»Stalin hat unsere Liebe nicht erwidert«
SPIEGEL: Herr Gamsatow, am 7. November ist der 60. Jahrestag der Oktoberrevolution. Was bedeutet Ihnen dieses Ereignis?
GAMSATOW: Für mich als Vertreter einer kleinen Nation in Dagestan war die Revolution wie eine zweite Geburt. Sie können es mit einem Schwerkranken vergleichen, der wieder gesund geworden ist. Als Poet habe ich durch die Revolution ein Ziel bekommen.
SPIEGEL: Auf dem Weg zu dem Ziel sind aber offenbar Fehler gemacht worden.
GAMSATOW: Sie kennen doch die Fehler besser als ich. Revolution, Sozialismus, Kollektivisierung oder Industrialisierung werden nicht gemacht wie ein Diktat in der Schule. Es war und ist schwierig. Für mich als Poet war der Personenkult das Schlimmste, es wurden Fehler gegen die Humanität begangen. Wir erleben diese Fehler stärker als Sie im Westen, obwohl Sie vielleicht darüber mehr reden.
SPIEGEL: Sie meinen nur die Fehler der Stalinzeit?
GAMSATOW: Wir haben Stalin geliebt, und er hat diese Liebe nicht erwi-
* Mit SPlEGEL-Korrespondent Norbert Kuchinke.
dert. Stalin hat den Staat gefestigt, aber dabei Menschen vernichtet.
SPIEGEL: Haben Sie denn jetzt keinen Personenkult mehr?
GAMSATOW: Jetzt besteht keine Gefahr für die sowjetischen Menschen. Wir werden von guten Leuten geführt. Ich bin nicht für und nicht gegen den Kult. Ich möchte, daß eine Persönlichkeit auch als Persönlichkeit akzeptiert wird. Je größer die Persönlichkeit, desto besser regiert sie.
SPIEGEL: Werden denn die Intellektuellen in der Sowjet-Union Ihrer Ansicht nach vom Staat nicht zu stark reglementiert?
GAMSATOW: Wer ist überhaupt ein Intellektueller? Arbeiter oder Kolchosbauer, Poet oder Ingenieur? Wer will sagen, wer von denen die größere intellektuelle Begabung hat. Bei uns ist dieser Begriff im guten Sinne verworren, die am meisten darüber reden, sind wohl am wenigsten intellektuell. Ich persönlich werde von niemandem reglementiert.
SPIEGEL: Schöpferische Arbeit braucht Freiheit. Ist die in der Sowjet-Union denn gewährleistet?
GAMSATOW: Ich persönlich habe nie gemerkt, daß ich als Poet eingeengt werde oder nicht künstlerisch frei arbeiten könnte. Ich schreibe über Menschen. über die Natur und meine geliebten Frauen. Wenn Sie unter Freiheit verstehen, daß ich auf den Roten Platz gehe und schreie gegen wen soll ich schreien? Meine Landsleute hielten mich für verrückt, wenn ich gegen Leute protestierte. die mir alles gegeben haben. Sie streiten sich doch auch nicht immer und öffentlich mit Ihrer Mutter. Nennen Sie mir Beispiele. wo Künstler in ihrer Arbeit behindert worden wären!
SPIEGEL: Da können wir Ihnen Dutzende nennen. Prominentes Beispiel ist in der Literatur Solschenizyn, sind in der Malerei die Nonkonformisten, die in Moskau mit Bulldozer daran gehindert wurden, ihre Bilder zu zeigen.
GAMSATOW: In der Malerei kenne ich mich nicht aus. Solschenizyn kannte ich sehr gut. Er war scharf darauf, den Lenin-Preis zu bekommen. Dann hat er gegen Lenin polemisiert, die Revolution durch den Dreck gezogen. Mir ist die Freiheit von Millionen lieber als die von Solschenizyn. Er schreibt gegen uns, warum sollten wir nicht das Recht haben, gegen ihn etwas zu unternehmen. Er nimmt sich Freiheiten heraus, warum sollten wir nicht frei entscheiden können?
SPIEGEL: Lenin war doch kein Heiliger. Er hat Fehler gemacht. Warum sollte man die nicht aufzeigen dürfen?
GAMSATOW: Sogenannte Fehler habt ihr doch im Westen schon x-mal beschrieben. Wir wünschen und mögen diese Veröffentlichungen nicht. Lenin bedeutet für uns mehr, als Sie sich vielleicht vorstellen können. Solschenizyn kritisiert ja nicht irgendwelche Fehler, er beschimpft die Revolution als solche.
SPIEGEL: Was halten Sie vom sozialistischen Realismus? Er idealisiert doch immer nur: Arbeiter, Bauern und sogar Maschinen.
GAMSATOW: Ich denke über den sozialistischen Realismus nicht nach. Wenn ich Gedichte oder Prosa schreibe, habe ich nicht den sozialistischen oder kritischen -- wie Sie es auch immer nennen mögen -- Realismus vor Augen; darüber denken Kritiker nach, das ist nicht meine Arbeit. Für die Literatur kann ich Ihre Behauptung nicht bestätigen. Wie schon gesagt, in der Malerei kenne ich mich nicht aus. Wo haben Sie zum Beispiel bei Twardowski, Rasputin, Trifonow oder Pasternak -- ich könnte noch beliebig viele Namen aufzählen -- idealisierte Arbeiter oder Bauern? Sie zu lieben, heißt doch nicht, sie zu idealisieren.
SPIEGEL: Realismus heißt, die Realitäten zu beschreiben. Die aber werden nicht korrekt wiedergegeben.
GAMSATOW: Realität ist, daß wir die Oktoberrevolution hatten. Ich habe doch kein Recht, den Sozialismus gegen Millionen von Menschen zu beschreiben, die ihn wollen und in ihm glücklich leben. Mißstände in der Wirtschaft oder Planung werden ausreichend beschrieben. Ich will ja nicht euch gefallen. Wir rufen nicht den Zaren zurück und wollen auch nicht euer System.
SPIEGEL: Im 19. Jahrhundert haben beispielsweise Dostojewski oder Gogol die Gesellschaft hart kritisiert. Warum geschieht das heute nicht?
GAMSATOW: Wir sind Dostojewski und Gogol sehr dankbar für diese Kritik. Sie haben uns geholfen, die Gesellschaft zu verändern. Die Gesellschaftsordnung ist keine Frau, von der man sich trennen lassen kann. Unsere Gesellschaft gibt uns zum Beispiel Wohnungen, medizinische Versorgung, kostenlose Ausbildung, warum soll ich dagegen angehen. Herzen hat gefragt: »Wer ist schuld?« Tschernyschewski hat gefragt: »Was tun?« Lenin hat uns gezeigt, wer schuld ist und was wir machen mußten.
SPIEGEL: Es gibt aber doch keine Gesellschaft ohne Fehler.
GAMSATOW: Das stimmt. Gegen die Fehler kämpfen wir, sonst gäbe es keine Literatur. Gegen Korruption, Selbstgefälligkeit oder Familienprobleme gehen wir an. Aber wir stellen diese Gesellschaft, die wir geschaffen haben. nicht in Frage. Wer gegen diese Gesellschaft schreibt, wird bei uns nicht veröffentlicht. Das Recht müssen wir haben.
SPIEGEL: Wenn Dostojewski heute lebte, wie würden Sie sich ihm gegenüber verhalten?
GAMSATOW: Zu Dostojewski habe ich unterschiedliche Beziehungen. Vielleicht müßte man diese Frage besser
* Eine Ausstellung auf freiem Feld am Moskauer Stadtrand im September 1974, die mit Wasserwerfern und Bulldozern aufgelöst wurde.
einem russischen Schriftsteller stellen. Ich würde mich ihm gegenüber gut verhalten und abwarten und sehen, wie er sich unserer Gesellschaft gegenüber verhält. Dostojewski ist für mich kompliziert. Er war ein tragischer Mensch.
SPIEGEL: Sind Sie mit Dostojewskis Formulierung: »Ich möchte nicht so eine Gesellschaft, wo ich nichts Böses tun darf. Im Gegenteil, ich möchte eine Gesellschaft, wo ich alles Böses tun könnte, aber ich dieses nicht selber machen möchte«, einverstanden?
GAMSATOW: Dieses ist mir nicht ganz verständlich, ist mir zu wirr. Ich bin ein Gebirgler aus Dagestan. Ich liebe das Einfache und Klare. Wenn das als moralischer Imperativ gemeint ist, dann kann ich es nur begrüßen.
SPIEGEL: Haben Kulturfunktionäre nach Ihrer Ansicht überhaupt ein Recht, sich in die Kunst einzumischen und Zensor zu spielen?
GAMSATOW: Ich würde es mit Minus- und Pluspunkten bewerten. Im praktischen Leben geht es wohl nicht anders, Der Staat zahlt den Künstlern Prämien, wir bekommen von den staatlichen Verlagen Honorare, werden kostenlos medizinisch versorgt, können in Erholungsheime fahren. Ich bin meinem Staat dankbar.
SPIEGEL: Behindert diese Art der Kontrolle nicht von vornherein die schöpferische Arbeit?
GAMSATOW: Ich persönlich fühle mich nicht behindert. Es mag vielleicht den einen oder anderen geben, der dieses so empfindet. Darüber, ob nun zum Beispiel ein Buch veröffentlich werden soll oder nicht, entscheiden ja nicht nur Beamte. In der Kommission sitzen ja auch Schriftsteller.
SPIEGEL: Also doch Zensur?
GAMSATOW: Zensur nur, um keine Militärgeheimnisse zu verletzen. Sie wissen doch selber, wieviel Flugzeuge mit Spionagezielen über unser Land geflogen sind. Aber ich habe zum Beispiel noch nie gemerkt, daß die Zensur etwas verbietet. In einigen Ländern passieren Dinge, die schlimmer sind als Zensur. Mein Buch »Mein Dagestan« wurde ins Türkische übersetzt und mit einem schrecklichen Vorwort versehen, daß ich mich an die Russen verkaufe. Wie kann man so etwas behaupten?
SPIEGEL: Warum dürfen keine religiösen Motive beschrieben oder gemalt werden, wo doch die Religionsfreiheit in der Verfassung gewährleistet ist?
GAMSATOW: Unsere Religionsvertreter leben gut und arbeiten ehrlich. Der Koran zum Beispiel wurde oftmals verlegt. Religion und Staat sind getrennt. Es ist sicherlich nicht die Aufgabe von Staatsverlagen, die Religion zu propagieren.
SPIEGEL: Kritik an Partei- und Regierungsspitzen gehört ebenfalls auf die Verbots-Liste?
GAMSATOW: Sie haben vielleicht Grund, Ihre Spitzen zu kritisieren, wir haben dazu keinen. Sie arbeiten ehrlich für uns, die Resultate sehen wir. Ich gehe jetzt zum Kulturminister und sage ihm, daß Dagestan ein eigenes Ballett und ein Literaturmuseum haben muß. Ich werde bitten und nicht kritisieren. Ich werde nur diejenigen kritisieren, die auf der anderen Seite der Barrikaden stehen: unsere Gegner.