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Prozesse Staatliche Lynchjustiz

Im ersten Verfahren gegen einen Beteiligten an den stalinistischen Skandalprozessen von Waldheim ergeht jetzt das Urteil.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Herr Jürgens, hören Sie mich?« Die Frage des Vorsitzenden Richters Wolfgang Helbig, 45, klingt besorgt. Noch einmal dieselbe Frage, wieder keine Antwort. Helbig schaut ratlos, ein Schöffe schlägt die Hände vors Gesicht: War jetzt alles umsonst?

Endlich regt sich der Angeklagte Otto Jürgens, 86. Ja, er hört. Hat er auch das Plädoyer des Staatsanwalts mitbekommen? Wieder nur Schweigen.

Nach einer Verhandlungspause nimmt Helbig zu Protokoll, Jürgens habe dem Plädoyer folgen können. Ob das wahr ist, muß wohl offenbleiben; womöglich hatte der Angeklagte ein für ihn herbeigeschafftes Ersatzhörgerät - sein eigenes war defekt - zeitweise ausgeschaltet. Der Prozeß jedenfalls geht weiter, am Mittwoch dieser Woche soll das Urteil gesprochen werden.

Kuriose Szenen haben sich immer wieder zugetragen in einem Verfahren, das seit November am Leipziger Landgericht läuft und nach Einschätzung des Richters Helbig »historisch absolut einmalig« ist: Jürgens war 1950 als Richter und Staatsanwalt an den sogenannten Waldheimer Prozessen beteiligt - auch am Todesurteil gegen einen NS-Staatsanwalt (SPIEGEL 37/1992).

Weil damals in Waldheim gegen die elementarsten Regeln der Rechtsprechung verstoßen wurde, steht Jürgens heute selber vor Gericht.

Wegen Rechtsbeugung und schwerer Freiheitsberaubung fordert Ankläger Dietrich Bauer, 53, fünf Jahre Gefängnis für Jürgens. Den ursprünglich erhobenen Mordvorwurf wegen des Todesurteils gegen den NS-Staatsanwalt hat Bauer vergangene Woche fallengelassen - Jürgens hatte im Prozeß ausgesagt, er selbst habe als Beisitzer nur für lebenslange Haft votiert.

Schon vor dem Urteil stand fest: Die Prozesse von Waldheim, einem Städtchen im sächsischen Hügelland nördlich von Chemnitz, zählen zu den dunkelsten Kapiteln deutscher Justiz.

Nach einem Brief von DDR-Staatschef Wilhelm Pieck an Sowjetdiktator Josef Stalin waren Anfang 1950 die letzten Internierungslager der Besatzungsmacht geöffnet worden. Die meisten Gefangenen kamen frei; 194 Frauen und 3248 Männer jedoch wurden laut offizieller Erklärung »zur Untersuchung ihrer verbrecherischen Tätigkeit und Aburteilung durch das Gericht der DDR« dem Ministerium des Innern überstellt.

Die Vorgabe wurde nahezu ohne Ansehen der Personen erfüllt. Penibel überwacht von der Berliner SED-Zentrale, urteilten die Waldheim-Richter im Minutentakt: ohne Beweisaufnahme, unter Ausschluß der Öffentlichkeit und - zehn Schauprozesse ausgenommen - ohne Zeugen oder Verteidiger.

Als Basis für die Verurteilungen dienten sowjetische Protokolle. Die darin festgehaltenen Aussagen sind nach Zeugenberichten vielfach unter Schlägen erzwungen worden.

Obwohl die meisten der Waldheimer Häftlinge allenfalls NS-Mitläufer waren, fielen die Urteile äußerst hart aus: Mehr als die Hälfte lauteten auf Haftstrafen zwischen 15 und 25 Jahren, überwiegend wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.

Von 32 Todesurteilen wurden 24 in der Nacht zum 4. November 1950 vollstreckt - für den Leipziger Staatsanwalt Bauer ein Fall von »staatlich sanktionierter Lynchjustiz«.

Daß nun einer der damaligen DDR-Täter vor Gericht steht, erscheint Bauer als »Chance zu einem ersten Schlußstrich«. Der Angeklagte Jürgens dagegen sieht sich als Opfer in einem »politischen Prozeß«.

Meistens trägt er es mit Fassung. Zu den Sitzungstagen reist er pünktlich mit dem Zug aus Halle an; und wenn auch das Gehör schlecht und die Gesundheit angegriffen ist, kneifen will er nicht.

Bis zuletzt orientiert sich Jürgens an den Werten, die sein Leben bestimmt haben: Ordnung, Disziplin, Klassenbewußtsein. Der gelernte Tischler, der 1928 in die KPD eintrat und sich nach dem Krieg auf Befehl der Partei zum Volksrichter ausbilden ließ, verkörpert ein Stück deutscher Geschichte. In Waldheim war er dabei »aus Verantwortung für die Sache der Arbeiterklasse«.

Einen wie Jürgens konnte die Partei benutzen, wann immer er gerade gebraucht wurde. Daß er jahrelang als Spitzel der Staatssicherheit diente, hat er später »vergessen«.

Auch viele Zeugen können sich im Prozeß nur mühsam an die Ereignisse von Waldheim erinnern. Andere verweigern die Aussage, weil sie selbst angeklagt sind - Staatsanwalt Bauer will bis Oktober acht weitere Ermittlungsverfahren gegen Waldheim-Beteiligte abschließen; der jüngste ist 68 Jahre alt.

In drei Fällen, in denen bereits Anklage erhoben worden war, kam es nicht zum Prozeß - ein Beschuldigter starb, einer ist verhandlungsunfähig, einer sprang gemeinsam mit seiner Ehefrau aus einem Fenster im siebten Stock. Im Abschiedsbrief schrieb er: »Ich bin mir sicher, daß wir uns über kein Urteil schämen müssen.« Jürgens sieht das ähnlich: »Was damals Recht war, kann das heute Unrecht sein?« Für ihn war klar, »daß das Recht zur Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen dient«.

Das Leipziger Gericht muß nun klären: Kann einer, dessen Auffassung von Recht sich fundamental von rechtsstaatlichem Denken unterscheidet, für seine Urteile belangt werden?

Mit dieser Frage wird auch der größte Skandal der westdeutschen Justiz wieder aktuell: Daß kein einziger NS-Richter oder NS-Staatsanwalt rechtskräftig bestraft worden ist, verdankten die juristischen Handlanger Hitlers dem Richterprivileg. Danach kann nur der bewußte Rechtsverstoß verurteilt werden - je überzeugter einer die Perversion des Rechts betrieb, als desto geringer galt seine persönliche Schuld.

Auch im Fall Jürgens muß vorsätzliches Handeln nachgewiesen werden. Staatsanwalt Bauer macht deshalb geltend, trotz der massiven SED-Steuerung habe es in Waldheim einen »Restspielraum der richterlichen Entscheidungsfreiheit« gegeben - Richter, die sich widersetzten, haben später unbeschadet in der DDR Karriere gemacht.

Verteidigerin Dorothea Stöckchen wendet dagegen ein, ihr Mandant habe »nur eine mangelnde Ausbildung als Jurist« gehabt und sei lediglich Anweisungen gefolgt. Tatsächlich ist Jürgens beim Volksrichter-Lehrgang zweimal durchgefallen; daß er für Waldheim ausgewählt wurde, dürfte seiner rückhaltlosen Parteitreue zuzuschreiben sein.

Objektiv - soweit zumindest ist die Argumentation der Anklage schlüssig - war der Parteisoldat Jürgens frei, nein zu sagen; subjektiv wohl nicht.

Wie immer das Urteil ausfällt: Selbst wenn Jürgens schuldig gesprochen wird, ins Gefängnis muß der kranke, alte Mann wohl kaum. Y

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