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GEWERKSCHAFTEN / BILDUNGSURLAUB Staatspolitisch wertvoll

aus DER SPIEGEL 16/1968

Westdeutschlands Arbeitnehmern stehen pro Jahr durchschnittlich 21 bezahlte Urlaubstage zu -- gelegentlich um einige Tage Grippe-Ferien verlängert. Nach einem Initiativ-Gesetzentwurf der Bonner SPD-Fraktion sollen künftig noch zehn Tage sogenannter Bildungsurlaub hinzukommen.

Die Neuerung stammt aus dem Ideenvorrat des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der zusätzliche Lernfreizeit seit langem als Wunderwaffe gegen den Bildungsnotstand in der Bundesrepublik empfiehlt. Zwei Gewerkschaftler und Sozialdemokraten, Kurt Gscheidle, 43 (Deutsche Postgewerkschaft), und Hans Matthöfer, 42 (IG Metall), brachten den Vorschlag als Fraktionsantrag in den Bundestag ein.

Die Genossen konnten sich dabei auf die Vorarbeit bayrischer IG-Metaller stützen. Sie hatten im Januar nach langen Verhandlungen in Bayerns Metallindustrie einen vertraglichen Anspruch auf Bildungsurlaub erkämpfen können.

»Zu Dutzenden«, so hatte der Bezirksleiter der IG Metall in München Erwin Essl bei den Verhandlungen geklagt, sei bayrischen Arbeitnehmern noch im vergangenen Jahr die Bitte um Bildungsurlaub abgeschlagen worden. Die Arbeiter hätten deshalb entweder »in ihrem Erholungsurlaub lernen« oder auf Fortbildung »ganz verzichten« müssen.

Nach 14 Stunden gestand schließlich Arbeitgeber-Unterhändler Dr. Carl Kühne der IG Metall in Bayern zu, was die Kölner Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) als »Bildungsförderung mit der Gießkanne« nach wie vor strikt ablehnt:

Essls 380 000 bayrische Metallarbeiter -- darunter Belegschaften von Auto-Union und BMW, AEG und Siemens, Grundig und Linde -- haben seit dem 1. Februar neben dem normalen Urlaub einen Tarifanspruch auf jährlich zwei Wochen unbezahlte »Freistellung für Aus- und Weiterbildung«.

Revolverdreher und Werkzeugschlosser an Main und Donau, so jammerte der »Industriekurier« sofort, hätten damit »einen ähnlich entscheidenden Durchbruch wie vor einigen Jahren beim Urlaubsgeld« erzielt.

In der Tat: Der Deutsche Gewerkschaftsbund ließ, noch ehe der bayrische Manteltarif endgültig angenommen war, verkünden, daß er den Bildungsurlaub für alle 22 Millionen westdeutschen Arbeiter und Angestellten ebenso durchpauken werde »wie einst den Acht-Stunden-Tag«.

Bis zu dem Münchner Abkommen war der Bildungsteil des DGB-Aktionsprogramms erst in bescheidenen Ansätzen verwirklicht worden. Nur 57 von 900 untersuchten Tarifverträgen, so berichtete Bonns Arbeitsminister Hans Katzer im vergangenen Dezember dem Bundestag, billigten allen Arbeitnehmern Freizeit für die Bildung zu. Beispiele: die Polstermöbel-Industrie und das Modellbauer-Handwerk.

Nach dem Text des Münchner Manteltarifs können Metall-Arbeitnehmer sich jetzt freinehmen, »ohne erst den Chef um gut Wetter bitten zu müssen« (Essl). Sie brauchen lediglich rechtzeitig Bescheid zu geben und später eine Bescheinigung darüber vorzuweisen, daß sie tatsächlich an einem beruflichen, politischen oder gewerkschaftlichen Fortbildungskurs teilgenommen haben.

Gscheidle und Matthöfer in Bonn werteten ihren Entwurf dadurch für das Parlament auf, daß die Volksbildungsferien staatspolitisch wertvoll genutzt sein sollen. Die Arbeitnehmer müssen die zehn Tage an »förderungswürdigen staatsbürgerlichen Bildungsveranstaltungen«

teilnehmen; Lehrgänge für Punktschweißen oder Stenographie fallen mithin nicht darunter.

Anders als in dem bayrischen Tarifvertrag vereinbart, soll der politische Bildungsurlaub jedoch voll entlohnt werden, einschließlich eventueller Verdienst-Erhöhungen, aber ausschließlich eventueller Kürzungen. Da die Vergünstigung auch für Beamte und Soldaten gelten soll, würde der Mehrurlaub jährlich sieben Milliarden Mark kosten.

Westdeutschlands Arbeitgeber meldeten deshalb sofort Protest an. So wünschenswert staatspolitische Bildung sei, hieß es bei der Arbeitgeber-Vereinigung in Köln, so wenig werde sich dadurch die wirtschaftliche Produktivität steigern.

BDA-Geschäftsführer Hermann Franke wollte von den Sozialdemokraten wissen, auf welchen Instituten und von welchen Lehrern die Bildung wohl verabreicht werden würde. Die Initiatoren nennen dafür in ihrem Gesetzentwurf; Volkshochschulen und Bildungsinstitute der Parteien, Kirchen und Tarifpartner.

Ob freilich die Wohlstandsdeutschen selbst so nach der staatspolitischen Bildung dürsten, bleibt fraglich. Auf eine Umfrage im Jahr 1966 antworteten noch 70 Prozent der Bundesbürger, sie seien nicht daran interessiert, sich weiterzubilden.

Der Mainzer Soziologie-Professor Dr. Helmut Schoeck meint sogar, tariflich zugesicherter und bezahlter Bildungsurlaub werde den geistig Faulen ein gefährliches Alibi verschaffen. Schoeck: »Der Mann sagt sich: »Was soll ich heute den Bierabend oder die Fernsehgaudi meiner Bildung opfern, ich krieg' ja doch den Bildungsurlaub im nächsten Jahr.'«

Matthöfer und Gscheidle jedoch haben sich bereits der »Zustimmung des Arbeitnehmerflügels der Unionsparteien« versichert. Sie wollen das Gesetz bis Jahresende durchbringen. Hans Matthöfer: »Denn dann planen die Leute ihren Urlaub für 1969.«

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