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BM-PROZESSE Sprengstoff brühwarm

Einen riskanten Balance-Akt unternimmt BM-Kronzeuge Müller im Stammheimer Prozeß. Bei seinem Bemühen, die einstigen Genossen zu belasten, ist er auch selbst bedroht.
aus DER SPIEGEL 30/1976

Die konspirativen Wohnungen hießen »Sack«, »Faß«,"Laube«, »Mühe« oder »Bunker«. Ihre Bewohner tarnten sich mit Decknamen wie »Valentin« -- gemeint: Andreas Baader, »Lollo« -- Ilse Stachowiak, »Töle« Angela Luther. Berlin nannten sie »Teig«, Hamburg »Liesels Stadt« -- weil hier Ulrike Meinhof, die im Gruppen-Code »Liesel« hieß, einst bürgerlich zu Hause war.

Seit das einstige Baader-Meinhof-Mitglied Gerhard Ernst Müller, 28, im Verfahren gegen die von ihm verlassene Rote Armee Fraktion (RAF) in Stuttgart-Stammheim auspackt, wird Zug um Zug entschlüsselt, was die einstigen Spitzen-Terroristen auch immer versteckten oder verdeckten: Geheimsprache und Gruppenstruktur, Lagepläne und Logistik, Kommunikation und Kontroversen untereinander.

Die bündigen Informationen über die RAF-Anschläge und deren Vorbereitung sowie über die Rollenverteilung in der Gruppe hat Müller dreimal von sich gegeben: zuerst im Frühjahr 1975, nach der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz, gegenüber Bundeskriminalbeamten -- »informell«, wie er sagte; dann in einer offiziellen Vernehmung seit Ende März, just nachdem die Revisionsfrist der Staatsanwaltschaft in seinem eigenen Verfahren verstrichen war; und schließlich seit Donnerstag vorletzter Woche vor dem BM-Tribunal.

So sagte Zeuge Müller aus, Gudrun Ensslin habe noch aus der Zelle heraus verfügt, den vermeintlich unzuverlässigen Siegfried Hausner ins Ausland abzuschieben oder zu liquidieren. Ulrike Meinhof, so berichtete er, lag sich ständig mit Andreas Baader in den Haaren und betrieb eine Fraktionierung mit dem Ziel der späteren Abspaltung. Der Abtrünnige trug vor, daß jedes Gruppenmitglied seine Aktionen diskutieren und billigen lassen mußte -- »nur der Baader nicht« -- und daß es für jeden RAF-Soldaten Pflicht war, bei drohender Verhaftung sofort zu schießen.

Flüssig, wohlartikuliert und frei von jeglichem BM-Welsch gab Müller zu Protokoll, wer welche Anschläge ausführte oder auch welche Sympathisanten welche Aufgaben übernahmen. Zu jedem Namen fiel ihm, der einst den Decknamen » Hardy« getragen habe, etwas ein. Nur ein einziges Pseudonym hatte er, dessen Stellenwert als Zeuge aus den Intimkenntnissen über die Gruppe rührt, vorgeblich ebensowenig gekannt wie den Mann, dem es diente »Harry«.

Jener Anonymus war im Stuttgarter Verfahren auf Aktenlichtbildern nach alten Photos von Dierk Hoff, dem Frankfurter BM-Bombenbastler, als Gerhard Müller identifiziert worden. In Müllers eigenem Verfahren hat.« Hoff (Deckname: »Pfirsich") freilich Müller nicht mehr als Harry wiedererkannt. Und Müller selbst hatte behauptet, Hoff nie gesehen zu haben.

Dabei blieb es, bis es Richter Theodor Prinzing am Dienstag letzter Woche gelang, mit einer einfachen Indizienkette nachzuweisen, daß Hardy und Harry identisch sind und daß Müller es war, der die Bomben für das Attentat auf das Frankfurter US-Hauptquartier (Hoff: »Der Sprengstoff war noch brühwarm. wir mußten ihn in der Badewanne kühlen") zwei Stunden vor der Detonation abholte und Hoff auch bezahlte.

Nach einer Nacht Bedenkzeit gab der Bombenbote zu, was kein Staatsanwalt und kein Richter trotz der offenliegenden Zusammenhänge zuvor zu beweisen vermochte: »Ich war Harry.«

Des Zeugen Zögern ist erklärlich. Denn zwar ist der Prozeß wegen seiner bisher bekannten Delikte -- Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, Beihilfe zum Mord, Urkundenfälschung und unerlaubter Waffenbesitz -- bereits abgeschlossen; Müller erhielt für diesen Part als Hardy in Hamburg zehn Jahre Haft. Doch Harry ist, nach allen vorliegenden Informationen, ein weit gefährlicherer Terrorist als seine zweite Personenhälfte Hardy. Zeuge Müller belastete sich mit seinem späten Geständnis mithin zusätzlich, und seither steht für ihn ein weiteres Verfahren auf dem Spiel.

Gleichwohl ließ er sich einstweilen nicht in der Absicht beirren, dem Gericht wie der Bundesanwaltschaft auf nahezu alle Fragen gefällig zu sein. Willig erzählte er oft mehr, als man ihn fragte. Und durch die Bank belastete er nun die einstigen RAF-Genossen wie deren Verteidiger.

So soll Hans-Christian Ströbele nicht nur Sprengstoffrezepte aus Jordanien beschafft, sondern auch wankelmütige BM-Mitglieder »auf Kurs gebracht« haben. Den Anwalt Rupert von Plottnitz bezeichnete Müller »als engagierten RAF-Psychologen«, der immer dann auftauchte, wenn einer umzufallen drohte.

Siegfried Haag soll als Beauftragter von Andreas Baader die einsitzenden Häftlinge aufgesucht und instruiert haben, Klaus Croissant heißt bei Müller schlicht »Handlungsreisender in Sachen Ensslin«. Er soll, zusammen mit seinem einstigen Kompagnon Jörg Lang, Siegfried Hausner an die Gruppe »herangeführt« und »abgescheckt« haben.

Und als Schaltstelle für Infos aus den Zellen, das verzweigte und abgestufte Kommunikationssystem, mit dem -- so Müller -- »die RAF wieder aufgebaut und stabilisiert« werden sollte, benannte der Zeuge die Anwälte Ströbele, Haag, Rainer Köncke, Kurt Groenewold, Klaus Croissant. Eberhard Becker, Marieluise Becker, Jörg Lang. Dieter Hoffmann und Rupert von Plottnitz.

Damit qualifizierte sich Gerhard Müller in Stammheim nicht nur zum Kronzeugen gegen Baader. Ensslin und Jan-Carl Raspe, sondern auch gegen jene BM-Anwälte, die zu Beginn des Verfahrens ausgeschlossen wurden. Der Prozeß, so scheint es, verliert durch Müllers Angaben das oft auch international verzeichnete Odium mangelnder Rechtsstaatlichkeit. das spätestens aufkam, als die Anwälte Ströbele und Croissant aus der Untersuchungshaft entlassen wurden -- weil sich der Vorwurf, sie hätten eine kriminelle Vereinigung unterstützt, seinerzeit nicht als handfest genug erwies.

Zumindest der Bundesanwaltschaft ging es ersichtlich darum, im Verfahren selbst zu belegen, daß es eine Zerschlagung der Verteidigung nicht gegeben habe. Jedoch: Die Selbstsicherheit und mithin Glaubwürdigkeit des Zeugen Müller gerieten immer dann ins Wanken, wenn die Fragen nicht von Richtern oder Bundesanwälten kamen, sondern von der Verteidigung. So eloquent er sonst auftrat, so unsicher, oft patzig wirkte Müller in der Befragung durch Otto Schily. Während der unscheinbare Bombenbastler, stets dezent gekleidet und mit bewegungsloser Miene. das Forum zuvor mit Informationen geradezu überschüttet hatte, beschied er den Anwalt knapp: »Das geht Sie gar nichts an« oder »Ich sag nicht zweimal nein.«

Müllers Dilemma wurde dadurch deutlich: Obgleich es in der Bundesrepublik die Institution des Kronzeugen nicht gibt, ist der gesprächsbereite BM-Abweichler in diese Rolle gedrängt worden -- ohne jedoch der Vorteile sicher zu sein, die ein Kronzeuge in einem amerikanischen Verfahren automatisch genießt. Während in den USA der Kronzeuge weiß, daß eine weitere Verfolgung von ihm begangener Straftaten ausgeschlossen ist, sobald er sich dem Gericht zur Verfügung gestellt hat, muß der Quasi-Kronzeuge Müller bei jeder ihn direkt oder indirekt belastenden Aussage damit rechnen, daß etwas nachkommt.

Alles, was Gericht und Bundesanwälte von ihm wissen wollten, ging bislang nicht über die Delikte hinweg, für die er in Hamburg bereits verurteilt wurde. Zur Wiederaufnahme des Hamburger Prozesses bedürften die Ankläger jedoch des Nachweises eines Meineids zugunsten des Angeklagten. Und die vorletzte Woche von der Verteidigung präsentierte Anschuldigung. er habe den Polizisten Norbert Schmid erschossen (Müller wurde in diesem Punkt in Hamburg freigesprochen). würde prozessual allenfalls dann relevant, wenn er diese Tat gesteht. Gefahr hingegen droht ihm von den Stammheimer Anwälten. Die Verteidigung muß alles daransetzen. Unglaubwürdigkeit des Zeugen zu demonstrieren, muß nach Schwachpunkten in seinen Aussagen suchen. Vom Stuttgarter Gericht sanft geführt, beruft sich Gerhard Müller deshalb bei jeder heiklen Frage der Verteidiger auf den Paragraphen 55 der Strafprozeßordnung -- der ihm das Zeugnisverweigerungsrecht gibt, sobald Gefahr besteht, daß er sich selbst belastet.

Solche Aussage-Abstinenz macht es der Verteidigung nahezu unmöglich. Angaben, die auf Befragen der anderen Prozeßbeteiligten gemacht werden, zu hinterfragen. Und der Kronzeuge, der gar kein Kronzeuge ist, wird so zur gespaltenen Persönlichkeit: freundlich, hilfsbereit, höflich gegenüber dem Gericht und der Bundesanwaltschaft. aggressiv. abweisend und verschlossen gegenüber den Verteidigern.

Und wenn eine Berufung auf Paragraph 55 nicht hinreichte, beschied Müller den Anwalt Schily auch einmal: »Das ist eine Unverschämtheit« oder einfach »Das weiß ich nicht.« Nur dann, wenn es dem Zeugen wirklich unbehaglich wurde, variierte er seine Antworten, dann verfiel der schwäbische Ex-Soldat der Weltrevolution ins heimatliche »Des sag i net«.

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