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AUFRÜSTUNG Ständig beleidigt

Eher verwirrt verließ US-Außenminister Baker die Bundeshauptstadt. Nach Gesprächen mit Kohl und Genscher weiß er immer noch nicht, was Bonn in der Raketen-Frage eigentlich will.
aus DER SPIEGEL 8/1989

Im Kleinen Kabinettssaal des Kanzleramtes suchte der neue amerikanische Außenminister James Baker Auskunft über die Position Bonns zur Stationierung neuer Atomraketen in Europa. Ein Interview des Bundeskanzlers in der Londoner »Financial Times«, so der Besucher aus Washington, habe »einige Unklarheiten« entstehen lassen.

Kohl setzte sich zur Wehr: »Für die Überschrift kann ich nichts«, belehrte er am Montag vergangener Woche seinen Gast. »Ich habe meine Position nicht geändert.«

Aus dem Kanzlerinterview (Überschrift: »Kohl bekräftigt: Entscheidung über atomare Kurzstreckenraketen hat Zeit") hatten die Amerikaner den Schluß gezogen, Kohl wolle den Beschluß der Nato über die »Modernisierung« ihrer Kurzstreckenraketen verzögern. »Die wirkliche Entscheidung über die Produktion« (eines Nachfolgesystems für die »Lance«-Raketen der Nato), hatte der Kanzler gesagt, »wird 1991/92 fallen«.

Bis zu diesem Interview hatten die Amerikaner geglaubt, der Bundeskanzler sei bereit, die neue Aufrüstung im Rahmen des von den Deutschen erfundenen »Gesamtkonzepts für Sicherheit und Abrüstung« der Nato gutzuheißen, das die Allianz schon Ende Mai zum 40. Geburtstag der Nato in Brüssel beschließen will. Und nun dieser Schwenk?

Zusätzliche Verwirrung stifteten die »Interpretationen« zum Kohl-Interview. Kanzlersprecher Friedhelm Ost beschied einen US-Journalisten, der »Entscheidungsbedarf« für die Lance-Raketen werde erst 1991/92 notwendig. Ost: »Ich weiß nicht, ob Sie schon jetzt die Entscheidung treffen, welches Auto Sie im Jahre 2000 fahren.«

Auch der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff gab Irritierendes von sich. Er hatte sich zunächst - gegen die FDP-Linie - als Nachrüstungsbefürworter versucht. Als das Präsidium ihn wieder auf Kurs gebracht hatte, bekannte er, eine dritte Null-Lösung, der Verzicht auch auf die atomaren Kurzstreckenraketen, sei durchaus denkbar.

Wie sollte US-Außenminister Baker bei diesen Verwirrspielen eine klare Linie in Bonn ausmachen? Der Kanzler, klagte ein ranghoher Baker-Begleiter, sei »ständig beleidigt«, der Außenminister trickse herum. Den Deutschen fehle schlicht »Orientierung«.

Am meisten verärgerte die Amerikaner Kohls »unausgesprochene Warnung« ("Financial Times") vor einem Raketen-Wahlkampf 1990: Nach einer Wahlniederlage der CDU/CSU müßten sich die Alliierten auf noch größere Schwierigkeiten mit einer rot-grünen Regierung in Bonn gefaßt machen. »Solche Argumente«, schimpfte ein US-Diplomat vor Abgeordneten der Union, »werden wir nicht mehr hinnehmen.«

So weit ist es also gekommen: Christdemokrat Kohl, der so gern seine Freundschaft zu Amerika beschwört, hat die Verbündeten gegen sich aufgebracht. Der Unmut der Amerikaner zielt nicht mehr nur auf den Außenminister und den »Genscherismus«, auch der Kanzler ist in den Verdacht der Unzuverlässigkeit geraten.

Die Verbündeten, nicht nur die USA, sondern auch die britische Premierministerin Margaret Thatcher, haben die Bonner Haltung zur Raketen-Nachrüstung längst zum Test für die Bündnistreue der Deutschen gemacht. US-Präsident George Bush versuchte in Washington schon, allzu harte Kritik an den Westdeutschen abzuwiegeln: Eine »große Uneinigkeit« sehe er nicht.

Der amerikanische Außenminister präsentierte in Bonn eine fix und fertig formulierte »gemeinsame Erklärung": Die Deutschen sollten versichern, sie seien dafür, alle Waffensysteme der Nato »up to date« - also modern - zu halten. Die Einschränkung »wo dies erforderlich ist«, die beim Nato-Gipfel vor knapp einem Jahr auf Drängen der Deutschen noch akzeptiert worden war, hatten die Amerikaner weggelassen. Die Besucher verlangten noch mehr:

Bonn müsse eine »Modernisierungsentscheidung« im Mai mittragen, weil sonst der US-Kongreß keine Gelder für neue Kurzstreckenraketen bewilligen werde.

Kohl und Genscher sollten davon abrücken, im »Gesamtkonzept« ein Angebot an die Sowjets zu verankern, demnächst in Wien nicht nur über konventionelle Streitkräfte, sondern parallel auch über atomare Kurzstreckensysteme zu sprechen.

Verhandlungen über Kurzstreckenraketen dürften, so die Amerikaner, erst nach Abschluß der Wiener Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte beginnen. Sonst werde der sowjetische Abrüstungsdynamiker Michail Gorbatschow womöglich abermals eine Null-Lösung anbieten, die der Westen dann nur schwerlich ablehnen könne.

Genscher hält diese Begründung für fadenscheinig: Wenn die Sowjets wollten, könnten sie den Westen jeden Tag mit einer Null-Lösungsofferte unter Druck setzen. Da sei es besser, man sitze schon an einem Verhandlungstisch und rede über einen »ersten Schritt«, über gemeinsame Obergrenzen.

Die Amerikaner mochten sich darauf jedoch nicht einlassen. In »bilateralen Gesprächen« (Baker) wollen die Streithähne nun einen Kompromiß suchen; dabei soll auch über den deutschen Wunsch gesprochen werden, eine prinzipielle Zustimmung zur Raketen-Modernisierung mit einem »entscheidenden Zusatz« (Genscher) zu verbinden: Über »Notwendigkeit und Umfang« neuer Raketen-Stationierungen dürfe erst 1992 endgültig beschlossen werden.

Der amerikanische Nato-Oberbefehlshaber John Galvin denkt da ganz anders; er sucht eine schnelle Entscheidung und will die 88 veraltenden Lance-Systeme mit knapp 700 Atomsprengköpfen möglichst rasch durch eine höhere Zahl neuer Startgeräte und Flugkörper ersetzen, wahrscheinlich durch 750 Raketenwerfer »Mars« mit mehreren tausend Atomsprengköpfen.

Auch zu diesem Thema erhielt der amerikanische Außenminister keine klaren Auskünfte. Zur Bonner Regierung, resümierte ein Baker-Begleiter, falle ihm nur noch ein Ausspruch des Österreichers Klemens Fürst von Metternich ein: »Eine Verschwörung mittelmäßiger Menschen, denen es vor jeder Entscheidung graust.«

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