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§ 218: Die merkwürdige Fürsorge

Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 17/1972

Hätte nicht 1949 der Parlamentarische Rat in Artikel 102 des Grundgesetzes verkündet: »Die Todesstrafe ist abgeschafft« -- es wären von 1949 an Bürger der Bundesrepublik gegen die Beibehaltung der Todesstrafe angerannt. Ihre immer wieder enttäuschte Hoffnung hätte sich schließlich auf eine grundsätzliche Änderung der politischen Verhältnisse in Bonn gerichtet. Und so stünde heute im Themenkatalog der Koalition, die seit 1969 regiert, die Frage ganz vorn, ob die Todesstrafe abgeschafft werden soll.

Was würde heute in Bonn geschehen, damit man einer Antwort näherkommt? Nun, es würde ganz gewiß ein Hearing stattfinden. Dürfte man auf das Ergebnis dieses Hearings gespannt sein? Kaum.

Denn es würden sachverständige Personen in beliebiger Zahl vortragen, was ihre längst bekannte Meinung ist, was indessen dennoch mit großer Überraschung zur Kenntnis genommen werden würde. Und zuletzt bliebe -- angesichts des breiten, doch noch erstaunlich widersprüchlichen Feldes der Meinungen -- keine andere Möglichkeit als die, dergestalt weise und keineswegs feige zu kapitulieren, daß zwar ein büßchen weniger, doch grundsätzlich weiter hingerichtet wird.

Der Bundesrepublik ist ein Streit um die Todesstrafe erspart geblieben. 1949 war der Schatten des Mordens unter Hitler noch so nah, daß ein Grundgesetz gestiftet werden konnte, in dem man ohne Rücksicht auf die Mehrheit der Bevölkerung dem Töten »Im Namen des Volkes« abschwor. Heute sind wir so weit, daß die Mehrheit dem über ihre Köpfe hinweg geleisteten Verzicht zuzustimmen beginnt.

Es wäre vermessen, darüber zu klagen, daß auf die Gebär-Appelle des NS-Regimes. auf seine dem hemmungslosen Morden exakt entsprechende Anfeuerung zum Zeugen, auf Ahnenerbe und Mutterkreuz-Rummel nicht wie auf das Morden unter Hitler reagiert wurde: daß man sich nach einer zwölfjährigen Degradierung der Frau zur Kuh der Ausbreitung von Rasse und Volk nicht dazu entschloß, ihr endlich die Entscheidung darüber zu überlassen, ob sie ein Kind bekommen will oder nicht. Immerhin konnte man uns 1949 wenigstens die Todesstrafe entwinden.

Was den Abtreibungsparagraphen 218 angeht, so befindet sich die Bundesrepublik auf einem der längsten unter den Märschen. Gelassenheit gegenüber dem Hearing der vergangenen Woche fällt schwer. Die Gegner der Fristenlösung haben nicht überrascht, und jene, die sogar gegen die Indikationslösung auftraten, schon gar nicht. Doch bestürzend war, wie leicht es manchem fiel, die Wirklichkeit der Bundesrepublik zu ignorieren: eine kinderfeindliche Wirklichkeit, in der die Teilnahme buchstäblich in dem Augenblick erlischt, in dem aus werdendem Leben ein neues Leben geworden ist.

1931 schrieb Kurt Tucholsky bitterböse Zeilen unter der Überschrift »Die Leibesfrucht spricht": »Ich soll wachsen und gedeihen; ich soll neun Monate schlummern; ich soll es mir gut sein lassen -- sie wünschen mir alles Gute. Sie behüten mich. Sie wachen über mich. Gnade Gott, wenn meine Eltern mir etwas antun; dann sind sie alle da. Wer mich anrührt, wird bestraft; meine Mutter fliegt ins Gefängnis. mein Vater hintennach; der Arzt, der es getan hat, muß aufhören, Arzt zu sein; die Hebamme, die geholfen hat, wird eingesperrt -- ich bin eine kostbare Sache.«

Zuletzt aber heißt es bei Tucholsky, nachdem er von Hunger über Qual und Seelennot bis hin zur Krankheit alles aufzählte, was der Mensch ohne die Teilnahme zu ertragen hat, die ihm bis zu seiner Geburt zuteil wurde: »Neun Monate lang bringen sie sich um, wenn mich einer umbringen will. Sagt selbst: Ist das nicht eine merkwürdige Fürsorge --

In Bonn hat Professor Schulte, Ordinarius für Psychiatrie in Tübingen, er war lange in Bethel tätig, und einen unfrommen Mann wird man ihn nicht schelten dürfen, gesagt: »Vor lauter Respekt vor dem werdenden Leben darf nicht der Respekt vor dem geborenen vernachlässigt werden.« Und so sind wir immerhin so weit, daß 1972 ein Professor sagt, was 1931 Tucholsky vortrug. Der Kampf gegen den § 218 geht weiter. Er ist kein Kampf für zügellos auszuschöpfende Freiheit. Er gilt jener Rücksichtslosigkeit gegenüber dem gewordenen Leben, die sich hinter der aufgeregten Sorge um das werdende Leben verbirgt.

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