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§ 218: »Das Elend der Erpressung«

aus DER SPIEGEL 17/1972

Das Material, auf das ich mich vor allem stütze, sind Briefe und Fragebogen von 1200 Frauen, in denen sie 1966 über eigene Abtreibungserfahrungen berichten. Nach Ausbildung und Beruf gehörten die meisten zur unteren und zur mittleren Mittelschicht.

Als letztlich ausschlaggebend für den Eingriff werden am häufigsten wirtschaftliche Gründe genannt. 25 Prozent berufen sich darauf. Die wirtschaftlichen Gründe sind vielfältig. Viele Frauen sagen, die Wohnung sei ohnehin schon zu klein, eine Familienvergrößerung würde die Enge so schrecklich machen, daß daran die Ehe zugrunde gehen könnte; andere verweisen auf den Hauswirt, der keine Kinder mag, die zwei vorhandenen seien ihm schon zuviel; wieder dritte fragen: Wohin mit dem Kind, wenn man in einem möblierten Zimmer wohnt und kein Geld für eine höhere Miete hat?

Junge Paare meinen, sie könnten den Eltern, bei denen sie leben, nicht auch noch ein Enkelkind zumuten. Die Schilderungen zeigen, daß wirtschaftliche Gründe selten bloß wirtschaftlicher Natur sind. Materielle Bedrängtheit gefährdet die Partnerbeziehungen, erschwert den Frauen die Wahrnehmung ihrer familiären Aufgaben und verdüstert die Lebensstimmung.

In ähnlichen Zwangslagen befinden sich die Frauen, die durch ein weiteres Kind zur Beendigung der Erwerbsarbeit genötigt wären. Zu berücksichtigen ist dabei, daß die meisten Frauen, die sich in schlecht bezahlten Stellen befinden und ein Kind oder mehrere Kinder haben, sehr viel lieber die Erwerbsarbeit aufgeben und sich ganz der Familie widmen würden. Sie könnten das aber nicht, weil der Mann zuwenig verdient oder weil sie nicht wissen, wie sie das Kind unterbringen sollten. Hier wirken sich der Mangel an Kindergärten und sonstiger Betreuungsstätten sowie die unzureichenden Kindergelder für Familien der niedrigen Einkommensschichten abtreibungsfördernd aus.

Anders ist die Situation der dritten Gruppe in der Gesamtheit derer, bei denen wirtschaftliche Momente den Ausschlag gaben: junge Frauen in der Ausbildung. In das gängige Schema der Kritik am sogenannten Materialismus der Frauen paßt allenfalls die vierte Gruppe. Sie ist sehr klein. Zu ihr gehören diejenigen, die gerade ein Haus bauen und deshalb kein Geld für ein Kind haben oder die wegen der Anschaffung des Wagens und verschiedener Abzahlungen keine größere Familie wollen.

An die wirtschaftlichen schließen sich die partnerschaftlichen Gründe an. Für knapp 20 Prozent waren Störungen der Zweierbeziehung das maßgebende Motiv, Ledige wurden vom Freund unter Druck gesetzt, oder sie konnten oder sie wollten ihn nicht heiraten, Verheiratete fürchteten, der Mann würde vor lauter Kindergeschrei das Haus verlassen oder er könnte infolge einer Geburt die Ausbildung nicht beenden oder er würde noch mehr trinken oder sie selbst wären dann endgültig an eine faktisch zerrüttete Ehe gebunden.

Den partnerschaftlichen verwandt sind die sonstigen familiären Gründe, von 15 Prozent genannt. Hier stellen die Ledigen den Eltern, vor allem den Müttern, negative Zeugnisse aus. Sie hätten zur Abtreibung gedrängt wegen der »Schande«. In den Äußerungen darüber treffen mehrere Probleme zusammen: wirkliche soziale Geringschätzung der ledigen Mütter, bloß vermutete Ächtung, ängstliche Konformität, geringe Widerstandsfähigkeit gegen tatsächliche oder angenommene soziale Kontrollen in beiden Generationen. Aus der Sicht der Betroffenen bleibt dann nur die Wahl zwischen Abtreibung oder »Schande«...

Angesichts dieser Sachlage wäre es humaner, den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten straffrei zu machen und dadurch das Elend der Heimlichkeit, Erpressung, der medizinischen Unkorrektheit und des fundamentalen Zweifels an der staatlichen Gerechtigkeit zu vermindern.

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