OSTBLOCK / FÜHRUNGS-KRISE Sprung im Ei?
Chinas Marschall Tschen-Ji, ruhmbedeckter Heerführer des Bürgerkrieges, stellvertretender Premier und seit 1958 Außenminister, stellte sich in Genf den Reportern.
Fragte ein Kanadier den gelben Genossen: »Was ist eigentlich wahr an den immer wieder auftauchenden Berichten über ideologische Streitigkeiten zwischen China und der Sowjet-Union?«
Tschen-Ji entgegnete linientreu: »Weder Provokationen noch Gerüchte können die unauflösliche Einheit des chinesisch-russischen Bündnisses erschüttern.«
Und einem französischen Korrespondenten diktierte Rotchinas außenpolitischer Marschall ins Stenogramm: »Sie werden in der chinesisch-sowjetischen Allianz ebensowenig einen Sprung finden wie in einem Enten-Ei.«
Frage und Antworten zielten auf einen Bericht des britischen Publizisten polnischer Herkunft und ehemaligen Trotzki -Freundes Isaac Deutscher in der Londoner »Sunday Times«, der Anfang Juli die Sowjetexperten des Westens erregte; er weckte abermals Hoffnungen ("The Times": »Wie weit ist die Kluft?"), die westliche Welt könne von den Interessengegensätzen der beiden kommunistischen Großmächte profitieren.
Deutscher hatte ein angebliches Schreiben »aus Chruschtschows Kanzlei an die Zentralen einiger ausländischen kommunistischen Parteien« zitiert, das heftige Anklagen gegen Chinas Mao Tse-tung enthielt. Danach hatte Mao nicht nur die Moskauer Deklaration der 81 kommunistischen Parteien vom November 1960 über die Politik der friedlichen Koexistenz verletzt, sondern - so das Dokument - »seit 1949 ständig den Präventivkrieg gegen den Westen gepredigt«.
Kremlforscher Deutscher zitierte als schlimmste Vorwürfe:
- »Die Führer der chinesischen KP haben den Plan ausgebrütet..., den Weltkommunismus in zwei Zonen zu teilen, eine sogenannte westliche, für die Sowjetrußland verantwortlich sein soll, und eine sogenannte östliche Zone unter (Führung) der Volksrepublik China.«
- »Sie (die Chinesen) haben besondere Zentren in Europa, Asien und Afrika geschaffen, die sie für ihre 'subversive Tätigkeit' gegen Moskau benutzen.«
Der Londoner Kremlologe kannte auch das sowjetische Verdikt: Chinas Plan »riecht nach Rassenvorurteilen (racialism) und steht in Gegensatz zu den Prinzipien des Kommunismus«.
Was Isaac Deutscher enthüllte, hatte einen Monat vorher in einer kommunistischen Zeitschrift Frankreichs gestanden: »La Vole Communiste« veröffentlichte am 10. Juni sogar den vollen Wortlaut eines ähnlichen anonymen Dokuments. Doch erst die Analyse des prominenten Kremlforschers machte die ihm zugespielten Papiere zu jener weithin beachteten publizistischen Rarität, die selbst Chinas Außenminister Tschen-Ji zu einer Entgegnung zwang.
Während britische Diplomaten Deutschers Enthüllungen einige Glaubwürdigkeit zubilligten, sprach man im Washingtoner State Department von einer »kalkulierten Indiskretion«. Und die »Neue Zürcher Zeitung« spöttelte über den »alten Trick vom chinesischen Druck auf Moskau«.
Deutscher selbst meinte: »Auch wenn es eine bewußte Indiskretion (leak) ist, würde es mir genauso bedeutsam erscheinen - als Anklage gegen den wichtigsten eigenen Alliierten, der zum Kriegsanstifter gestempelt wird.«
Polnische KP-Funktionäre urteilten denn auch, der Deutscher-Report sei zwar »technisch falsch«, also kein parteioffizielles Dokument, wohl aber »zu 90 Prozent richtig«, was den tatsächlichen Stand der sowjetisch-chinesischen Beziehungen betreffe.
Tschen-Jis Genfer Erklärung über die »sogenannten Meinungsverschiedenheiten« mit der Sowjet-Union, die Peking sogleich veröffentlichte, erreichte die Leser der Moskauer »Prawda« erst mit sechs Tagen Verspätung in einer sorgsam zensierten Fassung. Dabei wandelte sich die »unauflösliche Einheit« zum dürftigen Dementi (« ... bestritt Gerüchte der bürgerlichen Presse").
Über ähnlich lieblose Redigierkünste hatten sich die Chinesen auch in anderen Fällen zu beklagen. So wurde der 40. Gründungstag der großen chinesischen Bruderpartei Anfang Juli mit einem kleinen Artikel auf der Dritten »Prawda«-Seite abgetan, während die mongolischen Kommunisten mit ihrem 14. Parteitag auf der ersten »Prawda« -Seite brillierten.
Die »Prawda«-Redakteure taten indes nur, was die Sowjetpolitiker ihnen vorexerzierten. In die mongolische Hauptstadt Ulan Bator reiste Michail A. Suslow, prominentes Mitglied des sowjetischen Parteipräsidiums. Die Chinesen erhielten dagegen aus Moskau nur eine Grußbotschaft des Zentralkomitees, in der mahnend an die Deklaration der 81 kommunistischen Parteien und damit an die sowjetische Führungsrolle (« ... von allen anerkannte Vorhut der kommunistischen Weltbewegung") erinnert wurde.
Da auch in der roten Hemisphäre solche Fragen des Protokolls präzis geregelt sind, konnte es den Ostexperten der Westmächte nicht entgehen, daß damit akkurat jene Politik geübt wurde, die dazu bestimmt ist, dem - so augenfällig in westliche Hände gespielten - angeblich chinesischen Plan einer »Teilung des Weltkommunismus in zwei Zonen« entgegenzuwirken. Das von den Sowjets benutzte Instrument: Isolierung der Chinesen, die im Westen als Kriegstreiber verketzert werden.
Dabei geht es nicht mehr um marxistisch-leninistische Theorie, sondern um handfeste Machtpolitik, um Interessensphären innerhalb der roten Halbwelt, deren Abgrenzung Moskau zu verhindern sucht.
Von dem sowjetisch-chinesischen
Wettbewerb um die Gunst der roten Satelliten (siehe Karte Seite 41) hat bereits eine Reihe von kleinen Staaten profitiert:
- Die Mongolei (sechsmal so groß wie die Bundesrepublik, mit einer Million Einwohnern), an die Sowjet -Union durch einen Beistandspakt gebunden, von Chinas Premier Tschu En-lai 1960 mit einem Staatsbesuch geehrt, kassierte seit 1957 Wirtschaftshilfe im Werte von 700 Millionen Mark von den Sowjets und 300 Millionen Mark von den Chinesen.
- Nordkorea (etwa so groß wie die DDR, mit 12 Millionen Einwohnern) strich allein im vergangenen Herbst von China Kredite in Höhe von 420 Millionen Rubel (430 Millionen Mark) ein, die Rußland kurz darauf mit einem Schulderlaß von 760 Millionen Rubel übertrumpfte; mit beiden roten Großmächten hat Nordkoreas Premier Kim Il-sung soeben neue Militär- und Wirtschaftsabkommen unterzeichnet.
- Albanien, der kleinste der kommunistischen Staaten (nicht viel größer als Hessen, mit 1,5 Millionen Einwohnern), bisher von den Sowjets ausgehalten, empfing vor wenigen Monaten aus Peking Hilfsgelder in unbekannter Höhe und schwenkte ins chinesische Lager über; Chruschtschow-Anhänger wurden hingelichtet; der sowjetische Marinestützpunkt Valona mußte schließen.
Auch Nordvietnams Regierungschef Pham Van Dong, vorletzte Woche Staatsgast in Moskau, kehrte mit neuen sowjetischen Hilfeversprechen heim, nachdem zuvor das benachbarte China mit Kreditzusagen nicht gekargt hatte.
Mao Tse-tungs Regierung hat sogar den Ehrgeiz, als roter Finanzier allenthalben noch großzügiger zu erscheinen als die Sowjet-Union. Peking war nicht nur gegenüber den kommunistischen Staaten Albanien, Nordkorea, Nordvietnam und Mongolei spendabel, es räumte auch dem prokommunistischen Kuba sowie Guinea und auch Burma Kredite ein - ohne Zinsen und mit Rückzahlungsfristen bis zu 30 Jahren - in der Hoffnung, damit seinen politischen Einfluß auszudehnen.
Um die Gebefreudigkeit des chinesischen Rivalen, der jährlich etwa 800 Millionen Mark für Auslandshilfe verausgabt, ins rechte Licht zu rücken, versäumte man in Moskau nicht, daran zu erinnern, daß China selbst - wie das Wirtschaftsblatt »Wneschnjaja torgowlja« enthüllte - an die Sowjet -Union zur Zeit mit 1,3 Milliarden Mark verschuldet ist; es hat seit 1958 keine russischen Kredite mehr erhalten.
Mehr noch: China muß nach seinen mißlungenen Agrarexperimenten in der westlichen Welt für über zwei Milliarden Mark Nahrungsmittel kaufen.
Offenkundig erschien den Sowjetpolitikern der Zeitpunkt, da China in eine schwierige wirtschaftliche Situation geraten ist, trefflich geeignet das zu tun, was das, von Kremlforscher Isaac Deutscher zitierte Dokument androht (und gleichzeitig auf raffinierte Art bewerkstelligt): »Den geheimen oder halbgeheimen Streit (mit Mao) an die Öffentlichkeit zu bringen.«
Dem Westen, so mag dabei die Kalkulation auf westliche Denkschablonen lauten, sei ein von der Sowjetmacht kontrolliertes China lieber als eine ungebundene, kriegslüsterne asiatische Weltmacht.
China indes fühlt sich der sowjetischen Gängelung längst entwachsen. »Der schwerste Sowjetsatellit«, witzelte Marschall Tschen-Ji jüngst mit einem französischen Journalisten, »wiegt vier Tonnen. China ist zu schwer, um Satellit zu werden.«
Die Zeit
Der dritte Mann
Deutsche Zeitung
»Merk dir - die Führung habe ich!«
Rotchinas Außenminister Tschen-Ji
Mao wiegt vier Tonnen