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KATASTROPHEN / STURMFLUT Stadt unter

aus DER SPIEGEL 9/1962

Die Flut war salzig, eklig, braun. Sie ertränkte einige hundert Quadratkilometer Deutschland und über 300 Deutsche. Es war, wie Moses im Alten Testament beschrieb: »Da ging alles Fleisch unter, das auf Erden kriecht ... Also ward vertilgt alles, was auf dem Erdboden war, vom Menschen an bis auf das Vieh und auf das Gewürm.«

Am 16. Februar 1962 ertrank im Nachthochwasser der Nordsee der Glaube an die Sekurität, die sich als wasserlöslich erwies. Nicht weil die Deiche an 63 Stellen brachen und etliche, die nicht brachen, glatt überspült wurden, sondern weil ein Spuk über Land kroch, den man zwar noch in Hinterindien, nicht aber an der Elbe vermutet hatte: Eine moderne Weltstadt, 750 Quadratkilometer groß und musterhaft organisiert, eine Festung aus Menschen, Beton und Energie zeigte sich gegen ein 100 Kilometer entferntes Randmeer des Ozeans so anfällig wie ein Pfahldorf der Primitiven.

Drei Tage lang war das Pfahldorf der Zivilisierten mit seinen fast zwei Millionen Insassen paralysiert. Ohne Strom, Gas und Telephon wurde Hamburg dunkel und schlapp.

Die Sintflut, seit Anbeginn Schreckensvision der Menschen, schien angebrochen.

Während die sturmerfahrenen Küsten -Deutschen aus ihren Kögen und Marschniederungenprogrammgemäß auf höheres Land kletterten, lief ein Fünftel des hamburgischen Staatsgebiets voll Wasser, schossen 40 Millionen Kubikmeter Flut - eine Menge, die 730 000 große Kesselwaggons füllen würde - in die von zwei Elbarmen umschlossene Hamburger Teilstadt Wilhelmsburg.

Nahezu 300 Hamburger kamen um, zumeist im Bett. Mitten in der Großstadt wurden 60 000 Menschen vom Wasser zerniert und blieben tagelang abgeschnitten, wehrlos einem Naturereignis ausgeliefert, dessen Phasen - eine einzige ausgenommen - zutreffend vorausgesehen und zutreffend berechnet worden waren.

Trotz eines mit deutscher Gründlichkeit ausgeklügelten Warnsystems und eines daran gekoppelten Katastrophenplans, der erst vom Dezember 1961 datiert, versank ein Teil Hamburgs wie

einst, die stolze Stadt Vineta in den Fluten.

Das Warnsystem schreibt die Alarmstufen und die jeweils auszulösenden Maßnahmen für das Gebiet der Hansestadt Hamburg in allen Einzelheiten vor. Minutiös Verzeichnet das hektographierte Katastrophen-Papier die Telephonnummern der Hochwasserspezialisten, die Adressen der Einsatzführer und deren Marschroute.

Unmißverständlich ist festgelegt, daß der technische Inspektor Block schon bei der Alarmstufe II, die für einen erwarteten Wasserstand von 2,50 bis drei Meter über der Normalflut ausgelöst wird, den technischen Angestellten Walther in Maschen vor Hamburg treffen wird und beide von dort zur Einsatzstelle in der Baubehörde, Stadthausbrücke 8, zu fahren haben.

Nicht minder eindeutig ist statuiert, daß der »Schirrmeister Off, tags 34 10 08, Apparat 1300, Behörden-Nummer 40, nachts 53 20 59« zwei Personenkraftwagen für die Einsatzleitung bereitzustellen hat. Schließlich weist der Katastrophenplan die Stellungen der bei Hochwasser abzufeuernden Böller und die Lagerplätze der für Deichbrüche gestapelten Sandsäcke nach, letztere in Stückzahlen aufgeschlüsselt.

Die Wohnplätze der bei Deichbrüchen gefährdeten Stadtmenschen aber waren im Gegensatz zu den Lagerplätzen der Sandsäcke nicht verzeichnet, ihre Alarmierung war nicht vorgesehen. Die Folge: Niemand fühlte sich zuständig, als die Räder des behördlichen Alarmwerks am 16. Februar planmäßig ineinandergriffen.

Die Verlade. Anlagen für den Sand des Kieswerks Hupfeld waren vorschriftsmäßig besetzt. Verlade-Anlagen für Menschen waren nicht eingeplant. Daß Zivilisten, Insassen von Lauben und Parterrewohnungen, von einer Flutkatastrophe betroffen werden könnten, hatten die hansestädtischen Katastrophen-Planer offenkundig nicht bedacht, da eine hundertjährige Erfahrung dagegen zu sprechen schien.

Tatsächlich war das Wasser in Hamburg niemals zuvor auch nur annähernd so hoch gestiegen wie am Sonnabend vorletzter Woche. Im Jahre 1825, bei der höchsten bislang gemessenen Sturmflut, erreichte das Wasser eine Höhe von 3,57 Meter über dem mittleren Hochwasserstand (MH), der seinerseits 1,67 Meter über Normal-Null (NN) liegt. 1855 zeigte der Hamburger Pegel 3,44 Meter über MH an. Seitdem wurde in Hamburg kein Hochwasser von mehr als 2,97 MH (im Jahre 1936) gemessen.

Am 17. Februar 1962 aber stieg das Wasser bis zu der Rekordmarke von 4,03 Meter über MH, also 5,70 Meter über NN.

Die Katastrophen 1825 und 1855 nehmen sich im Vergleich zu dem Unglück, das 1962 über Hamburg hereinbrach, denn auch harmlos aus. 1855 ertranken zwei Kinder, deren Eltern nicht daheim waren, und ein Seemann, der voreilig an Bord seines Schiffes zurückkehren wollte. Die Deiche von Wilhelmsburg waren zwar an neun Stellen gebrochen, doch der Schaden blieb gering: Die Flut zerstörte zwei Häuser.

Seither wurden nicht nur die Wilhelmsburger Deiche erneuert und auf eine Höhe von 5,60 bis 5,80 über NN gebracht, sondern auch die Methoden zur Vorhersage der Sturmflut ständig verbessert.

Die Flutexperten des in Hamburg ansässigen Deutschen Hydrographischen Instituts sind heute in der Lage, jede Abweichung einer kommenden Flut bis zu acht Stunden im voraus zu ermitteln, wenn auch die kleineren Abweichungen präziser als die größeren.

Die Flutvorhersager stützen sich bei ihrer Arbeit auf

- die Vorausberechnung der Gezeiten nach den Positionen von Mond und Sonne,

- die Beobachtung der Küstenpegel, an denen der Wasserstand abgelesen wird, und

- die Meldungen der Meteorologen des Hamburger Seewetteramts.

Aus den Angaben des im Hamburger Seewetteramt verantwortlichen Sturmwarners Dr. Soltau wird deutlich, daß die Meteorologen am Freitag, dem 16. Februar, auf dem Posten waren. Soltau: »Die Frühberatung am 16. Februar ließ den Ernst der Lage erkennen.«

Die Wettermänner hatten über der Nordsee ein besonders starkes Sturmtief ausmachen können, das sich fatalerweise aus nordwestlicher Richtung direkt auf die Deutsche Bucht zubewegte. Auf seinem langen Weg über die Nordsee trieb es große Wassermassen gegen die deutsche Küste und preßte sie in die Elbmündung.

-Eine ähnlich gefährliche Wetterlage war nach Soltau zuletzt 1953 und davor »viele Jahre überhaupt nicht« beobachtet worden.

Aufgrund dieser Tatsachen verfaßte das Seewetteramt eine Warnung vor Sturm (nicht vor Flut, die zur Zuständigkeit der Hydrographen gehört), die eine »Gefahr schwerer Orkanböen, Stärke 10-12, aus Nordwest, auch nachts noch anhaltend« vorhersagte.

Diese Meldung wurde am Freitag nachmittag um 17.25 Uhr nach einem festgelegten Verteiler an die Abonnenten des Sturmwarndienstes ausgegeben: an die Feuerwehr, das Technische Hilfswerk, die Wasserschutzpolizei, die Hamburgischen Electricitätswerke (HEW) und das Hydrographische Institut.

Die berufsmäßigen Wassermesser waren zu diesem Zeitpunkt gleichfalls schon unruhig geworden. Sie hatten, für den Laien kaum noch durchschaubar, seit dein Vormittag mit zunehmender Geschwindigkeit Flutwarnungen produziert.

Nach Angaben des Leiters der Abteilung V (Gezeiten, Astronomie, Zeitdienst), Regierungsdirektor Walter Horn, sagte das Institut für die Nachmittagstide zunächst einen Hochwasserstand von zwei, dann von 2,5 bis drei Metern voraus.

Gezeitenberechner Horn: »Diese Warnungen waren ein drastisches Aufscheuchen.« Denn: In diesem Jahrhundert hatte es in Hamburg noch keine Drei-Meter-Flut gegeben.

Tatsächlich wurden die Behörden der Hansestadt Hamburg aufgescheucht. Die Baubehörde, Hauptabteilung Wasserwirtschaft, löste gegen zehn Uhr die im »Alarmplan zur Sicherung der Wehrdeiche bei Sturmfluten« verzeichnete Alarmstufe II aus und richtete die vorgeschriebene Einsatzstelle ein.

Alarmiert wurden die Deichverbände, die Tiefbauabteilungen der Bezirksämter, Bergedorf, Harburg und Hamburg-Mitte sowie der Entstördienst der Wasserwerke; das Kommando der Schutzpolizei wurde - wie der »Alarmplan« gleichfalls fordert - »unterrichtet«. Um 11.33 Uhr erhielt die Feuerwehr das Stichwort »Ausnahmezustand«.

Außerdem hatte das Hydrographische Institut zwischen die Warnungen für die Nachmittagstide schon Vorwarnungen für die Nachtflut placiert, deren höchster Stand in der Nacht zum Sonnabend um 3.46 Uhr eintreten sollte:

Um 8.55 Uhr wurde für Hamburg Sturmflut angekündigt. Voraussichtlicher Wasserstand: zwei Meter über dem mittleren Hochwasser.

Regierungsdirektor Horn: »Das war nur zum Angewöhnen.«

Gegen 11.00 Uhr korrigierte das Institut die Warnung: Nachthochwasser voraussichtlich 2,50 Meter.

Diese Meldung wurde der Post übermittelt, die sie über den sogenannten Verteiler weiter verbreitete.

An den Verteiler sind ebenso wie an den des Seewetteramts beispielsweise

Wasserschutzpolizei, Feuerwehr, Baubehörde, Strom und Hafenbau, Hafenverwaltung, Versorgungsbetriebe, das Rathaus sowie verschiedene private Unternehmen - insgesamt 50 Hamburger Stellen angeschlossen, die routinemäßig Sturmflutwarnungen ab 1,50 Meter über mittlerem Hochwasser erhalten.

Die Voraussage für die Nachmittagstide erwies sich als ziemlich genau: Um 16.15 Uhr erreichte die Sturmflut mit 2,4 Metern ihren Höhepunkt. Schon um 14 Uhr hatte die Wasser- und Schifffahrtsdirektion daher planmäßig die Wehrverschlüsse der oberhalb von Hamburg gelegenen Elbstaustufe Geesthacht öffnen lassen, um das in die Elbmündung gedrückte Wasser nach Südosten weiterzulenken. Der anhaltende Sturm, der gleichfalls in Richtung Südost blies, ließ dennoch den Pegel in Hamburg bei der nachfolgenden Ebbe nur geringfügig sinken: Während der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser in Hamburg durchschnittlich 2,37 Meter beträgt, fiel das Wasser am Freitag nur um 1,2 Meter.

Die Hamburger sahen keinen Anlaß zur Sorge. Wie üblich liefen von der Flut bedrohte Keller voll Wasser, und einige extrem tiefliegende Straßen am Hafen wurden überschwemmt. Unterdes bliesen die Sturmböen immer stärker, und der Orkan kam mit Hagel, Blitz und Finsternis.

In Erinnerung an den gerade überstandenen Sturm vom vorausgegangenen Montag - höchster Wasserstand: 2,6 Meter'über MH - achtete das Hamburg-Volk nicht auf das Wasser, sondern auf herumfliegende Dachziegel und abgerissene Äste.

Wie die meisten Sturmflutwarnungen blieb den Einwohnern der 1,8-Millionen -Stadt auch jene Orkanwarnung des Seewetteramts verborgen, die ab 17.25 Uhr laufend verbreitet worden war: Die »Gefahr schwerer Orkanböen« wurde, abgesehen von den telephonisch benachrichtigten Abonnenten, nur über dienstinternen Polizeifunk gesendet und daher von Zivil-Menschen kaum beachtet.

Indes, ganz ohne Hinweis auf mögliche Gefahren blieben die Hamburger nicht - zumindest nicht jene, die in hochwassergefährdeten Gebieten wohnen. In einer Polizeiverordnung vom 10. August 1955 ist präzis festgelegt, wann und wie der ultramoderne »Sturmflutwarndienst im Hamburger Hafen« funktioniert, nämlich:

»Sobald in Cuxhaven ein Wasserstand von 1,30 Meter über dem mittleren Hochwasser eintritt, werden am Stintfang, am Stadtdeich und in Finkenwerder 2 schnell aufeinanderfolgende Warnschüsse abgegeben. In der Regel ist nach der Schußabgabe drei Stunden später in Hamburg ein Wasserstand von 1,40 Meter zu erwarten.

»Das Signal wird wiederholt, sobald Cuxhaven einen Wasserstand von 2,00 Meter höher als mittleres Hochwasser meldet.

»Sofern in Cuxhaven der Wasserstand 2,50 Meter höher als mittleres Hochwasser gestiegen ist, wird dies durch je 1 Warnschuß von den drei genannten Stellen angezeigt.«

Folglich wurden schon am Freitagvormittag Böller von den drei Bastionen im Hafengebiet abgefeuert, ein Getöse, das je nach Windrichtung auch in ferngelegenen Stadtteilen vernommen werden kann, nach hundertjähriger Erfahrung jedoch nichts weiter bedeutet als ein paar überschwemmte Keller und Straßen.

Zeigten sich die Einwohner der größten Stadt der Bundesrepublik von dem als hanseatische Tradition gepflegten Geböller kaum und von den Orkanböen nur mäßig beeindruckt, so kurbelten die Behörden die einmal angelaufene Alarmmaschine - unter Ausschluß der Öffentlichkeit - weiter an.

Um 16 Uhr beschloß die Einsatzstelle in der Baubehörde, die Alarmstufe II aufrechtzuerhalten.

Gegen 19 Uhr hat Sturmflut-Experte Walter Horn dann nach eigener Aussage »ruckartig reagiert«, als sich bei einer Lagebesprechung herausstellte, daß die Nachtflut wahrscheinlich eine äußerst bedrohliche Höhe erreichen würde. Wieder alarmierte das Hydrographische Institut die Nordseeküste und das Niederelbegebiet; diesmal warnte es vor einer Fluthöhe von drei Metern.

Horn glaubte noch ein übriges tun zu müssen: Um 20.25 Uhr rief er beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) an und bat, in die laufende Sendung eine Warnung vor einer »sehr schweren Sturmflut« einzublenden.

Der NDR unterbrach um 20.33 zum erstenmal das Mittelwellenprogramm und verlas in einer Pause des Symphoniekonzerts folgenden Text: »Für die gesamte deutsche Nordseeküste besteht die Gefahr einer sehr schweren Sturmflut. Das Nachthochwasser wird etwa drei Meter höher als das mittlere Hochwasser eintreten. Das folgende Mittagshochwasser wird nicht mehr so hoch eintreten.«

Die im täglichen Hydrographen-Stil abgefaßte Meldung enthielt mithin kein Wort über Hamburg und am Schluß gar noch die für Laien beruhigende Voraussage, das folgende Hochwasser werde schon wieder niedriger sein. Was die Hamburger der Nachricht entnahmen, war: An der Küsten werden sie nasse Füße kriegen.

Horn selber vermutete, diese Meldung werde kein nennenswertes Gehör finden, da der Funk gerade Haydns »Schöpfung« abspielte, die nur Liebhaber ernster Musik an das Gerät locken kann. Überdies machte das Fernsehen mit der »Familie Hesselbach« dem Funk Konkurrenz.

Folglich wandte Wasser-Horn sich - gegen 21 Uhr - per Telephon an

das Fernsehen. Obwohl Horn von einer Katastrophe sprach, brauchte er 20 Minuten, bis er jemand fand, der seine Bitten um Durchgabe der Warnung annahm.

Horn später in einer eidesstattlichen Erklärung: »Ich bat Herrn Giese (den Redakteur der Tagesschau), die Meldung in das laufende Programm einzublenden. Herr Giese erklärte mir, daß er die zur Zeit laufende Sendung nicht unterbrechen könne. Er war sofort bereit, die Meldung anzunehmen und sie im Anschluß an diese Sendung um 22.15 Uhr zu bringen. Ich fand mich damit ab.«

Um 22.15 Uhr wurde dann in der Tagesschau eine Alarmmeldung durchgegeben - mit einer inzwischen auf 3.50 Meter korrigierten Wasserstandsvorhersage.

Aber auch die Verbreitung über das Fernsehen war kaum dazu angetan, die Hamburger auf die heranrollende schwere Sturmflut rechtzeitig und eindringlich aufmerksam zu machen, war doch die gleiche Routine-Meldung - abgesehen von der korrigierten Wasserhöhe - gesendet worden, die schon der Funk verbreitet hatte.

Horn erkannte denn auch später: »Unter der Bevölkerung verbindet nur derjenige mit den Zahlen eine Vorstellung, der unmittelbar am Deich wohnt. In Wilhelmsburg weiß niemand, daß er in einem Loch sitzt, das vollaufen kann.«

Weit weniger phlegmatisch als die Fernseh-Redakteure reagierte das städtische Tiefbauamt: Um 21 Uhr löste die aufgrund des Alarmplans gebildete Einsatzstelle Alarmstufe III aus. Mithin

rollte schon knapp fünf Stunden vor Beginn der Katastrophe der Alarmplan für die höchste Gefahrenstufe ab, die bei Wasserständen von mehr als drei Metern vorgesehen ist. Nach dem Alarmplan wird

- dem Leiter des Tiefbauamts, Erstem

Baudirektor Professor Sill, »ein Überblick über die Lage« gegeben,

- von der Polizei ein Oberbeamter als

Verbindungsmann angefordert,

- das Pionier-Bataillon 3 in Harburg »von der Auslösung der Alarmstufe III« unterrichtet und »um Bereithaltung von Einsatzkräften« gebeten,

- bereitgestelltes Material (10 000 Sandsäcke, Tragen und Karbidleuchten) auf dem Bauhof Harburg auf Lastwagen verladen,

- je ein Sandlieferant angewiesen, zur Verfügung der Bezirksämter Harburg - zu dem auch Wilhelmsburg gehört - und Bergedorf Verladeanlagen und Lastwagen bereitzuhalten.

Ferner werden das Technische Hilfswerk und die Freiwilligen Feuerwehren der zentralen Einsatzstelle unterstellt.

Am 16. Februar befanden sich seit 21 Uhr Deichverbände, Polizei, Feuerwehr, Rotes Kreuz und die Einsatzstelle samt den untergeordneten Dienststellen im Alarmzustand: Der technische Apparat der Hansestadt stand Schaufel und Schlauch bei Fuß, dem blanken Hans, der die schmutzige Elbe hinaufrollte, Trutz zu bieten.

Ebenso planmäßig, wie diese vielgliedrige Wasser-Wacht antrat, unterblieb eine besondere Warnung der Hamburger Zivilisten von Amts wegen. Die Böller waren abgeschossen die eingeplanten Warnmöglichkeiten damit erschöpft.

Eine Evakuierung war nirgendwo vorgesehen. Niemand ergriff folglich entsprechende Maßnahmen. Zudem war die Hochflut - um 21 Uhr - laut Voraussage noch sechsdreiviertel Stunden entfernt.

Auch die Tatsache, daß nach der Nachmittagsflut mit immerhin 2,4 Metern über mittlerem Hochwasser eine Sturmflut, begleitet von Orkan, mit einem Wasserstand angekündigt war, der seit 1855 nicht mehr gemessen wurde, ließ nach Vollzug des Alarmplans bei keiner Dienststelle den Gedanken an eine mögliche Katastrophe aufkommen.

Einsatzstelle und Hilfsmannschaften waren angetreten, den Deich zu verteidigen. Und sie sahen nur den Deich.

Viel weniger noch ahnte die Millionenstadt etwas. Waren die Bewohner der bäuerlichen eingedeichten Gebiete noch von Natur aus wachsamer und überdies durch das Aufgebot der Deichverbände und Freiwilligen Feuerwehren aufmerksam geworden, so machten sich die Wilhelmsburger zwischen den beiden Stadtblöcken Hamburg und Harburg nicht die geringste Sorge.

Um 21.28 Uhr fiel der Pegel Cuxhaven aus. Das Gerät, das den Wasserstand mechanisch auf ein laufendes Papierband schreibt, war von der Flut auf seine höchste Marke bei rund 3,2 Meter gedrückt worden. Fortan mußte in Cuxhaven der Wasserstand mit Behelfsmitteln gemessen werden.

Nunmehr selber aufgescheucht, gab Flutwarner Horn um 21.35 Uhr eine neue Meldung an den NDR: erwartete Fluthöhe 3,50 Meter. Was dem Hydro -Beamten jedoch aufgrund seiner historischen Sturmflutkenntnisse als äußerst bedrohlich erschien, kam der Millionenstadt noch immer nicht zu Bewußtsein. Sie rüstete sich zum Schlafengehen.

Unterdes heulten in Brunsbüttelkoog, rund 65 Kilometer Luftlinie elbabwärts

von Hamburg, um 22.50 Uhr die Luftschutzsirenen Katastrophenalarm, und die Feuerwehr begann, ihre Sandsäcke zu füllen. In der Hansestadt wußte man nichts davon.

Kurz darauf exerzierte das Stadtamt Cuxhaven vor, wie einfach eine wirksame Warnung an die Bewohner bedrohter Gebiete gegeben werden kann

- sofern die zuständigen Behörden die

Gefahr erkennen. Um 22.53 Uhr und um 23.13 Uhr blendeten Mittelwelle und UKW des NDR folgende Meldung des Stadtamtes ein: »Für Cuxhaven besteht Deichbruchgefahr. Die Bevölkerung wird dringend gebeten, die höheren Stockwerke aufzusuchen. Sagen Sie bitte Ihren Nachbarn Bescheid.«

In Hamburg wurde ein derartiger Klartext nicht ersonnen, und jeder Hamburger, der eine auf Cuxhaven spezifizierte Warnung abhörte, mußte sich doppelt in Sicherheit wiegen.

In der Einsatzstelle des Tiefbauamtes hatte der Ausfall der Cuxhavener Wasserstandsmeldungen allerdings gleichfalls Bedenken erregt. Verschiedene Ferngespräche - das Telephonnetz war durch den Sturm teilweise gestört - ergaben, daß in Büsum an der schleswigholsteinischen Nordseeküste während des um 22.45 Uhr eingetretenen Niedrigwassers extrem hohe Wasserstände gemessen worden waren.

Tiefbauamtsleiter Sill: »Nach dieser Meldung mußten wir fürchten, daß eine ähnlich hohe Sturmflut wie die von 1825 mit 5,25 Metern über Normalnull (3,58 Meter über mittlerem Hochwasser) eintreten könnte.«

Reaktion der Einsatzstelle: Um 23 Uhr wurden die Vorstände aller Deichverbände darauf hingewiesen, daß die Deiche »sehr gefährdet« seien und »Deichbrüche befürchtet« werden müßten.

Der Leiter der Einsatzstelle, Oberbaurat Bruno Tetsch, erläutert diese Nachricht: »Es handelt sich um die bloße Vermutung, daß Deichbrüche möglich sind. Meldungen von tatsächlich gefährdeten Stellen lagen zu der Zeit noch nicht vor.«

Der Ernst der Lage war - wenn auch noch nicht voll - endlich erkannt worden: Die Deiche waren in Gefahr. Der Hamburger Pegel kletterte auf 1,80 Meter, die angekündigte Hochflut aber kam erst in vierdreiviertel Stunden.

Eine Alarmnachricht wie die des Cuxhavener Stadtamtes wurde gleichwohl nicht veranlaßt. In Wilhelmsburg, in den Holzbuden, Behelfsheimen und mehrstöckigen Neubauten war man schlafen gegangen.

Oberbaurat Tetsch hatte seine Gründe, den Schlaf der von Deichen eingeschlossenen Wilhelmsburger nicht zu stören: »Es konnten nicht mit tödlicher Sicherheit Deichbrüche vorausgesagt werden.«

Folglich wurde der in die Einsatzstelle abkommandierte Polizei-Oberbeamte nicht von der Deichbruchgefahr verständigt.

Es war 0.10 Uhr, als im Hydrographischen Institut eine Nachricht aug Cuxhaven ankam. Dort war um 22.30 Uhr mit provisorischen Mitteln eine Fluthöhe von 3,6 Metern gemessen worden. Der Hamburger Pegel stand um 24 Uhr auf 2,65 Meter.

Das Institut warnte daraufhin von neuem: Fluthöhe voraussichtlich 3,5 bis

vier Meter. Vier Meter über Normalhochwasser von 1,67 Meter bedeutete 5,67 Gesamthöhe: Die Deiche der Hansestadt mußten zwangsläufig überspült werden.

Indes, den Katastrophen-Männern in der Einsatzstelle des Tiefbauamtes kam diese Meldung infolge bislang ungeklärter Umstände nicht zu Gehör. Oberbaurat Tetsch heute: »An eine Meldung über vier Meter kann ich mich nicht erinnern.«

Zur gleichen Zeit wurde an anderer Stelle schon Vorsorge für eine eventuelle Katastrophe getroffen. Die Hamburgischen Electricitäts-Werke forderten über das Verbundnetz zusätzlich Stromlieferungen westdeutscher Werke an, weil »die voraussehbare Gefahr« bestehe, daß die am Wasser gelegenen Hamburger Werke überflutet würden.

20 Minuten später, um 0.30 Uhr, wurde der Hamburger Bausenator Büch von der Einsatzstelle benachrichtigt, daß nunmehr der Notstand für die Deichgebiete erklärt werden müsse.

Auch der Notstand war ausgegeben worden, ohne daß die Einsatzstelle von der Vier-Meter-Flutwarnung gehört hatte. Einsatzstellenchef Tetsch: »Ich habe immer eine Gefahrenstelle höher ausgegeben, auch auf die Gefahr hin, daß einer sagt, der hat die Hosen voll.« Und: »Kein Mensch kann sich bei uns erinnern, die Ziffer Vier gehört zu haben.«

Bausenator Büch blieb zu Hause; von zu Hause aus gab er sein Einverständnis, daß der Notstand erklärt werde.

Tiefbauamtsleiter Sill: »Das war ein sehr weitgehender Entschluß, denn ich hielt es für möglich, daß die Polizei ruckartig evakuiert.«

Die Polizei evakuierte nicht. Das Kommando im Polizeipräsidium führte die ganze Zeit ein Lageoberbeamter (LOB) im Range eines Polizei-Kommissars, der praktisch die gesamte Schutzpolizei befehligte. Der LOB hatte seinen Dienst routinemäßig nach Dienstschluß des Polizeipräsidiums um 16.30 Uhr aufgenommen und vertrat sämtliche Oberbeamten bis zum Kommandeur der Schutzpolizei.

Da der Polizei-Verbindungsmann der Einsatzstelle von der Deichbruchgefahr nicht unterrichtet war, wurde auch der LOB nicht informiert.

Im Laufe des Abends war der LOB außerdem mit einer Unzahl von Meldungen über Sturmschäden und laufenden Anfragen der Presse eingedeckt worden. Zudem konzentrierte sich nun, nach Mitternacht, die Aufmerksamkeit im nördlichen Teil der Hansestadt auf das Hafenrandgebiet. Das Wasser schob sich immer weiter gegen die Innenstadt und das Zentrum, den Rathausmarkt, vor. Feuerwehr und Polizei wurden von den tatsächlichen Gefahrenpunkten abgelenkt.

Nun blieb auch nicht mehr viel Zeit, die schlafenden Wilhelmsburger aus den Betten zu holen. An vielen Stellen

starrten Schleusenwärter, Hafenbeamte, Deichwachen und unmittelbar an den Deichen Wohnende auf das steigende Wasser. Die Situation wandelte sich ins Groteske: Die Wachgebliebenen warteten auf den Augenblick, in dem das Wasser über die Deiche lief, um erst dann die Flucht zu ergreifen, Nachbarn zu wecken, auf die Dächer zu klettern.

Gegen ein Uhr versagte die Übertragung des Hamburger Pegelstandes an das Hydrographische Institut. Wasserstand: 3,40 Meter über mittlerem Hochwasser.

Um 1.15 Uhr schwappte das Wasser über den Reiherstieg-Deich im Nordwesten der Insel Wilhelmsburg. Das Rennen ums nackte Leben begann.

Gegen 1.50 Uhr wurde die Ernst -August-Schleuse an der Nordwestspitze überflutet.

Gegen 2 Uhr maß das Hydrographische Institut noch einmal mit Behelfsmitteln den Wasserstand: 3,80 Meter über mittlerem Hochwasser. Nachtbummler in der Hamburger Innenstadt beäugten interessiert die trübe Brühe, die von der Elbe her auf den Rathausmarkt floß. Über die Wohngebiete im Urstromtal der Elbe aber kam mit der Flut das Chaos.

Schon kurz nach den ersten Wassereinbrüchen versagte die Telephonverbindung. Kabelschächte und die mit hochempfindlichem Gerät bestückten Vermittlungsstellen soffen ab. Aus den Katastrophengebieten kam bald keine telephonische Nachricht mehr nach draußen.

Als dann die Stromversorgung ausfiel, brach auch das übrige Telephonnetz abschnittweise zusammen: Die Post schaltete auf eigene Not-Aggregate um, die nur noch eine begrenzte Zeit lang Strom für die intakten Leitungen lieferten.

Die Vorsicht der HEW hatte keine Früchte getragen. Vier Kraftwerke wurden überflutet, ein weiteres beschädigt. Damit waren rund vier Fünftel der Gesamtkapazität ausgefallen. Die angeforderte Stromlieferung über das Verbundnetz brachte in diesen entscheidenden Stunden keine Hilfe.

Durch den Sturm führte die Luft einen hohen Salzgehalt. Das Salz kristallisierte sich auf den Isolatoren der Überlandleitungen, es kam zu Funkenüberschlägen, die Spannung fiel zusammen. Die Stadt war ohne Licht und Energie.

Der Stromausfall legte die Wasser - und Gaswerke lahm, soweit sie nicht ohnehin überflutet waren; ohne Strom konnten die Pumpen weder Wasser noch Gas durch die Leitungen drücken. Das Gaswerk Grasbrook am Hafen gab der Szene eine gespenstische Beleuchtung: Das vorhandene Gas mußte in die Luft abgeleitet und entzündet werden.

Aus den Katastrophengebieten jagten unterdessen die Funksprüche in die Polizei- und Feuerwehrzentralen. Hilferufe aus dringendster Not wurden von nebensächlichen Mitteilungen über entwurzelte Bäume und Dachschäden übertönt.

Es war wie in einem Armee-Hauptquartier, dessen Generalstäbler in einer großen Abwehrschlacht aus unzusammenhängenden Meldungen vergebens versuchen, einen Lageüberblick zu gewinnen und weder Schwerpunkt noch Ausmaß des Angriffs erkennen.

Den leitenden Behörden und auch der Einsatzstelle im Tiefbauamt gelang es nicht, sich aus dem Nachrichten-Wirrwarr ein Bild vom Ausmaß des Unglücks zu machen und zu erkennen, daß Wilhelmsburg wie eine Badewanne vollzulaufen begann.

Der heranfauchende Orkan drückte das Wasser zunächst von Westen über den Reiherstieg-Deich und von Nordwesten über die Ernst-August-Schleuse auf die große Elbinsel. Dann brach der Reiherstieg-Deich oberhalb der Klappbrücke Neuhöfer Straße. Bald drang das Wasser im Norden über den Spreehafen und den Müggenburger Zollhafen ein. Gegen drei Uhr schließlich barst der Deich am Spreehafen (siehe Graphik Seite 22).

Die Flut faßte zuerst die Bewohner der zahlreichen Behelfsheime und Schreberbuden in den tiefgelegenen Gartenkolonien.

Im Westen Wilhelmsburgs lief das Wasser sacht gurgelnd in die Wohnungen und füllte sie. Von Norden dagegen schlug die Flutwelle mit Wucht zwischen die Behausungen, sprengte Fenster, Türen und Wände und wirbelte die Gartenhäuschen wie Apfelsinenkisten davon.

Die nahe der Deichbruchstelle am Spreehafen gelegene Siedlung »Alte Landesgrenze e. V.« wurde auf diese Weise zermalmt. Überlebende hockten noch bis in die Morgenstunden auf schaukelnden Trümmern, schrien um Hilfe und gaben Blinkzeichen. Andere erblickten das Licht des neuen Tages nicht mehr; starben vor Erschöpfung oder ertranken.

An der Bruchstelle zerfetzte die Welle die Hälfte eines massiven Hauses, knüllte die schweren Torpedonetze der Hafenumzäunung wie Papier zusammen und schoß dann in die Keller der Wohnblocks hinter den tiefgelegenen Gartenparzellen.

Viele Bewohner flacher Gebäude wurden bei dem Versuch, sich noch auf die Straße zu retten, von der Flutwelle in den eigenen Keller gestoßen und dort ertränkt. Das schäumende Wasser riß metertiefe Krater in Straßen und Vorgärten. Es spülte Barackenteile, Fernsehgeräte, Kühlschränke, Quadersteine, Mülltonnen und Automobile mit sich.

Die Menschen krallten sich an Dächern und Schornsteinen fest, andere vermochten sich auf Bäume zu retten. Für manchen war es nur eine Galgenfrist: Am Vogelhüttendeich - südlich der Deichbruchstelle Spreehafen - erstiegen drei Mann einen Baum und ertranken im Geäst.

Als einziges rettete ein ehemaliger Bewohner der Schreberkolonie »Gartenfreunde« die Puppe seiner Tochter. Frau, zwei Kinder, Bruder und Schwägerin waren im Haus ertrunken.

Retter fanden im Dachgeschoß des Hauses Vogelhüttendeich 191 einen kleinen Jungen in seiner Schlafkammer. Der Junge hatte geglaubt, der Rest der sechsköpfigen Familie habe sich unten beim Fernsehen vergnügt: »Die schrien so. Da habe ich mit dem Feuerhaken gegen den Fußboden geklopft. Da waren sie still.«

Nicht weit entfernt war Maurer Wladislaus Platzek in seiner Wohnung auf dem Vogelhüttendeich durch Getöse aus dem Schlaf geschreckt. Lauben

schwammen vorbei, und Platzeks Stall kullerte hinterher. Platzek rannte im Nachtgewand nach unten. Bis an die Brust im Wasser, »kriegte ich vor der Haustür sofort zwei Leichen zu fassen«.

Unterdes war auch von Osten, wo der Georgswerder Deich brach, und von Süden (Deichbruch am sogenannten Herrgottswinkel) das Wasser in die Insel eingeströmt. Die Bewohner des südlichen Ortsteils Stillhorn vermochten sich noch in Sicherheit zu bringen. Den Leuten in den Wilhelmsburger Ortsteilen Kirchdorf und Georgswerder - zwischen Bahnlinie und Bundesautobahn - gelang es nicht mehr.

Wirksam gewarnt wurde im Grunde nur vereinzelt und zumeist privat.

Der Kolonialwarenhändler Rubbert am Vogelhüttendeich 178 - nahe dem Bahnhof - und sein Mieter Hoffmann hatten vom letzten Hochwasser her hinter dem Haus noch eine Stockmarkierung stehenlassen. Sie sahen, wie das Wasser die alte Marke verdächtig rasch überstieg.

Mieter Hoffmann rannte los, nahm ein Taxi, warnte seine Eltern und einige Freunde. Er traf unterwegs schon Wasser an, das über den Reiherstieg-Deich geflutet war. Aber niemand, so fand der nächtliche Hochwasserbote, schien sich zu sorgen. Hoffmann: »Da waren nur Besoffene.«

Tatsächlich war zehn Stunden vorher in Wilhelmsburg Wochenlohn-Zahltag gewesen. Die Berauschten trieben bald durch das brackige Wasser.

Der Wilhelmsburger Werbefachmann Hans-Joachim Busjaeger schnürte sein Fluchtgepäck, nachdem zunächst drei, nach Mitternacht vier Meter über dem mittleren Hochwasser vorausgesagt wurden. Als der Zivilist sah, daß der Reiherstieg-Deich überzuschwappen drohte, rief er die Hamburger Haupt-Feuerwache an. Die Hamburger bestätigten: Die Gefahr am Reiherstieg sei ihnen bekannt.

Vergebens waren die wenigen Versuche von, Polizei und Feuerwehr, die Bevölkerung durch Sirenen und Lautsprecher vor der drohenden Katastrophe zu warnen: Stets war das Wasser schon da oder gluckerte nur wenig später über die Türschwellen.

Die Wilhelmsburger Ortsfeuerwehr hatte sich den ganzen Tag über mit Sturmschäden an Schornsteinen und Dächern herumgeschlagen. Seit 11.33 Uhr herrschte Ausnahmezustand.

Um 24 Uhr hörte der Wachvorsteher, Oberbrandinspektor Jonny Weitkamp,

die Rundfunknachrichten ab und erfuhr, im 100 Kilometer entfernten Cuxhaven bestehe Deichbruchgefahr. Vorsichtshalber rief Weitkamp bei der für ihn zuständigen Stackmeisterei an und vergewisserte sich, daß Sandsäcke vorrätig waren. Dann fragte er beim Wasserschutzpolizeirevier Harburg an: »Wie hoch wird das Wasser?« Antwort: »Nach unseren Informationen nur drei Meter über dem mittleren Hochwasser.«

Als erster klagte der Wärter an der Reiherstiegklappbrücke Neuhöfer Straße, das Wasser steige ihm in die Wohnung. Weitkamp ordnete an, was das Stadtamt Cuxhaven befohlen und die Stadt Hamburg zu befehlen vergessen hatte: »Alles in die oberen Stockwerke.«

Wenig später war Wilhelmsburgs gesamte Feuerwehr an der Nordwestecke der Insel im Einsatz, um Menschen zu bergen. Schon um 1.07 Uhr verstummte in der Feuerwache 12 der Fernschreiber. Weitkamp: »Dann fiel alles aus.«

Polizeimeister Sabrowski, der als zweiter Schichtführer der Revierwache 70 in Wilhelmsburg die örtliche Polizei -Wasserfront organisierte, war sich aufgrund des ungewöhnlich hohen Wasserstands um 0.30 Uhr endgültig darüber im klaren, daß Schlimmes bevorstand. Sabrowski: »Wir hatten das noch nicht daß das Wasser kurz nach der Ebbe schon so hoch war.«

Wieder tat ein Subalterner, was die Oberen versäumten: Er ließ Notquartiere vorbereiten, forderte Hilfe an und befahl kurz nach 1 Uhr überall Sirenen -Alarm. Doch viele Sirenen konnten nicht mehr heulen, weil das inzwischen eingedrungene Wasser die Kabel unbrauchbar gemacht hatte.

Und wo sie ertönten, erfaßten viele Bewohner nicht den Sinn des Getöses. Sabrowski: »20 Leute riefen an und fragten: 'Was haben die Sirenen zu bedeuten?'«

Nunmehr suchte Sabrowski die Wilhelmsburger mit den Martinshörnern und Lautsprechern seiner drei Streifenwagen aus den Betten zu bringen. Wenig später kam das Wasser. Ein Peterwagen versackte. Sabrowski rettete sich

mit einem Sprung in seine Wache und rief: »Jetzt ist es aus, jetzt brechen die Deiche.« Sie waren gebrochen.

In einem der Streifenwagen war auch Wilhelmsburgs Ortsamtsleiter Hermann Westphal kreuz und quer über seine Insel gekurvt. Zwar hielt er seine Deiche »nach menschlichem Ermessen für sturmflutsicher«, doch zögerte er nicht, besonders hartnäckigen Schläfern Fenster und Türen einzutreten, um sie vor dem Wasser zu warnen.

Im Gebiet vor dem Spreehafen, wo später der Deich barst, warfen sich Frauen vor seinen Streifenwagen. Westphal: »Wir sollten retten helfen. Doch Warnen ist wichtiger als Retten.«

Als die Finsternis dem Morgen wich, waren die Einwohner, Deichtrupps, Polizei, Feuerwehr und örtlich stationierten Hilfsorganisationen noch immer auf sich gestellt.

Inzwischen wurden die ersten Senatoren und Senatssyndici aus den Betten getrommelt. Sie fuhren los, blieben bald im Wasser stecken, wußten selber noch nicht, ob es sich um lokal begrenzte Einbrüche oder um Schlimmeres handelte.

Nachdem sich die Senatoren nach der ersten Wasserfahrt im wasserdampfgefüllten Rathaus versammelt hatten - die Rohre der Luftheizung waren überschwemmt -, wurde gegen sieben Uhr eine Einsatzbesprechung abgehalten. Der Senat ließ sodann einen Hubschrauber aufsteigen. Als die Meldungen der Besatzung vorlagen, wurde erstmals klar, daß der Stadtteil Wilhelmsburg über Nacht ertrunken war.

Für Hamburgs SPD-Innensenator Helmut Schmidt ("Schmidt-Schnauze") war die Stunde der Bewährung gekommen. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Berlin, wo er einer Tagung der Länder -Innenminister beigewohnt hatte, nahm der Bundeswehr-Reservehauptmann Schmidt die Zügel in die Hand und ließ sie nicht wieder los.

Organisations- und Kommandotalent des ehemaligen Bonner Militärstrategen der SPD kamen voll zur Geltung. Schmidt wurde zum Generalstäbler der Wassernot. Er gründete einen provisorischen Notstandsstab, alarmierte die Bundeswehr und entwirrte die durcheinanderlaufenden Befehle.

Auf den späteren Einsatzbesprechungen tat der fraglos alerte und umsichtige Innensenator auch seinem Beinamen »Schnauze« Genüge: Er fuhr den Anwesenden vom Admiral bis zum Amtsleiter über den Mund und zeigte nicht einmal vor dem Stadtoberhaupt Dr. Nevermann Respekt: »Paul halt' mich jetzt nicht mit unwichtigen Fragen auf.«

Den Ersten Bürgermeister hatte die Katastrophen-Nachricht in Bad Hofgastein erreicht. Nevermann unterbrach seine Kur, besorgte sich ein Taxi und fuhr von Österreich nach München -Riem, wo ein Flugzeug der Bundeswehr schon auf ihn wartete.

Für ihn blieb nicht mehr viel zu tun. Senator Schmidt hatte bereits einen Hilfs-Apparat aufgebaut, an dessen Spitze Senator Schmidt stand.

Die zentralen Hilfsmaßnahmen liefen an, die Hubschrauber und Sturmboote kamen, und der Senat begann das ganze Ausmaß der Katastrophe zu begreifen. Im Hamburger wilhelminischen Renaissance-Rathaus wurde die Zahl der Toten jedoch am Samstag noch weit unterschätzt.

Die schwer angeschlagene Versorgung der Millionenstadt mit Strom, Wasser und Gas kam nur langsam wieder in Gang. Die meisten Werke der Versorgungsbetriebe liegen an der Elbe und hatten unter der Flut gelitten. Der Telephonverkehr war auch nach fünf Tagen noch gestört.

Erst nach sechs Tagen konnte die Verbindung mit Wilhelmsburg über die Elbbrücken, ohne die Hamburg eine Falle ist, wieder hergestellt werden.

Inzwischen waren neben den Helfern hochgestellte Besichtiger am Kampfplatz eingetroffen, an ihrer Spitze Bundespräsident Heinrich Lübke. Von den Bundesministern kam jeder auf seine Weise: Soldaten-Minister Strauß im Kampfanzug, Straßenminister Seebohm im Salonwagen, der von einem schlichten Beamten an der Einfahrt ins Katastrophengebiet gehindert wurde. Auch Postminister Stücklen sah nach dem Rechten.

Der unverdrossene Ludwig Erhard gab die Parole aus: »Das ganze deutsche Volk muß nun zusammenstehen.«

Überschwemmter Hamburg-Stadtteil Wilhelmsburg: Wie Moses es beschrieb

Schlauchboot-Patrouille in der Stadt: Hamburg verschlief die Sintflut

Bundeswehr, Flüchtlinge: Familie Hesselbach ...

... ließ sich nicht stören: Flutschäden in Wilhelmsburg

Stadtbeamter Westphal (l.), Helfer

Nur Subalterne ...

... erkannten die Gefahr: Deichbruch im Alten Land bei Hamburg

Tote Kühe am Elbe-Deich: Der Senator gab Alarm ...

Hamburger Bausenator Büch

... und blieb zu Hause

Hamburger Baudirektor Sill

Die Sirenen heulten ...

... und keiner wußte warum: Tote Hamburger am Elbe-Deich

Präsident Lübke im Katastrophengebiet*: Bonn besichtigte die Flut

* Mit Hamburgs Zweitem Bürgermeister, Edgar Engelhard.

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