PROZESSE Spur im Äther
Auf Kanal 13 der Amateurfunker im Rheinischen meldete sich »Robby eins« und erkundigte sich nach dem »verschwundenen Jörg«. Da funkte die Station »Foxtrott Lima« dazwischen: »Das heißt nicht Robby eins, sondern Kinderkiller.« Eine andere Stimme im Äther quäkte: »Den Robby, den Kerl müßte man aufhängen.«
Die Schmähungen über Kurzwelle galten einem unbeliebten Außenseiter unter den Citizen-Band-Funkern (CB) zwischen Bonn und Koblenz: Hans-Jürgen Schmidt, 37, Inhaber eines umsatzschwachen Elektrofachgeschäfts in Rheinbreitbach. Er stand seit Mai 1979 in dem Verdacht, den elfjährigen Schüler Jörg Wolters ermordet zu haben.
17 Monate verbrachte Schmidt in Untersuchungshaft, doch seit die 3. Strafkammer des Landgerichts Koblenz seinen Fall verhandelt, wird von Tag zu Tag fraglicher, ob da dem Richtigen der Prozeß gemacht wird.
Schon nach drei Verhandlungstagen wurde Schmidt auf freien Fuß gesetzt, weil die Bonner Kripo allzu lückenhaft und voreingenommen ermittelt hatte. Das Gericht sah »keinen dringenden Tatverdacht« mehr.
Als der Schüler Jörg, auch ein Amateurfunker in Rheinbreitbach, am 30. April 1979 als vermißt gemeldet wurde, dauerte es nur zwei Tage, bis Schmidt (CB-Kode »Robby eins") in Funkerkreisen als Täter verdächtigt wurde. Während freiwillige Helfer die Wälder des Siebengebirges nach dem verschwundenen Jungen durchkämmten, tönte es über Kurzwelle: »Seht lieber gleich mal im Auto von Robby nach.«
Als Indiz für »Robbys« Täterschaft genügte es den Kollegen, daß Schmidt und der kleine Jörg (Kode: »Tiger eins") am Tag des Verschwindens miteinander einen Funkdialog geführt hatten, der von zwei Stationen, »Peugeot« und »Hummel«, mitgehört wurde.
»Robby« ("Jetzt gehst du die Straße geradeaus. Hinter der Kurve mußt du meine Antenne sehen") lotste den mit einem Handfunkgerät ausgestatteten »Tiger« zu seinem Haus. Als »Tiger« fragte: »Hast du ein rotes Auto?« riß der Funkkontakt plötzlich ab. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft noch vor 12 Uhr mittags. Um die Mittagszeit soll auch der Mord begangen worden sein.
Zwei Wochen danach, am 13. Mai, wurde die entkleidete Leiche des Schülers im Waldgebiet Hüppelröttchen bei Eitorf/Sieg gefunden. Die Obduktion S.61 ergab, daß Jörg Wolters zunächst mißhandelt und dann mit einem »bandartigen Gegenstand« erdrosselt worden war. CB-Funker hatten inzwischen der Kripo so minutiös über die letzten Ätherkontakte des Jungen mit Schmidt berichtet, daß es auch bei der Justiz funkte. Am 30. Mai wurde gegen den Elektriker Haftbefehl erlassen. Kriminalhauptkommissar Helmut Dilba von der Bonner Mordkommission gab Schmidts Verteidiger Gerhard Prengel, wie dieser sich erinnert, schon kurz nach der Festnahme zu verstehen: »Sie verteidigen den falschen Mann, Herr Rechtsanwalt.«
Dilba war derart »überzeugt, den Mörder gefunden zu haben«, daß er dem Gericht erklärte, »ich wäre doch ein Tor, wenn ich noch andere Spuren verfolgt hätte«. Anwalt Prengel zum Beispiel hatte der Bonner Polizei geraten, nicht nur Schmidt als einzigen denkbaren Täter einzukreisen, sondern auch anderen Verdachtsmomenten nachzugehen. Freilich: Auch die Staatsanwaltschaft in Koblenz war sich absolut sicher, den Richtigen hinter Schloß und Riegel zu haben.
Ein Indiz: Gegen Hans-Jürgen Schmidt war schon einmal, vor 16 Jahren, ein Verfahren »wegen Unzucht« mit einem sechsjährigen Jungen anhängig gewesen. Zwar wurde Schmidt damals in zweiter Instanz freigesprochen, doch den Ruf eines Kinderschänders wurde er nicht mehr los.
Obwohl es auch diesmal für ein Sexualdelikt keine Beweise gab, dichtete Staatsanwalt Ernst Wilhelm Weller dem verdächtigen Amateurfunker in der Anklageschrift wieder einmal »sexuelle Handlungen an einem Kind« an. Detailliert schilderte Weller, wie und wo der Beschuldigte dem Jungen zu nahe getreten sei: »In seiner Wohnung griff er dem Kind an das Geschlechtsteil, nachdem er die Hose des Jungen heruntergezogen hatte.« Danach habe »Robby« den sich wehrenden Buben, so die Version der Ermittler, ermordet.
Belegen ließ sich dies freilich nicht. Verfahrensbeteiligte können sich »nicht erinnern«, jemals zuvor eine so auf »Unterstellungen und Mutmaßungen« beruhende Anklage gelesen zu haben.
Dem 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz, der mehrfach seit Mitte 1979 im Fall Schmidt über die Fortdauer der Haft zu beschließen hatte, gingen die Phantasien des Staatsanwalts Weller zu weit. »Die Annahme eines Tathergangs, so wie ihn die Staatsanwaltschaft zu dem Vorwurf der sexuellen Verfehlungen in der Anklageschrift ausgeführt hat«, rügte der Senat, sei »durch das Ergebnis der Ermittlungen ... nicht gerechtfertigt«. Bei der Eröffnung des Hauptverfahrens entfiel denn auch der Vorwurf eines Sexualdelikts. Dem Angeklagten wurde nicht länger ein sexuelles Motiv unterstellt.
Hans-Jürgen Schmidt aber bestritt von Anfang an, mit dem Verschwinden und dem Tod des Kindes etwas zu tun zu haben. Zwar bestätigte er den Funckontakt mit Jörg Wolters; er will den Jungen jedoch nie zu Gesicht bekommen haben. Weil er von einem Geschäftsfreund angerufen worden sei, habe die über CB-Funk verabredete Begegnung nicht stattgefunden.
Die Polizei glaubte Schmidt jedoch nicht. Ebensowenig den Entlastungszeugen, deren Aussage teilweise nicht protokolliert oder von Vernehmungsbeamten als »unwesentlich« abgetan wurde. Erst jetzt, beim Prozeß, konnten diese Zeugen von ihren Beobachtungen berichten. Eine Hausfrau, ein Rentner und ein Mädchen sind sicher, Jörg Wolters mit seinem Funksprechgerät (Fachjargon: »Handgurke") noch zu einem Zeitpunkt in Rheinbreitbach gesehen zu haben, da der Junge nach S.64 staatsanwaltschaftlicher Lesart längst tot gewesen sein muß. Und ein Hobby-Funker (CB-Kode »Primel") will noch lange nach 12 Uhr mittags mit »Tiger eins« Funkkontakt hergestellt haben.
Als dann auch ein Spielkamerad erklärte, noch gegen 17 Uhr des vermeintlichen Tattages mit Jörg gespielt zu haben, hob die Schwurgerichtskammer auf Antrag des Verteidigers den Haftbefehl auf.
Völlig entlastet war Schmidt damit nicht. Sein Alibi wurde nicht in allen Punkten bestätigt. Ein Haar, das an der Leiche sichergestellt wurde, könnte nach Meinung der Spurenkundler »dem Angeklagten zuzuordnen sein«. Und Gutachter des Landeskriminalamtes Düsseldorf sicherten an der Kindesleiche Spuren, die auf den Firmen-VW-Transporter des Angeklagten deuten. Lacksplitter beweisen nach Auffassung der Staatsanwaltschaft, daß der tote Jörg in diesem Auto abtransportiert worden sei.
Doch von wem? Beim »Prozeß der unliebsamen Überraschungen«, wie ihn der Vorsitzende Richter Ernst-Günther Girshausen nennt, geschah wieder einmal Unerwartetes: Ein 23jähriger Koch, bekannt mit dem Angeklagten und ebenfalls Hobby-Funker, mußte zugeben, am Tag von Jörgs Verschwinden ebenfalls mit dem VW-Transporter Schmidts gefahren zu sein.
Der Richter zum Zeugen: »Ich sage Ihnen auf den Kopf zu, daß Sie etwas wissen«, und die Koblenzer Staatsanwaltschaft plant bereits, ein Ermittlungsverfahren gegen den Koch einzuleiten -- noch während der Hauptverhandlung gegen Schmidt.
Schmidts Verteidiger Prengel will das alles lange geahnt haben. Er hatte schon früh von einem über Funk »gesteuerten Verdacht« gegen seinen Mandanten gesprochen. Doch der »wahre Täter«, so prophezeite Prengel geheimnisvoll, sei »ein ganz anderer Funker«.
S.61Mit seinem Verteidiger Gerhard Prengel (l.).*