STALIN LEHNTE DEN AUSTAUSCH AB
Eine Nacht lang beschossen deutsche Panzer die Stellungen der sowjetischen Haubitzen-Batterie in einem Waldstück südöstlich von Witebsk. Am frühen Morgen gaben die Rotarmisten auf.
Der russische Batterie-Chef ("Die mit mir zum Angriff vorgehen sollten, waren nicht mehr da") warf seinen Offiziersmantel weg und zog den erdbraunen Mantel eines gemeinen Sowjet-Soldaten über. Dann begab er sich in deutsche Gefangenschaft: Jakob ("Jascha") Dschugaschwili -- ältester und ungeliebter Sohn des Josef Stalin.
Sowjet-Oberleutnant Dschugaschwili hatte den Mantel gewechselt, um hinter deutschem Stacheldraht seine Identität zu verbergen. Landsleute denunzierten ihn; die Deutschen wußten bald, wen sie gefangen hatten. Doch als sie ihn fragten: »Sollen wir Ihrem Vater über Funk eine Nachricht geben, daß Sie sich unverwundet und wohlbehalten in Kriegsgefangenschaft befinden?«, wehrte der Tyrannen-Sohn ab: »Nein, nein, bitte nicht.«
Das war am 16. Juli 1941, dem 25. Tag des deutsch-russischen Krieges. Rußlands Dschugaschwili, 1907 in Baku geboren, war Deutschlands prominentester Kriegsgefangener. Und trotzdem verschwand er auf mysteriöse Weise.
22 Jahre nach dem Krieg ist immer noch umstritten, ob die Deutschen ihn töteten oder die Amerikaner ihn befreiten, ob er im Sudetenland beerdigt oder irgendwo außerhalb der Sowjet-Union ansässig wurde. So berichtete beispielsweise
> der frühere Hauptmann und Kriegsberichter Walter Reuschle, der Dschugaschwili gleich nach der Gefangennahme verhört hatte, Stalins Sohn habe sich im Konzentrationslager Oranienburg gegen den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun geworfen, um sich zu töten, bevor die Rote Armee das Lager befreite; dabei sei er von einem Wachtposten erschossen worden;
> der letzte Kommandant des Kriegsgefangenenlagers Jägerndorf/Sudetenland, Franz Seliger: »Dschugaschwili starb im Lazarett des benachbarten Lagers Lamsdorf und wurde auf dem Kriegsgefangenenfriedhof in der Nähe beigesetzt.« Todesursache: »Flecktyphus -- Enzephalitis«.
Andere wiederum sind sich sicher, daß Jakob Dschugaschwili Krieg und Gefangenschaft überlebte. Gleich nach dem Krieg meldete die »New York Times«, der Stalin-Sohn sei von den Amerikanern aus dem KZ Dachau befreit worden. Die in Amerika erscheinende russische Emigranten-Zeitung »Nowoje Russkoje Slowo« schrieb, Dschugaschwili sei nach 1945 »irgendwo in Europa untergetaucht«.
Argentinische Blätter verbreiteten 1951 gar, Stalins Sohn sei bei einer Bootsfahrt auf dem Paraná ertrunken. Französische Polizisten in Bordeaux glaubten, in dem verhafteten Schriftsteller Jacques Balmain, der sich nicht ausweisen konnte, den vermißten Sowjet-Artilleristen entdeckt zu haben. Josef Stalin soll für Hinweise auf den verlorenen Sohn eine Million Rubel ausgesetzt haben -- was immer wieder berichtet, nie jedoch belegt wurde.
Gewiß ist nur, daß Stalins Sohn von Oktober 1941 bis August 1943 im Offizierslager ("Oflag") XIII D in Hammelburg (Unterfranken) und dann bis Herbst 1944 im Oflag XC in Lübeck-Vorwerk gefangengehalten wurde. Obgleich er seinen Vater nicht liebte und dem Kommunismus nicht uneingeschränkt anhing, gelang es den Nationalsozialisten nicht, ihn für ihre Propaganda zu gewinnen.
Im Oflag Hammelburg schnitzte Dschugaschwili, der Kontakte zu anderen Gefangenen mied und aus der Heimat weder Briefe noch Pakete erhielt, Zigarettenspitzen und tauschte sie bei den Bewachern ein gegen Tabak, Brot oder einen Extra-Schlag Suppe. In Lübeck-Vorwerk, wo der Stalin-Sohn zeitweise mit dem Sohn Robert des französischen Sozialisten-Führers Léon Blum eine Baracke teilte, vertiefte sich der gelernte Elektro-Ingenieur in das Studium mathematischer und ballistischer Fachliteratur.
Im Herbst 1944 befiel den bis dahin gelassenen Kriegsgefangenen eine Haftpsychose. Dschugaschwili, der das Lager-Reglement ansonsten pingelig beachtet hatte, weigerte sich nun, wie der ehemalige Lager-Chefarzt, Dr. Blücher, später mitteilte, einen deutschen Offizier mit »Herr Hauptmann« anzureden.
Diese Insubordination war anscheinend der Anfang vom Ende. Stalins Sohn wurde aus dem Kriegsgefangenenlager in KZ-Gewahrsam überstellt und wenig später -- so hieß es jedenfalls -- in Oranienburg »auf der Flucht erschossen«.
Doch so ungewiß das Schicksal des Stalin-Sohnes bis heute ist, so sicher ist, daß Josef Stalin es hätte wenden können: Mehrfach hatten die Deutschen Tauschofferten unterbreitet -- so auch das Angebot, den sowjetischen Artillerie-Oberleutnant gegen den deutschen Stalingrad-Verlierer Generalfeldmarschall Friedrich Paulus freizulassen.
Stalin lehnte ab. Er wollte nicht eingestehen, daß ein Stalin-Sproß unverwundet in Feindeshand gefallen war.