ATTENTATE Spuren des Todes, tote Spuren
Ein Jahr danach: Über 1400 Personen vernommen, 340 Beweisstücke eingesammelt, mehr als 300 Spuren abgearbeitet. Bei neun Verdächtigen die Wohnung auf den Kopf gestellt, die Telefone angezapft, tagelang, nächtelang observiert. Und als Ergebnis nur eine Ahnung. Mehr als nichts, aber mehr auch nicht. Die Bombe von Düsseldorf - das Rätsel bleibt.
Ein Jahr danach: Als sie ihre Arbeit begann, war die Sonderkommission der Polizei 80 Köpfe stark und hatte noch den heißen Atem, den der Täter im Nacken spüren sollte. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement hatte versprochen, »keine Ruhe zu geben, bis wir die Urheber dieses gemeinen Verbrechens dingfest gemacht haben«. Jetzt sind es noch zwei Beamte, die eine kriminalistische Altlast behüten, und jene vage Ahnung, die vielleicht nie eine Gewissheit wird - wohin die richtige Spur führt.
Ein Jahr danach, nach dem mysteriösen Anschlag auf der Brücke zur S-Bahn-Station Wehrhahn: Elektronik-Ingenieur Boris V. aus Kiew hält sich den aufgetriebenen Bauch. Früher war er ein guter Boxer, Ringer, Leichtathlet. Heute kann der 52-Jährige keinen Wasserkasten mehr heben. Ein Splitter hatte seinen Darm zerfetzt.
Tatjana L. aus Odessa war im fünften Monat schwanger. Ihr Kind starb, als sich ein winziges Metallteil in den Unterleib bohrte. Das Baby, sagt nüchtern ein Arzt, »musste operativ entbunden werden«. Mit ihrem Mann, der an der linken Körperseite schwerste Verletzungen erlitt, lag sie bis vor wenigen Wochen im Krankenhaus.
Der Kauffrau Ekaterina P., die aus einem kleinen Ort in Kasachstan stammt, zerriss es die Hauptschlagader im rechten Bein. Weil auch das Lymphsystem zerstört wurde, kann heute das Gewebewasser nicht mehr abfließen. Ein Dauerleiden - »immer wieder wird mein Bein dick«.
Vor einem Jahr, am 27. Juli 2000, exakt um 15.04 Uhr an einem regnerischen Nachmittag, war im Düsseldorfer Stadtteil Flingern ein Sprengsatz hochgegangen, der die Republik erschütterte. Er befand sich in einer weißen Plastiktüte, die am Geländer der Fußgängerbrücke hing, etwa 1,50 Meter von einem Durchgang entfernt. Verant-
wortlich, so schien es, war jene braune Gesinnung, wie sie Glatzköpfe in jeder Fußgängerzone immer ungenierter heraushängen ließen.
Es traf sieben Frauen und drei Männer, allesamt Schüler einer nahe gelegenen Sprachenschule. Manche hatten erst seit ein paar Tagen Unterricht, manche seit Monaten. Sechs Opfer waren jüdische Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion, Menschen, die in spröder deutscher Amtssprache »Kontingentflüchtlinge« heißen, dazu vier Russlanddeutsche.
Warum sie? Bis heute tastet sich die Kripo mit dünnen Indizien durch wacklige Theoriegebäude - zeitweilig verirrte sie sich auf falschen Spuren. Zumindest weiß sie nach einem Jahr, dass die Bombe mit Zeitungspapier umwickelt war - einem Anzeigenblättchen, das nur in bestimmten Stadtvierteln verteilt wird. In der Tüte steckten zwei weitere Gegenstände: eine Plastikflasche und eine Dose mit Reinigungsmitteln.
Die Polizei weiß auch, dass die Bombe von einem Spezialisten gebaut worden sein muss; sie kennt das Material, aus dem sie bestand. Und sie weiß, dass der benutzte Sprengstoff Trinitrotoluol (TNT) leichte Verunreinigungen aufwies - für Experten zumindest ein Fingerzeig auf dessen Herkunft. Diese Ahnung, die einzige.
Aber Motiv und Urheber? »In den Täter«, sagt Kommissionsleiter Dietmar Wixfort, »können wir uns nicht hineindenken.«
Ein Verrückter, der wahllos morden wollte - und sich gerade diese Gruppe aussuchte? Drogendealer, die an diesem in der Szene bekannten Umschlagplatz lästige Konkurrenten loswerden wollten? Russische Profigangster, denen einer der Übersiedler vielleicht Geld schuldete?
Oder eine Beziehungstat? Oder Araber in ihrem Hass auf Juden? Oder doch Rechtsradikale?
Die Politik wies schnell die Richtung. Aus dem Urlaub in Italien meldete sich Bundesinnenminister Otto Schily zu Wort und ermittelte, dass der »Verdacht eines fremdenfeindlichen Hintergrunds« bestehe. Sein Kabinettskollege Joschka Fischer, der grüne Außenminister, pflichtete bei: »Ausländerhass« sei der »wahrscheinlichste Hintergrund«.
Die Düsseldorfer Bombe veränderte das Land, zumindest ein Stück. Nordrhein-Westfalens oberster Polizist, Innenminister Fritz Behrens, rief zu einer »Wehrübung der aufrechten Demokraten« auf. Bündnisse »gegen rechts« wurden geschlossen, in Köln kündigte Ford-Chef Rolf Zimmermann an, bei ihm flögen »Ausländerhasser oder Neonazis« raus.
Scheinbar schlagartig stieg die Zahl so genannter Propagandadelikte wie Hakenkreuz-Schmierereien an - doch nur deshalb, weil die Bevölkerung aufgewacht war, weil sich nach dem Anschlag »das Anzeige- und Meldeverhalten ganz entschieden verändert« habe, wie NRW-Verfassungsschutzchef Hartwig Möller analysierte. Und in Berlin beeilte sich die Bundesregierung, ein Verbot der NPD vorzubereiten; der Antrag liegt heute beim Bundesverfassungsgericht.
Dabei wehrten sich die Wehrhahn-Ermittler immer wieder gegen Schnellschüsse und versuchten der vorzeitigen Festlegung auf einen Täterkreis - Dilemma jeder Fahndung - entgegenzusteuern. Öffentlichen Spekulationen zum Trotz, so damals ein hoher Beamter, gebe es »keine zuverlässigen Anhaltspunkte dafür, dass die Tat einem ausländerfeindlichen oder rechtsradikalen Hintergrund zugeordnet« werden könne.
Der erste Tatverdächtige, der vorübergehend festgenommen und stundenlang verhört wurde, war allerdings ein stadtteilbekannter Neonazi, der 200 Meter vom Tatort entfernt einen Militaria-Laden ("Survival Security & Outdoor") betrieb: Ralf S., 34, Ex-Bundeswehrsoldat und früher, mit Elvis-Tolle, Vorsitzender des Düsseldorfer »Manta«-Clubs.
Anwohner fürchteten ihn als »Sheriff von Flingern«, der mit Hund durch den Stadtteil patrouillierte oder nachts im Kampfanzug durchs Viertel robbte.
Auch die vermeintliche Tatwaffe passte ins Bild. Schon Anfang August, nur wenige Tage nach dem Anschlag, präsentierten Ermittler das, was sie für den Sprengsatz hielten - eine Handgranate »älteren Modells, verwandt in den Jahren 1914 - 1945«. Solche Eierhandgranaten aus Gusseisen mit Waffelmuster ("Mills Bomb") sind als entkerntes Sammlerstück für jeden zu kaufen, etwa im Militaria-Handel. Mancher Waffennarr hat sich daraus ein Feuerzeug gebastelt.
Doch die Mills Bomb war, wie sich später herausstellen sollte, die falsche Spur, genauso wie der Militaria-Mann S.
Wie stets in solchen Fällen kämpfte die Kripo von Anfang an gegen Spinner und Trittbrettfahrer, fast 30 Verfahren wurden eingeleitet. Ganz krude: Eine »Grüne Zelle« teilte dem Bundeskriminalamt mit, sie habe das Verbrechen organisiert, um »die Schröder-Mannschaft unter Druck zu setzen« und das eigene »Profil« zu stärken.
Vier Tage nach der Tat hatten die Fahnder 140 Spurenakten angelegt, die Belohnung stieg von 10 000 auf 120 000 Mark. Für 40 000 Mark besorgte die Polizei in den USA einen Detektor ("Orion Non Linear Junction Evaluator"), der außer Metallteilen auch kleinste Fragmente elektronischer Bauteile aufspüren konnte. Tagelang musste ein Spezialist aus Coburg die Ermittler einweisen. Dann wurde untersucht, erst am Tatort, später noch einmal: In 60 Mülltonnen, jede mit einem Fassungsvermögen von 240 Litern, transportierten Beamte Strauchwerk und Erdreich ab und lagerten sie in einer Polizeikaserne.
Am 19. September meldete sich eine Frau bei der Sonderkommission. In der Schule ihrer Tochter habe ein Polizist über den Anschlag referiert - und da sei ihr »plötzlich was eingefallen«. An jenem 27. Juli sei sie über die Brücke zur S-Bahn-Station gelaufen, »am Geländer hing eine weiße Tüte«.
Da sie in den nächsten Zug einstieg und von der Detonation nichts mitbekam, muss die Tüte nach einer Rekonstruktion der Polizei »gegen 15 Uhr« befestigt worden sein. Also kurz vor dem Zeitpunkt, an dem die Sprachenschüler wie üblich zum Bahnhof eilten.
Doch die Beobachtung half bisher nicht weiter - so wenig wie der kriminalistische Vergleich mit Anschlägen am 14. Dezember 2000 in Berlin oder am 5. Januar 2001 in Hamburg, die Russen oder Russlanddeutschen galten. Zusammenhang mit Düsseldorf: negativ.
Ein Paderborner Richter meldete in die Landeshauptstadt, er verhandele gegen einen jungen Russlanddeutschen, der den Freund seiner ehemaligen Lebensgefährtin habe umbringen wollen - mit einer Handgranate. Doch auch Spur Nummer 229 war schnell wieder kalt. Tatverdacht: keiner.
In Duisburg stand ein Paar vor Gericht, das Kontingentflüchtlinge mit gefälschten Dokumenten ins Land geschmuggelt hatte, gegen hohes Honorar. Auch hier kam die Polizei nicht weiter: »Keines der Opfer der Düsseldorfer Tat ist als geschleuste Person in Erscheinung getreten.« Indizien: null.
Dann kam der 25. Januar 2001. Eine schreckliche Tat, »aber wir waren«, gesteht ein Polizeibeamter, »elektrisiert«. In der Düsseldorfer Scheurenstraße hatte sich der 35-jährige Markus W. eine Mini-Bombe auf die Brust gelegt und sich den Kopf weggesprengt.
W., von einem Nachbarn als »Schwarzpulver-Narr« beschrieben, galt als psychisch krank. Recherchen ergaben, dass er sich am Tattag »bis ca. 13 Uhr« (Polizeiprotokoll) in unmittelbarer Nähe des S-Bahnhofs aufgehalten hatte. Doch auch diese Spur des Todes endete als tote Spur. Der Klärwerksarbeiter war damals in stationärer psychiatrischer Behandlung und wurde mit anderen Patienten von Pflegern ausgeführt - ernüchternde Erkenntnis: »Hinweise auf eine für die Tatbeteiligung erforderliche Trennung von der Gruppe« hätten sich nicht ergeben. Also wieder nichts.
Unterdessen versuchten Spezialisten der Bundeswehr, Partikel aus dem Tatortmüll zu analysieren. Intern war längst klar, dass der erste Befund - alte Handgranate mit Waffelmuster - nicht stimmen konnte.
Jetzt kam die Bestätigung: Behutsam formulierten die Militärtechniker, bei dem Sprengsatz müsse es sich nicht zwingend »um eine Eierhandgranate« gehandelt haben, es könne auch »ein zylindrischer Körper« gewesen sein. In der »Gesamtschau aller Teilergebnisse« erscheine es »wahrscheinlich«, dass die Bombe »nicht industriell gefertigt« worden sei.
Obgleich die Bundeswehr-Untersuchung keine »Erkenntnisse zur Zündvorrichtung und zur Art der Zündauslösung« erbrachte, ergab sie dennoch das interessanteste Detail der gesamten Mammutfahndung. Der benutzte Sprengstoff TNT habe, so das Gutachten, einen »verschwindend geringen Bestandteil TNB«, also eines ähnlichen Explosivmittels, aufgewiesen - wahrscheinlich eine »Verunreinigung infolge einer nicht sauberen Sprengstoffherstellung«.
Für die weitere Suche nach Tätern und Motiv könnte dieser Befund Bedeutung haben. Das hoch brisante TNT wird vielfach militärisch genutzt, Aufkäufer in westlichen Armeen lassen ständig Chargen auf ihre Sauberkeit prüfen - das spricht auf jeden Fall dagegen, dass das Düsseldorfer TNT aus Nato-Beständen kommt. »Wahrscheinlich«, so ein Ermittler, »stammt der Sprengstoff aus dunklen, östlichen Quellen.«
Und dass die Wehrhahn-Bombe in privater Werkstatt produziert worden sein muss, bestätigen nach monatelanger Analyse die renommierten Experten der Mannesmann Materialforschung GmbH in Duisburg. Sie fanden erst kürzlich heraus, dass der Sprengkörper »zusammengebaut« wurde; der Konstrukteur müsse, folgert ein Fahnder, Spezialist sein und ein »großes Knowhow« haben.
Die Täter - doch Profis aus dem Osten?
Das ist sie, die Ahnung, ein dünner Faden, wenig, um daran zu ziehen und das Knäuel aufzudröseln. Die Kripo übt sich in Zurückhaltung. Ein »konkreter Tatverdacht«, heißt es in einem internen Papier, bestehe »weiterhin« nicht, von den »entwickelten Tattheorien, auch im Hinblick auf einen möglichen rechtsradikalen Hintergrund«, habe »keine erhärtet« werden können. Und weiterhin:
Insbesondere ist ... unklar, ob es sich um einen gezielten oder ungezielten Anschlag auf die Opfergruppe handelte, die an dem Tag zufällig in dieser Zusammensetzung am Tatort war. Auch die Tat eines Einzeltäters ohne Bezug zu den Opfern ist denkbar.
In den ersten Wochen nach dem Anschlag war die Jüdische Gemeinde wie gelähmt vor Angst. Gläubige wechselten ständig ihren Weg zur Synagoge, Eltern brachten Kinder nicht mehr zum Thora-Unterricht; die Kontrollen rund um den Kindergarten und die Schule wurden noch schärfer.
Doch irgendwann versackte die Angst wieder im Alltagstrott, »bleibende Schäden«, sagt Geschäftsführer Michael Szentei-Heise, habe es nicht gegeben. Die Düsseldorfer Gemeinde, die viertgrößte in Deutschland, wächst weiter, so sehr, dass sie für ihre Glaubensbrüder einen Zuzugsstopp für den Stadtbereich erließ.
Und trotzdem: Der Anschlag ist verdrängt, nicht vergessen; auch Paul Spiegel, Zentralratspräsident der Juden in Deutschland, trägt das Rätsel als quälendes Gedankenspiel mit sich herum. »Es wäre für uns alle einfacher, wenn der oder die Täter endlich ein Gesicht bekämen.« Nur die »Welle der Solidarität«, die er und seine Gemeinden nach der Tat erfahren hätten, die Geldspenden für die Opfer, »heilen ein wenig die Wunden«.
Ekaterina P. wollte arbeiten in Deutschland, »kräftig arbeiten« für sich und ihre Söhne. Stattdessen lebt sie von der Sozialhilfe. »Das Arbeitsamt in Solingen hat mir gesagt, ich soll erst richtig gesund werden, ehe sie mich weiter auf einen Sprachkurs schicken«, erzählt sie. »Woher soll ich wissen, wann ich wieder gesund bin und ob überhaupt?«
Anfangs hat sie auch den Versprechungen der Politiker geglaubt, den Opfern des Anschlags werde besonders geholfen. »Ein Bürgermeister hat mich im Krankenhaus besucht - das war alles. Mit meinem kaputten Bein hatte ich eine Wohnung im fünften Stock - ohne Aufzug. Nicht einmal bei der Wohnungssuche haben sie mich unterstützt.« Bei der Suche nach Arbeit auch nicht. Auf dem Arbeitsamt wurde sie kürzlich gefragt, ob sie nicht Rente beantragen wolle - mit 51 Jahren.
Die Wehrhahn-Bombe hat Ekaterina P. nicht nur äußerlich verletzt. Oftmals schreckt sie im Traum hoch. »Dann«, sagt sie, »mache ich mich im Bett ganz klein und will mich verstecken.« Dabei hat sich das Phantom jenes Tages so tief in ihrem Kopf eingenistet, dass sie ihm nicht mehr entgehen wird. Es gibt kein Weglaufen vor der Erinnerung, nur die Flucht in den Fatalismus, so wie bei Boris V.: »Das hätte mir auch in der Ukraine passieren können.«
GEORG BÖNISCH, BARBARA SCHMID
* Am 3. August vergangenen Jahres in Düsseldorf mit denSprechern von Polizei und Staatsanwaltschaft, Lothar Sprick undJohannes Mocken.