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»Staatsanwalt Bistry ist tot ...«

Gerhard Mauz zur Verurteilung von Isolde Oechsle-Misfeld in Hamburg *
Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 27/1988

Oft wird ein Urteil ein »mildes Urteil« genannt, das man für »zu milde« hält. Als zu milde empfindet mancher das Urteil, das gegen Isolde Oechsle-Misfeld, 41, am Donnerstag vergangener Woche in Hamburg vom Vorsitzenden Richter Erich Petersen, 52, verkündet und mündlich begründet wurde: fünf Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe wegen fahrlässiger Tötung, Beihilfe zur Tötung auf Verlangen und Verstößen gegen das Waffen- und das Betäubungsmittelgesetz.

Richter Petersen sprach in der Urteilsbegründung nicht von »der Angeklagten«. Er redete Isolde Oechsle-Misfeld, wie wir das bislang eigentlich nur bei sehr viel jüngeren Richterinnen und Richtern erlebt haben, direkt an. Er sagte beispielsweise nicht: »Die Angeklagte war bei der polizeilichen Vernehmung dabei ...« Er sagte: »Sie, Frau Oechsle-Misfeld, waren bei der polizeilichen Vernehmung dabei ...«

Dieses direkte Ansprechen respektiert die Angeklagte beziehungsweise den Angeklagten als Person. Es macht dem Richter, der so vorträgt, den Versuch sehr viel schwerer, sich dem Menschen verständlich zu machen, der eben sein Urteil erfahren hat und der nun die Begründung dieses Urteils hört: Er hat sich persönlich zu stellen. Nicht zuletzt aber bekommt der Inhalt einer derart vorgetragenen Urteilsbegründung in seiner Unmittelbarkeit ein Gewicht für den, dem sie gilt ...

»Staatsanwalt Bistry ist tot ... Sie, Frau Oechsle-Misfeld, haben für seinen Tod eine Reihe von Ursachen gesetzt ... Ohne Ihr Zutun hätte der Mörder Werner Pinzner seine Tat nicht ausführen können«, sagte Richter Petersen.

Er sagte das ohne Pathos, nur eben direkt. Er sprach nicht von »der Angeklagten«, von einer Abstraktion. Er sprach die verurteilte Frau unmittelbar an - und mit der schrecklichen Eindringlichkeit dieser Sätze wird Isolde Oechsle-Misfeld nun leben müssen. Sie wird diese Sätze, den Augenblick dieser Sätze, nie vergessen können. Zu milde dieses Urteil?

Ihre Zulassung als Rechtsanwältin hat sie zurückgegeben. Zusätzlich zur Freiheitsstrafe sind ihr fünf Jahre Berufsverbot auferlegt worden. Wenn sie einmal eine neue Zulassung beantragt, wird ihr Antrag streng geprüft werden.

Sie ist mit Takt und Einfühlung begutachtet worden. Doch das Ergebnis dieser Begutachtung mußte in öffentlicher Sitzung vorgetragen werden mit allen persönlichsten Einzelheiten ihrer Biographie; mit Einzelheiten, die nicht nur sie, sondern auch ihren Mann und ihre Familie betrafen.

Und es mußte über diese Begutachtung, auch über ihren Inhalt und nicht nur über ihr Ergebnis, berichtet werden, damit versuchen kann, wer will, ein wenig zu verstehen, warum Isolde Oechsle-Misfeld so entsetzlich versagt hat. Dieses Urteil würde nicht nur als zu milde empfunden werden von vielen, hätte man nicht versucht, das Gutachten darzustellen. Doch wie lebt ein Mensch mit einem derart veröffentlichten Leben weiter?

Ein - hoffentlich - letztes Mal: Am 29. Juli 1986 verletzte Werner Pinzner, 39, er hatte fünf »Auftragsmorde« gestanden, im Hamburger Polizeipräsidium den Staatsanwalt Wolfgang Bistry, 40, tödlich, bevor er seine Frau Jutta Pinzner, 39, und sich selbst erschoß.

Isolde Oechsle-Misfeld, Werner Pinzners Anwältin, war bei dieser Greuelszene in einem hochgesicherten Vernehmungszimmer dabei. Sie geriet rasch in den Verdacht, die Tat ihres Mandanten ermöglicht und gefördert zu haben.

In Werner Pinzners Zelle fanden sich Aufzeichnungen, die sie schwer belasteten. Auch wurden belastende Briefe Jutta Pinzners an ihren Mann entdeckt, die nur Isolde Oechsle-Misfeld unter Mißbrauch ihres Anwaltsprivilegs auf unkontrollierten Zugang in die Untersuchungshaftanstalt gebracht haben konnte.

Isolde Oechsle-Misfeld, seit dem 8. August 1986 in U-Haft, wurde in mehreren Punkten angeklagt, vor allem aber, »gemeinschaftlich und tateinheitlich (mit Werner Pinzner) handelnd«, des Mordes an Staatsanwalt Bistry und des versuchten Mordes an zwei Polizeibeamten, denen es gelungen war, aus dem Vernehmungszimmer zu entkommen.

Die Anklage sah in der Rechtsanwältin ein Werkzeug des organisierten Verbrechens. Von Hintermännern auf St. Pauli, die weitere Geständnisse Werner Pinzners fürchteten, veranlaßt, habe sie ihren Mandanten mit Drogen versorgt und zum gemeinsamen Selbstmord mit seiner Frau angestiftet - ihn dazu in die Lage versetzt durch Beschaffung einer Waffe. Und sie habe ihn auch im Interesse ihrer Auftraggeber, die sich davon eine Behinderung der gegen sie laufenden Ermittlungen versprachen, dazu angehalten, vor dem gemeinsamen Selbstmord den Staatsanwalt Bistry und auch die anwesenden Beamten zu erschießen.

Erst kurz vor der Hauptverhandlung fand sich die Verteidigung Isolde Oechsle-Misfelds zusammen: der von Anfang an beteiligte Rechtsanwalt Michael Böhme und der im letzten Augenblick hinzugezogene Rechtsanwalt Winfried Günnemann, beide Hamburg. Sie standen vor einer fast aussichtslosen Aufgabe. Die Mandantin war seelisch und körperlich ein Wrack und selbstmordgefährdet. Sie hatte noch nicht einmal die Anklageschrift gelesen.

Milde, allzu milde, wirkt das Urteil, das Isolde Oechsle-Misfeld erhalten hat, vor allem im Kontrast zum Strafantrag der Anklage. Zwar gab Staatsanwalt Dr. Peter Stechmann, 39, die These, die Angeklagte

habe als Werkzeug von Hintermännern Werner Pinzner gesteuert, auf, eine These, die inzwischen die »Mafia-Theorie« genannt wurde. Doch er sah immer noch schwerwiegende Gründe dafür, elf Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe zu beantragen, vor allem wegen Beihilfe zum Mord und zum versuchten Mord.

Als Hauptwidersacher wählte Staatsanwalt Stechmann für die Ausführungen, die seinen Strafantrag begründen sollten, den 60 Jahre alten klinischen Psychologen Dr. Herbert Maisch, Hamburg. Der hatte als Sachverständiger in seinem Gutachten die Antwort auf die Frage, ob Isolde Oechsle-Misfeld im Zeitraum der Tat vermindert schuldfähig war, ausdrücklich dem Gericht überlassen.

Der hatte aber auch aus klinisch-psychologischer Sicht ein Bild des Lebens der Angeklagten gegeben, das es möglich scheinen ließ, daß Isolde Oechsle-Misfeld auf der Basis schwerer Störungen ihrer Entwicklung in Kindheit und Jugend bei der Wahrnehmung des Mandats Werner Pinzner in eine Verstrickung geraten ist, die sie schließlich nicht mehr bewältigen konnte.

Maischs Gutachten stützte ein Gutachten, das der Gütersloher Psychiater Professor Klaus Dörner, 54, in Hamburg erstattet hat. Dörner schilderte die Not der Angehörigen von psychisch kranken Menschen und die Auswirkung dieser Not auf die Angehörigen - und Isolde Oechsle-Misfelds Mann ist ein solcher Kranker.

Daß sie in Jutta Pinzner eine Frau sah, die sich in einer Situation befand, die ihrer Situation vergleichbar war, wurde von Maisch und Dörner zugänglich gemacht. Und damit wurde auch vorstellbar, daß Isolde Oechsle-Misfeld in einem kranken Bedürfnis zu helfen, das in ihrer beschädigten Biographie verwurzelt ist, sich mit Jutta Pinzner identifizierte und sich für sie engagierte - bis sie sich so weit preisgegeben hatte, daß es für sie aus der Gefährdung ihrer gesamten Existenz keinen Ausweg mehr gab; daß sie tun mußte, was man von ihr verlangte.

Die Staatsanwaltschaft mag ihre Angeklagten rabenschwarz malen. Es ist ihr unbenommen, die Beweisaufnahme wie eine Zitrone mit der Dampframme auszuquetschen und zu interpretieren. Und selbstverständlich verbietet ihr niemand den Ehrgeiz, den Gipfel der Strafzumessung zu erklimmen; droben in der Höhe soll es ja einen fabelhaften Rausch geben.

Auch der Verteidigung steht es frei, ihre Mandanten in einer strahlenden Unschuld vorzuführen, die alle Waschmittel grau werden und eilends dem nächsten Ausguß zustreben läßt. Staatsanwaltschaft und Verteidigung gehen dabei freilich das Risiko ein, an ein Gericht zu geraten, das seine Unabhängigkeit nicht betonen muß, weil es unabhängig ist; an ein Gericht, vor dem es zählt, was man zu sagen hat, und nicht, was man durchsetzen möchte.

Diese Hauptverhandlung ist vom Inhalt der Anklage her eine der schwierigsten gewesen, die in der Bundesrepublik zu bewältigen war. Damit soll die Leistung anderer Gericht nicht verkleinert werden. Anläßlich jeder Anklage gegen einen Menschen geht es um alles. Dem Gericht, das über Isolde Oechsle-Misfeld zu urteilen hatte, kann ich nur meinen Respekt bezeugen. Der Gerichtsberichterstatter ist nicht der Rezensent der Gerichte. Doch es gibt Urteile, die das Elend des Urteilens von Menschen über Menschen erträglicher machen.

Der Vorsitzende Richter Petersen, dessen Name hier für zwei weitere Berufsrichter und zwei Schöffen steht, trug leidenschaftslos eine Begründung vor, die ein Engagement für den Versuch war, dem, was Recht sein mag, ein wenig näher zu kommen.

Zur rechtlichen Einordnung und zur Strafzumessung: Das Gericht, das den Strafrahmen dem Waffengesetz zu entnehmen hatte, hat einen bedingten Vorsatz nicht angenommen. Isolde Oechsle-Misfeld habe die Gefahr gesehen, aber sie habe noch auf nicht mehr als den gemeinsamen Selbstmord der Eheleute vertrauen können. Dieses Vertrauen sei gerade noch mehr als eine »vage Hoffnung« gewesen: »Das, Frau Oechsle-Misfeld, ist ein schmaler Grat ...«

Die Verteidiger Böhme und Günnemann hatten besonnen, das Unbestreitbare nicht bestreitend und das Zweifelhafte sauber herausarbeitend, plädiert. Staatsanwalt Stechmann hat sich zugezogen, daß die Urteilsbegründung mitunter zu einer strengen Auseinandersetzung mit ihm wurde. Sein Umgang mit dem Sachverständigen Maisch ist vom Gericht deutlich beschieden worden. Maisch sei ein »denkbar ungeeigneter Vertreter seines Faches«, um alten Vorurteilen nachzuhängen. »Leicht anachronistische Angriffe« hätten Anklage und Nebenklage gegen die Psychologie gerichtet. Die Zeiten, in denen das Verhältnis der Juristen zur Psychologie von Berührungsängsten geprägt war, seien vorüber. Die Psychologie habe aufgeholt, was sie in den Jahren von 1933 bis 1945 versäumt hat.

»Lege artis« habe Maisch sein Gutachten erstattet. Er habe nach den Angaben der Angeklagten ihm gegenüber gegutachtet, aber klargestellt, daß sein Gutachten hinfällig sei, wenn diese Angaben nicht zuträfen. Er habe es dem Gericht überlassen festzustellen, was wahr ist, und keineswegs Beweiswürdigung vorgenommen.

In keiner Phase habe Maisch seine Objektivität eingebüßt, auch nicht dadurch, daß er Isolde Oechsle-Misfeld nicht nur als Sachverständiger, sondern auch als Therapeut begegnete: Jede Begutachtungssituation enthalte ein Stück Therapie. Für diese Anmerkung ist dem Gericht ganz besonders zu danken. Nur als Sachverständiger darf kein Psychiater oder Psychologe einem Beschuldigten oder Angeklagten gegenübertreten. Es ist möglich, objektiv zu sein, ohne den therapeutischen Auftrag preiszugeben.

Isolde Oechsle-Misfeld ist in dieser Begründung nichts erspart geblieben, und noch einmal fielen Worte, als es um das Ausmaß ihrer Pflichtwidrigkeit ging, mit denen sie wird weiterleben müssen: »Bei der Zulassung als Rechtsanwältin hatten Sie geschworen ...«

Der Tod des Staatsanwalts Bistry, der Schmerz seiner Witwe und seines Sohnes waren in jedem Augenblick dieser Begründung gegenwärtig. Und so hat der Richter Petersen zu Isolde Oechsle-Misfeld sagen können, »daß Ihnen dieses Urteil trotz allem noch eine Perspektive läßt«. Das Gericht hat zu erkennen gegeben, daß es einen Antrag der Verteidigung auf Haftverschonung, der eine klinische Behandlung Isolde Oechsle-Misfelds unter verabredeten Bedingungen ermöglicht, erwartet.

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