem eindeutigen Nein der holländischen Kirche gegen die päpstliche Kritik an ihrem Katechismus;
* von Aufsässigkeit hoher kirchlicher Würdenträger wie dem Grazer Bischof Josef Schoiswohl, dem Siegburger Benediktinerabt Alkuin Heising, dem Erzbischof von Ravenna, Baldasarri, und dem Kardinal Lercaro;
* von öffentlichen Ungehorsamkeitserklärungen Tausender von Gläubigen und jenem allgemeinen Rom-Zorn auf dem letzten Deutschen Katholikentag, der Kardinal Döpfner zu seiner Frage veranlaßte, ob sich hier »ein Bischof überhaupt noch sehen lassen« könne;
* von Befehlsverweigerungen der deutschen Jesuiten-Provinziale Krauss und Ostermann gegen ihren General und vom Ordensaustritt des Regionalassistenten für das deutschsprachige Europa, Mario Schoenenberger (Seite 130);
* von Protest-Resolutionen führender katholischer Theologen, darunter die angesehenen deutschen Professoren Rahner« Küng, Ratzinger und Metz -- gegen die Zensur ihrer Schriften, gegen die theologische Autorität der Kurie Oberhaupt. Die Summe der Hiobsnachrichten: Schwund der päpstlichen Autorität, Aufweichung der Hierarchie, wachsender Ungehorsam der Priester und Laien, zunehmende Zweifel an den Dogmen -- an der Jungfrauengeburt zum Beispiel und der Erbsünde, an der Eucharistie und der leiblichen Auferstehung Christi, an der Himmelfahrt Marias und an der Unfehlbarkeit des Papstes.
Viele dieser Zweifel gehen auf junge Theologen zurück, die versuchen, die Dogmen der fast 2000 Jahre alten Kirche dem Verständnis heutiger Menschen zu erschließen und das katholische Christentum zu modernisieren. Ihre Bücher finden wachsenden Absatz. Die Streitschrift des Tübinger Professors Hans Küng »Wahrhaftigkeit«, für die das Ordinariat des Schweizer Bistums Solothurn die Druckerlaubnis mit dem Hinweis erteilte, sie bedeute keine »Zustimmung zum Inhalt des Buches«, fand bereits 33 000 Käufer.
Vertreter der modernen -- immer »kritisch«, manchmal »politisch«, manchmal »revolutionär«, manchmal »eschatologisch« (endzeitlich) genannten -- Theologie sind:
* in Deutschland die Theologie-Professoren Karl Rahner, 65, Johannes Baptist Metz, 40, Franz Böckle, 48, Joseph Ratzinger, 42, Herbert Haag, 54, Hubertus Halbfas, 36;
* der Schweizer, in Tübingen lehrende Professor Hans Küng, 41;
* in den Niederlanden der Dominikanerpater Professor Edward Schillebeeckx, 54, und der Jesuitenpater Professor Piet Schoonenberg, 57; > in Frankreich der Dominikanerpater Professor Yves Congar, 65, und der Jesuiten-Professor Henri de Lubac, 73;
* in Brasilien der Redemptoristenpater C. Jaime Snoek, 48.
Fast alle diese Rebellen wurden angeregt durch den 1955 verstorbenen Jesuiten und Paläontologen Teilhard de Chardin, der in Christus den Menschen der Endzeit sah, auf den hin sich alles Leben entwickelte. Jesus Christus war für Teilhard ein Vorgriff auf die vollendete Evolution der Welt überhaupt, ein erster leiblicher Auftritt dessen, was das Ziel des Kosmos ist -- und insofern die Zielfigur eines nicht mehr statischen, innerlichen, sondern eines dynamischen, auf Veränderung der Welt bedachten Christentums.
Während die junge Theologie sich durch den Widerhall, den sie in der Öffentlichkeit findet, zu neuen revolutionären Aussagen ermutigt fühlt, die Hierarchie aber ihrer Ohnmacht innewird, findet unter den Laien eine Polarisierung statt: Die meisten Gläubigen -- in den Niederlanden schätzt man sie auf 60 Prozent -- verfolgen den aufgekommenen Streit über Christi Botschaft voller Unmut und wachsender Verachtung, etwa 15 Prozent jedoch mit einem Interesse, dessen revolutionäre Motive unverkennbar sind, deren religiöse Dignität aber von den Konservativen bestritten wird.
* Während des Katholikentags 1868 in Essen.
** Verheirateter katholischer amerikanischer Priester William DuBay.
Mit dieser prekären Situation zahlen Papst und Kirche für Versäumnisse, die nach Meinung einiger Historiker bis zum Konzil von Trient (1545 bis 1563) zurückreichen, nach Ansicht anderer bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts. In Trient hatte sich die römische Kirche nach Luthers Reformation neu formiert. Sie errichtete eine autoritäre und kirchenrechtliche Festung, von der aus sie die heraufkommende Neuzeit verdammte.
Welcher Art die Position der Tridentinischen Kirche war, geht am deutlichsten daraus hervor, daß überall dort, wo sie im Verein mit katholischen Fürsten weiterhin die geistige Entwicklung bestimmen durfte, die Naturwissenschaften dahinkümmerten. Während in England Francis Bacon und Isaac Newton, in Deutschland Otto von Guericke und Gottfried Wilhelm Leibniz, in Holland Christiaan Huygens zu bürgerlichem Ansehen gelangten, demütigte in Italien die Kirche den größten Physiker der damaligen Welt, Galileo Galilei, indem sie ihn durch die Inquisition zum Widerruf zwang.
Freilich, solange die Wissenschaften noch nicht das Stadium der technischen und industriellen Anwendung ihrer Forschungsergebnisse erreicht hatten, blieb die politische Bedeutung der gewonnenen Erkenntnisse jedenfalls den breiten Schichten verborgen.
Erst als in der Mitte des 19. Jahrhunderts in England, Belgien, Deutschland und Frankreich die Industrialisierung voll einsetzte, die James Watt knapp ein Jahrhundert zuvor in England mit der gewerblichen Nutzung der Dampfkraft eingeleitet hatte, wurde deutlich, daß die Neuzeit nicht nur eine neue Astronomie (Kopernikus, Kepler), nicht nur eine neue Mathematik (Descartes, Leibniz), nicht nur eine neue Physik (Newton) und nicht nur eine neue Chemie (Boyle) hervorgebracht hatte. Sichtbar wurde vielmehr, daß Wissenschaft und Industrialisierung einen, wie es der Münsteraner Theologen-Rebell Professor Johannes Baptist Metz ausdrückt, »Umschlag in der Welterfahrung des Menschen« herbeigeführt hatten.
Galt bis dahin die Natur als das »Umgreifende«, als die majestätisch Herrschende, so wurde sie nun »zur Angegriffenen«, zum Labor des Menschen. Theologe Metz: »Die immer mehr in die Hände der Menschen fallende Welt erscheint wie herabgesunken von ihrem hoheitlichen Ansehen als Schöpfung Gottes zum Stoff rein menschlichen Schöpfertums«, erscheint als »rein weltliche Welt«.
Während Karl Marx den unter seinen Augen ablaufenden Rollen-Wandel des Menschen -- »vom Weltbetrachter zum Weltveränderer« (Metz) -- erkannte und eine diesen Vorgang widerspiegelnde Ideologie formulierte, verschanzte sich die katholische Kirche ärger denn je in ihrem Getto.
Wie ein anderer deutscher Rebellen-Theologe -- der älteste und angesehenste unter ihnen: der Jesuit und Professor Karl Rahner -- es beschrieb: Im 19. Jahrhundert habe die Kirche den Augenblick verpaßt, »wo der Mensch In der Lage ist, sein Schicksal gesellschaftlich aktiv planend in die Hand zu nehmen«. Mit Bitterkeit stellte denn auch der junge Münsteraner Fundamentaitheologe Metz fest: »Es gibt wohl keine große gesellschaftskritische Idee in unserer Geschichte -- sei es Revolution, Aufklärung, Vernunft oder auch Liebe und Freiheit -, die nicht durch das geschichtliche Christentum und seine Institutionen schon einmal desavouiert worden wäre.«
In demselben Jahr, In welchem Karl Marx die erste Internationale Arbeiterassoziation mitbegründete -- 1864 -, erließ Papst Plus IX. den »Syllabus«, einen Abweichler-Katalog, in dem er unter vielen anderen geistigen Sünden jeden Versuch einer Versöhnung »mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der neuen Kultur« feierlich verurteilte. Sechs Jahre später ließ sich derselbe Plus von den Bischöfen seiner Kirche bescheinigen, der Papst sei -- wenn auch nur unter bestimmten Bedingungen -- die einzige unfehlbare Institution auf Erden.
War der neunte Pius unter dem Eindruck der Revolution von 1848 zum Konservativen geworden, so veranlaßte die russische Revolution von 1905 den zehnten des Namens, einen weiteren Syllabus (1907) zu erlassen. Darin bedrohte Plus X. jeden Theologen, Priester und Laien mit dem Ausschluß aus der Kirche, sofern er etwa behaupten wolle:
* »die christliche Gemeinschaft« sei wie die menschliche Gesellschaft einer Entwicklung unterworfen und
* der »organische Aufbau« der Kirche sei »nicht unveränderlich«.
Außer der Exkommunikations-Drohung, die mit Verstößen gegen den zweiten Syllabus verbunden war, verordnete Plus drei Jahre später (1910) zusätzlich, daß jeder Kleriker auf der Welt bei seinem Amtsantritt den sogenannten Anti-Modernisten-Eid abzulegen habe.
Darin mußte der junge Geistliche beschwören, »fest« daran zu glauben, »daß die Kirche die Hüterin und Lehrerin des geoffenbarten Wortes« sei, mußte er »aufrichtig« bekennen, »daß der Glaube nicht ein blindes religiöses Gefühl« sei, und mußte er rationalistische Auslegungen der Heiligen Schrift verwerfen und verurteilen. Diesen Eid mußten alle katholischen Geistlichen noch bis vor eineinhalb Jahren leisten.
Im Jahre 1950 schließlich markierte der zwölfte Pius durch Verkündung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel eine extrem konservative, gegenüber den protestantischen Kirchen, vor allem gegenüber einem modern-wissenschaftlichen Verständnis extrem abweisende Position -- offenbar bewußt, um die besondere Stellung der römischen Kirche zu unterstreichen. Plus XII. scheute sich dabei ebensowenig wie einst Pius IX., eine bischöfliche und theologische Opposition in die Knie zu zwingen. Von dem Marien-Dogma sollen 22 Bischöfe, 80 Titular-Bischöfe und ein Kardinal abgeraten oder sich der Stimme enthalten haben.
So formierte sich die römisch-katholische Kirche in vier Jahrhunderten als ein religiöser Kampfverband, der seine militante Struktur ständig ausbaute, seinen Gläubigen immer entschiedener Unterwerfung und Gehorsam abforderte, seine Lehrsätze durch immer raffiniertere Eide und durch immer neue Strafandrohungen gegen die ringsumher anschwellende Flut der Zweifel absicherte.
Während die Kirche sich selber im Innern festigte, versuchte sie auch, mit der entstehenden Welt der Industrie, der Massengesellschaft und der Wissenschaften auf ihre Weise zu paktieren: durch den Aufbau eines kräftigen Verbandschristentums und durch die Bildung christlicher Parteien und Gewerkschaften. Auch gelang der Kirche die Entwicklung einer eigenen historisch-kritischen Theologie, die freilich -- auch wenn sie zunächst als Abwehrinstrument gegen die protestantischen Theologen gedacht war -- langsam zu einem kompetenten Mahner in den eigenen Reihen heranwuchs.
Hans Küng, Direktor des Instituts für ökumenische Forschung an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen, führt denn auch die Ursprünge der Neuen Theologie in die zwanziger Jahre oder gar bis ins 19. Jahrhundert zurück. Auf jeden Fall rechnet er Romano Guardini, den jüngst verstorbenen Münchner katholischen Philosophen, dazu, der zwischen den beiden Weltkriegen eine neue Liturgie propagierte und praktizierte.
Zu den Vorläufern der Neuen Theologie gehörten auch die etwa 100 französischen Arbeiterpriester, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Fabriken der Industrie zu arbeiten begannen und deren Bewegung von Plus XII. verboten wurde, als sie mit den Kommunisten fraternisierten.
Viele Schritten der Erzväter des heutigen »kritischen Katholizismus« wurden insgeheim und, wie etwa die Teilhard de Chardins, in handschriftlichen Kopien herumgereicht oder waren, wie die Rahners, ohnehin nur wenigen bekannt. Viele mit kirchlichen Verboten belegte Schriften sind bis heute in den römischen Archiven verschollen. Schwer überhaupt zu sagen, wieviel theologischer Sprengstoff sich hinter den Mauern der Tridentinischen Kirche angesammelt hatte, schwer auch zu sagen, was aus den Reform-Ideen geworden wäre, wenn nicht Johannes XXIII. die Kirche entriegelt, die Wendung des Christentums zur Welt propagiert, die »Verheutigung« der Kirche gefordert, den Dialog mit dem Kommunismus freigegeben und durch die Einberufung des II. Vatikanums ein Forum für eine Reformdiskussion geschaffen hätte.
Was immer Johannes XXIII. sonst bewirkt hat, das Entscheidende seiner Leistung wird heute darin gesehen, daß er einer neuen, dynamischen Theologie die Tore öffnete -- vielleicht auch einer neuen Religiosität. Aber das muß sich erst noch erweisen.
Was Marx propagierte, muß heute -- so Rahner -- von der Kirche gebilligt werden:
* »fortschreitende Sozialisierung des Menschen zur Erreichung eines möglichst großen Freiheitsraums«;
* »möglichste Befreiung des Menschen von der Herrschaft der Natur«.
Zwar besitzt nach Rahner das Christentum keine »innerweltliche Zukunftsutopie«, doch solle es sich zu »jeder sachlich sinnvollen innerweltlichen Zukunftsplanung« positiv stel-
* Pius XII. verkündet am 1. November 1950 das Dogma von der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel.
len -- auch wenn diese notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden müsse.
Diese revolutionäre Theologie wird in den verschiedensten Weisen begründet. Für Metz ist die Hinrichtung Christi durch die Römer, der »Skandal des Kreuzes«, ein Zeichen dafür, daß die christliche Religion in einem »tödlichen Konflikt« mit den öffentlichen Mächten steht. Der Tübinger Protestant Moltmann sieht in der leiblichen Auferstehung Christi das Signal zur Überwindung des desolaten Status quo der Welt schlechthin.
Andere Revolutions-Theologen berufen sich auf das in Chalkedon 451 formulierte Inkarnations-Dogma von der doppelten (göttlichen und menschlichen) Natur Christi. Sie sehen in dieser Lehre bekundet, daß Gott kein ferner Gott sein will, sondern in diese Welt gekommen ist, um in ihr zu wirken und sie zu ändern -- eine theologische Begründung, deren 1500jährige Herkunft der Alt-Rebell Rahner mit dem Satz rühmte: »Chalkedon und kein Ende!«
Daß das Wesen des Christentums nicht die »geglückte Flucht« aus der Welt sei (Metz), darin sind sich alle Neuen Theologen -- ob Deutsche oder Holländer, ob Franzosen oder Brasilianer -- einig. Doch sind im übrigen ihre Lehren keineswegs kongruent. So entsteht aus der Summierung ihrer Kritiken ein zuweilen absurdes Bild der künftigen Kirche.
Das Reformprogramm des Tübingers Hans Küng umfaßt Forderungen wie:
* Änderung der Papstwahl (Wahl durch eine Konferenz der Bischöfe aus der ganzen Welt, Heranziehung eines Laien-Rates, Ausschaltung des Kardinalskollegiums);
* kollegiale Kirchenleitung auf allen Ebenen der Hierarchie, Mitbestimmungsrecht von Laien-Räten;
* Kurien-Reform mit dem Ziel, außeritalienische Kirchen stärker zu repräsentieren, Reduzierung der Vollmachten der Kurie auf Kirchenverwaltung.
»in Zukunft«, so forderte etwa gleichlautend Pater Schillebeeckx, »wird die Autorität im Dialog mit dem Volk Gottes funktionieren müssen.«
Weit darüber hinaus gehen die Ideen von Professor Metz, der aus der katholischen Kirche eine »gesellschaftskritische Institution« machen will. Metz will »die Kleinbürger« aus der Kirche vergraulen und die Kathedralen mit einer »kritischen Öffentlichkeit« füllen, die eine »Informationssprache« ähnlich der Sprache von Peter Weiss oder Rolf Hochhuth versteht. Diese Kirche soll sich -- nach dem Willen von Metz -- auch »kritisch widersprechen lassen«, ja sie selbst soll die Möglichkeit eigenen Irrens einkalkulieren, sie soll deswegen eine »hypothetische« Sprache sprechen.
Zwar soll die Kirche, so Metz, mit anderen »nichtchristlichen Institutionen und Gruppen« kooperieren -- zum Zweck der Weltveränderung -, doch soll ihr Streben, wie Rahner sagt, auf einen »offenen«, oder, wie Metz sagt, auf einen »eschatologischen« Horizont gerichtet sein, also auf ein endzeitliches Gottesreich, über das nichts weiter auszusagen ist, als daß in ihm »Freiheit, Friede, Gerechtigkeit, Versöhnung« herrschen werden.
Jede konkretere Ausformulierung des Zukunftsprogramms der Kirche, so fürchten Rahner und Metz ähnlich wie die Anarchisten in der Außerparlamentarischen Opposition -- würde dazu führen, daß eine solche Zielvorstellung als Peitsche benutzt werde, um die Menschen zu unterwerfen. Auf diese Weise könne auch ein Programm der Liebe zum Herrschaftsinstrument werden.
Ähnlich wie Jürgen Habermas, der Frankfurter Sozialphilosoph, in seinem neuen Buch »Erkenntnis und Interesse« nur »experimentelles«, also zurücknehmbares gesellschaftliches Handeln zuläßt, genauso stellt Metz das Handeln der Menschen unter den »eschatologischen Vorbehalt« -- unter die Einschränkung, daß sein Tun stets im Hinblick auf den Gottesreich-Horizont revidierbar sein muß.
Völlig anders sieht es der in Brasilien lehrende Redemptoristenpater C. Jaime Snoek. Obwohl auch er ein Vertreter der revolutionären Theologie ist, fordert er von der Kirche eine »konkrete Ethik«, die auf »einer sachlichen Analyse der Wirklichkeit« beruhen soll. Laut Snoek sol] die Kirche »konkrete Pläne« für gesellschaftliche Reformen ins Auge fassen.
Bei der Durchsetzung dieser Reformen müsse, meint Snoek, der Berater der brasilianischen Bischofskonferenz ist, auch mit Revolution gerechnet werden. Ein »zeitweiliger Rückgriff auf Illegalität und Gewalt« sei nicht auszuschließen. Im letzten Punkt stimmt Snoek wieder mit Metz überein, der vor drei Jahren sagte: »Wenn christliche Liebe sich gesellschaftlich mobilisiert als unbedingter Wille zur Gerechtigkeit und zur Freiheit für die anderen, dann kann unter Umständen gerade diese Liebe selbst revolutionäre Gewalt gebieten.«
Die zukünftige Sprache der Kirche beschreibt Metz als »versachlichtes, gesellschaftsbezogenes und gesellschaftliche Wirkung intendierendes Wort«.
So kritisiert auch der Tübinger Theologe Joseph Ratzinger den »ärgerlichen Kurialstil« der päpstlichen Rundschreiben und deren »spätantike Sprachgestalt«. Hans Küng wiederum plädiert dafür, die feudalen Titel der römischen Prälaten und deren Kleidung abzuschaffen, weil sie die nichtkatholischen Christen abstollen: 'Römischer Apparat' und 'römisches System', äußere unevangelische Pracht und Macht, byzantinisches Hof zeremoniell, barocke Ausdrucksformen und absolutistische Regierungsweisen machen es den von uns getrennten Christen sehr schwer, im Papst den Fischer von Galiläa wiederzuerkennen, dessen Nachfolger zu sein er beansprucht.«
Seit Papst Calixtus I. (217 bis 222) berufen sich die römischen Bischöfe, wenn sie ihren Vorrang vor allen anderen Bischöfen beweisen wollen, vor allem auf das 16. Kapitel des Matthäus-Evangeliums. Dieser Bibelstelle zufolge hat Christus seinen Jünger Petrus als den »Felsen« bezeichnet, auf den er seine Kirche bauen wollte. Petrus aber habe -- so besagt die katholische Überlieferung -- seinen Primat an die Bischöfe von Rom vererbt.
Wenngleich der Primat des Papstes in der katholischen Kirche bis heute unumstritten ist, möchten viele Bischöfe außerhalb Italiens doch die Vorrechte gemindert sehen, die der Papst beansprucht. Paul VI. mahnte deshalb die Kirche der Niederlande durch eine Kardinalskommission, sie möge in ihrem Katechismus den Vorrang des Bischofs von Rom unzweideutig bestätigen: »Endlich ist die Vollmacht, kraft derer der Papst die Kirche leitet, klar darzulegen als eine vollkommene, höchste und allgemeine Vollmacht, die der Hirte der Gesamtkirche immer frei ausüben kann.«
Mit besonderem Nachdruck verlangte dasselbe Kollegium, die Holländer möchten »deutlich anerkennen, daß die Lehr- und Hirtengewalt in der Kirche unmittelbar dem Papst und den mit ihm in hierarchischer Gemeinschaft verbundenen Bischöfen übertragen sei, nicht aber dem Volke Gottes, das sie dann weiter vermittle«.
»Welt« dringt in die alte Festung des katholischen Glaubens ein, »Welt« auch in Gestalt von Sexualität. Professor Küng propagiert die »Aufwertung« der Frau.
Die »langhaarigen Wünsche« (Zitat aus einer theologischen Schrift) von vielen katholischen Geistlichen sind Beifracht auf dem Boot einer Theologie, die nach einem neuen christlichen Weltverhältnis sucht. 40 000 Priester sind, laut der in Freiburg erscheinenden »Herder-Korrespondenz«, wegen Verstoßes gegen das Eheverbot suspendiert worden. Rund 4000 Anträge auf Eheerlaubnis liegen im Vatikan vor.
Offensichtlich aus Gründen des Zölibats geht die Zahl der katholischen Theologiestudenten in fast allen Ländern ständig zurück -- in Holland von 400 im Jahre 1959 über 309 (1966) auf 166 Im letzten Jahr, die das Theologie-Studium aufnahmen. Drei der sechs holländischen Priesterseminare müssen aus Nachwuchsmangel geschlossen werden. Aus gleichem Grund wird demnächst die Jesuitenhochschule in Pullach bei München ihren Lehrbetrieb verkleinern müssen. Fast 70 Prozent katholischer Christen sprachen sich in einer SPIEGEL-Umfrage für die Aufhebung des Zölibats aus.
Nach Berechnungen des brasilianischen Bischofs Pieter Koop werden die lateinamerikanischen Kirchen im Jahre 2000 rund 150 000 junge Priester brauchen. In einer Eingabe an das Konzil bat Koop -- »um die Kirche in unseren lateinamerikanischen Ländern zu retten« -, möglichst bald einen verheirateten Klerus zuzulassen. Paul VI. verbot, »über dieses Thema, dessen Behandlung die größte Klugheit erfordert ... öffentlich zu debattieren«.
Die harte Haltung der Kirche ist einer der Gründe für die sozialrevolutionäre Stimmung, die sich unter den jungen Klerikern Südamerikas breitmacht und für die der kolumbianische Jungpriester und Partisanenführer Camilo Torres ein Beispiel ist. Er fiel Anfang 1966 als Rebell.
Freilich hat die zunehmende Verunsicherung vieler kirchlicher Institutionen und Dogmen doch auch bei einigen Neuen Theologen Bedenken aufkommen lassen. So polemisiert der Tübinger Rebell Küng zwar in seinem jüngsten Buch »Wahrhaftigkeit« gegen die »autoritäre Ein-Mann-Regierung« des Papstes, betont jedoch gleichzeitig, daß »die ausschlaggebende Autorität des Pfarrers, Bischofs, Papstes« nicht angetastet werden dürfe. Welche Funktionen die Kleriker- und Laien-Räte auch immer haben sollen, das letzte Wort gebührt auch nach Küngs Ansicht immer dem Papst.
Die »Demokratisierung« der Kirche soll -- jedenfalls nach Meinung Küngs -- offenbar hei einer Art konstitutioneller Monarchie zum Stillstand kommen. Als abschreckendes Beispiel gilt für viele aufsässige Katholiken der sektiererische Verfall und damit die Ohnmacht protestantischer Kirchen.
Allerdings werden von den Neuen katholischen Theologen vielfach ehrwürdige Dogmen angezweifelt oder psychologisierend umgedeutet, die von den Entmythologisierern in der protestantischen Theologie längst modern interpretiert worden sind. So nehmen »Hölle« und »Fegefeuer« im Holländischen Katechismus Züge einer Freudschen Neurose-Beschreibung an. (Tatsächlich glauben mehr als die Hälfte aller Katholiken in der Bundesrepublik an eine Hölle, in der Menschen nach dem Tode für Sünden bestraft werden.)
Der Dominikaner Schillebeeckx möchte die »Transsubstantiation« -- also die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi -- mit einer neuen Bezeichnung versehen: »Transsignifikation«. Damit würde das Wunder der Verwandlung auf eine Bedeutungsänderung reduziert sein. »Wenn wir hören«, äußerte Schillebeeckx, »daß eine Maus an einer Hostie geknabbert hat, so braucht uns das nicht zu erschrecken.«
Der deutsche Theologe Halbfas sieht in der Zeugung Jesu durch den Heiligen Geist kein »biologisches Faktum«, der holländische Jesuitenpater van Kilsdonk leugnet »die Empfängnis Jesu im Schoße seiner Mutter ohne Dazwischenkunft eines Mannes«. Dem Professor für alttestamentliche Theologie in Tübingen, Herbert Haag, wird nachgesagt, er wolle das Dogma von der Erbsünde in Zweifel ziehen -- ein Verdacht, der in Rom auch gegen den Holländischen Katechismus geäußert wird.
Papst Paul hielt diese Zweifel für gefährlich genug, um zum Beispiel eine Bestätigung der Erbsünde in das feierliche »Credo des Gottesvolkes« aufzunehmen, das er vor über einem halben Jahr in Rom verkündete. Danach hat der Katholik zu glauben, »daß in Adam alle (Menschen) gesündigt haben« und daß »die Erbsünde mit der menschlichen Natur übertragen wird, nicht durch Nachahmung, sondern durch Fortpflanzung, und daß sie so zu einem jeden gehört«.
Obwohl also die Neue Theologie sich auch durch Kritik an altem Glaubensgut, durch dessen Umdeutung und manchmal Relativierung auszeichnet« scheint das doch nicht ihr wesentliches Merkmal zu sein. Tatsächlich haben viele Neue Theologen eine ausgesprochene Vorliebe für »schwierige« (das heißt dem menschlichen Verständnis schwer zugängliche) Dogmen so etwa für Christi Auferstehung und für die Fleischwerdung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus. Es geht den Neuen Theologen jedenfalls nicht nur um »Anpassung« an eine wissenschaftlich-technische Welt.
Vielmehr nehmen die Neuen Theologen -- wie auf katholischer Seite vor allem Rahner, Metz, Yves Congar, Jaime Snoek und auf protestantischer Seite zum Beispiel Moltmann -- durchaus Konflikte mit wissenschaftlichem Verstehen in Kauf, bieten ihren Lesern zuweilen sogar Aussagen von provozierender Unglaubwürdigkeit oder jedenfalls äußerster Schwierigkeit an, wenn diese Aussagen nur biblische Begründungen für ein »revolutionäres Christentum« hergeben. Eben das ist bei den Inkarnations- und Auferstehungs-Dogmen der Fall.
Das Wort von der »Weltveränderung« wurde geläufig durch Karl Marxens berühmten Satz, man müsse die Welt »nicht interpretieren«, sondern »verändern«, Diese Tatsache erklärt das Mißverständnis, die »kritischen Katholiken« seien, wie von rechten Katholikentags-Besuchern im vorigen Jahr gesagt wurde, »halbe Kommunisten«.
Unbestreitbar ist, daß zumal die deutschen »kritischen« Theologen ein Faible für sozialistische Gesellschaftsformen haben. »Privateigentum« das sei ein Begriff, »der auf die Dauer nicht zu halten sein wird«, so Rahner. Unbestreitbar ist auch, daß die Paulus-Gesellschaft des katholischen Pfarrers Dr. Kellner die Aufforderung von Papst Johannes XXIII., die Katholiken sollten den »Dialog« mit den Kommunisten suchen, besonders intensiv praktiziert hat.
Gleichwohl hat es den Anschein, daß kommunistische Machthaber in Mittel- und Osteuropa das traditionelle, konservative und autoritäre katholische (und protestantische> Christentum sehr viel lieber sehen als die neue, unruhige Theologie, welche die Kirche in eine gesellschaftskritische Anstalt verwandeln will. DDR-Theologen kritisierten Moltmanns revolutionäre Theologie, indem sie geltend machten, die Botschaft Christi verlange vom Gläubigen keineswegs nur Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Umgebung, sondern auch Dank.
Umgekehrt haben Rahner, Metz und Moltmann keinen Zweifel daran gelassen, daß die weltverändernde Mission des neuen Christentums sich -- nach ihren Vorstellungen -- nicht nur gegen den Kapitalismus, sondern auch gegen den Kommunismus richten könne. Moltmann beobachtete am Kommunismus gar »Keime der Resignation«.
Rahner attackierte in einem Streitgespräch der Paulus-Gesellschaft den französischen KP-Führer Professor Garaudy -- und zwar mit demselben Argument, mit dem seit 100 Jahren die Anarchisten und neuerdings auch die Anti-Autoritären den Kommunismus angreifen: Der Marxismus-Leninismus habe sein Endziel, die klassenlose Gesellschaft, verabsolutiert, damit ein Unterdrückungs-Regime geschaffen und auf diese Weise »die Zukunft zum Moloch« gemacht.
Die Bedrängnis des Papstes Paul -- ein Produkt der Geschichte seiner Kirche, ein Produkt auch seiner eigenen Fehlleistungen, ganz bestimmt aber auch der Neuen Theologie -- ist eingebettet in eine allgemeine Autoritätskrise. Sie trifft Moskau nicht weniger als Rom.
Wie der Papst seinen Primat gegen Neue Theologen verteidigen muß, so die kommunistische Zentrale ihren Führungsanspruch gegen Anarchisten, Literaten und Verbündete. Vielen Intellektuellen, auch im Osten, ist der dialektische Materialismus kaum glaubwürdiger als die Himmelfahrt Marias, der Mißbrauch der Marxschen Lehre durch Stalin kaum weniger abstoßend als der der christlichen Lehre durch die Renaissance-Päpste.
Auch die stärksten geistigen Widersacher des Christentums in der Moderne -- die Naturwissenschaften und die Aufklärung -- verzeichnen den Schwund ihrer Autorität. Max Horkheimer, Begründer der Frankfurter Gesellschaftskritik, registrierte schon vor 20 Jahren die »Verdüsterung der Vernunft« und die Korrumpierung der Ideen der Aufklärung.
Andere Denker, darunter auch solche der Neuen Theologie, behaupten, daß die Wissenschaften nicht mehr in der Lage seien, in der immer mehr anschwellenden Flut des Wissens eine Auswahl des für die Menschheit Guten zu treffen, unter dem Überfluß dessen, was gemacht werden kann, das herauszufinden, was gemacht werden soll.
Angesichts der »Resignation« (Moltmann) der Gegner des Christentums, angesichts ihres Orientierungsmangels, glauben katholische Neue Theologen, es nähere sich die Stunde, wo die Kirche »in ganz neuer Weise die gesellschaftskritische, gewissermaßen »politische« Potenz ihres Glaubens und dessen Hoffnung und Liebe mobilisieren« (Metz) sollte. Obwohl Metz in diesem Zusammenhang mit großem Nachdruck leugnet, die »christliche Gemeinde« wolle. wieder -- wie einst die mittelalterliche Kirche -- »zu politischer Herrschaft drängen«, empfiehlt er der Kirche doch, in die Politik »hineinzusprechen«, und zwar dann, wenn es um die »Präferenzen der zu verfolgenden Zwecke« geht.
Tatsächlich erkennen auch kommunistische Beobachter die politische Relevanz der Neuen Theologie. So schreibt der tschechische Philosoph und Lehrer an der Militärakademie in Brünn, Gardavsky: Die neuerliche »Selbstreflexion« des Christentums sei »ein hochpolitischer Vorgang«; sie stelle »eine Anstrengung dar, die Kräfte und die Machtfülle des Christentums neu zu beleben"*.
Trotz aller Einschränkungen, die Metz macht, enthält die Neue Theologie doch einen neuen Führungsanspruch, wenn nicht der Kirche, so doch eines revolutionären Christentums -- eines Christentums freilich, das zur Zeit vornehmlich durch gelehrte Theologen repräsentiert wird und über dessen Breitenwirkung trotz Pillen-Zorns, Katechismus-Begeisterung und Zölibats-Ärgernissen noch keine Aussage möglich ist. Obwohl diese Neue Theologie zweifellos dazu beigetragen hat, den römischen Papst In Bedrängnis zu bringen, Ist noch nicht sicher, ob sie mehr als das vermag,
Paul selbst jedoch scheint es zu fürchten -- und trägt so möglicherweise dazu bei, seine Gegner zu ermutigen und zu lauterem Widerstand zu reizen. Am 4. Dezember berichtete die deutsche Tagespresse, daß Paul sich wieder einmal öffentlich über die vielen Widerstände gegen ihn beklagt habe -- diesmal mit dem Christus-
* Vitezslav Gardavsky: »Gott ist nicht ganz tot -- Ein Marxist über Religion und Atheismus«. Chr. Kaiser Verlag. München; 236 Seiten; 14 Mark.
Wort »Wollt auch ihr gehen?« Einen Tag später, am 5. Dezember, hielt Professor Metz in Münster eine improvisierte Vorlesung, in der er von dem »manchmal geradezu zynisch gebrauchten Wort »Wollt auch ihr gehen?"« sprach.
Gleichzeitig forderte er seine Rebellen-Freunde auf, »nicht mehr so zimperlich« mit den Konservativen umzugehen, sondern offen deren »guten Willen« und deren »gutes Gewissen« zu bestreiten.
Freilich, die Metz-Rede wider die Zimperlichkeit dürfte kaum das Signal zu einem innerkirchlichen Aufstand sein. Metz selber weiß es besser. Vor kurzem beschrieb er die Erneuerung der Kirche als einen Maikäfer, »der pumpt und pumpt und pumpt« und sich nie in die Luft erhebt.
Aber auch die Gegner der Neuen Theologie -- die Kurie, der Papst und die Konservativen -- kommen selten über das »Pumpen« nach Maikäfer-Art hinaus. Seit 1965 hat die einst mächtige Inquisitionsbehörde, das Heilige Offizium -- nun »Kongregation für die Glaubenslehre« -, an Einfluß verloren. So können die Neuen Theologen furchtloser ihre Ansichten verkünden.
Zwar hat Paul seine Nuntiaturen schon vor einem halben Jahr angewiesen, ihn regelmäßig über gefährliche Tendenzen auf theologischem, liturgischem und disziplinärem Gebiet zu unterrichten, zwar kann er die »Abweichler« in seinen Generalaudienzen und Enzykliken schelten, doch ist noch nicht einmal sicher, daß dies seine wahre Meinung ist. »Was den Papst angeht«, sagte Im vorigen Jahr Pater Schillebeeckx, »so ist er der Gefangene von fünf oder sechs Kardinälen.«