ZWEITER WELTKRIEG Standhafter Eduard
Mit der Gewandtheit professioneller Geheimagenten kletterten zwei Männer über die Mauer in den Garten einer der vornehmsten Villen von Lissabon. Die Eindringlinge schlichen sich an das Haus heran und holten aus ihren Manteltaschen mittelgroße Steine. Sekunden später zerriß das Splittern von Fensterscheiben die nächtliche Stille. Man schrieb den 30. Juli 1940.
Die aufgeschreckte Dienerschaft der Villa kolportierte das Gerücht, der nächtliche Anschlag sei ein Werk des britischen Geheimdienstes. Ein Blumenstrauß, der kurze Zeit später abgegeben wurde, schien den Verdacht zu bestätigen. Auf der angehefteten Visitenkarte stand zu lesen: »Nehmen Sie sich vor den Intrigen des britischen Secret Service in acht! Von einem portugiesischen Freund, der es gut mit Ihnen meint.«
Die Aufmerksamkeit der Unbekannten galt aber keineswegs dem Besitzer der Villa, Ricardo de Espirito Santo Silva, sondern jenem illustren Gast, den Bankier Silva in seinen Mauern beherbergte, seit die großdeutschen Divisionen Hitlers Frankreich überrollt hatten: dem britischen Exkönig Eduard VIII., seit seiner Abdankung im Jahre 1936 Herzog von Windsor genannt.
Der deutschfreundliche Herzog, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs der britischen Militärmission im französischen Hauptquartier attachiert, hatte sich nach dem Zusammenbruch Frankreichs nach Portugal abgesetzt, um den Deutschen nicht in die Hände zu fallen. In der Villa seines Freundes Silva aber meditierte Eduard darüber, ob er sich den Deutschen nicht freiwillig zur Verfügung stellen sollte.
Englands ehemaliger König sei, so meldete der deutsche Gesandte in Lissabon am 11. Juli 1940, »davon überzeugt, daß der Krieg hätte vermieden werden können, wäre er auf dem Thron geblieben. Er bezeichnete sich selber als entschiedenen Befürworter einer friedlichen Verständigung mit Deutschland«.
Hausherr Silva ahnte denn auch, daß die Steinwürfe gegen seine Villa nicht zu Lasten des britischen Geheimdienstes gingen, sondern der Phantasie des Berliner SD-Abwehrchefs Walter Schellenberg entsprangen, der in der portugiesischen Hauptstadt weilte, um den Herzog von Windsor ins deutsche Lager zu locken.
Schellenbergs Schockmanöver, als Attentatsversuche des Secret Service getarnt, sollten den Herzog und seine Frau gegen die britische Regierung aufbringen. Zu drastischeren Maßnahmen hatte sich der SD-Chef nicht entschließen können. Meldete Schellenberg nach Berlin: »Auf das Abfeuern einiger Schüsse (gegen die Fenster des herzoglichen Schlafzimmers), vorgesehen für die Nacht des 30. Juli, wurde verzichtet, weil ihr psychologischer Effekt nur die Herzogin in ihrem Wunsche bestärkt hätte, abzureisen.«
Über die Hintergründe der Lissabonner Affäre verbreitete sich jetzt der amerikanische Publizist William L. Shirer in einer dickleibigen Expertise über den »Aufstieg und Niedergang des Dritten Reiches"*. Autor Shirer wertet das Geheimdienst-Spiel zu Lissabon als den letzten Versuch Hitlers, sich mit Großbritannien zu verständigen.
Shirer hatte schon als Berlin,er Korrespondent einer amerikanischen Rundfunkgesellschaft und Nachrichtenagentur - er vertrat von 1925 bis 1941 das »Columbia Broadcasting System« und den »Universal News Service« - erforscht, daß Hitler nach dem Ende des Frankreich-Feldzugs von 1940 keine Lust zeigte den Krieg fortzusetzen, sondern gewillt war, in Friedensverhandlungen mit Großbritannien einzutreten.
»Aus jenem Sommer erinnere ich mich«, notiert Deutschland-Experte Shirer, »daß jedermann (in Berlin) überzeugt war, der Krieg sei so gut wie vorüber ... Im Oberkommando der Wehrmacht war auch nichts vorbereitet worden, um den Krieg gegen Großbritannien fortzusetzen.« Noch heute erscheint dem Historiker Shirer das Zögern Hitlers als »eine der größten Paradoxien des Dritten Reiches«.
Shirer: »Im Hochsommer 1940 wußten sie (die Deutschen) nicht, was sie mit ihren glänzenden Siegen anfangen sollten; sie hatten keine Pläne und kaum den Willen, die größten militärischen Siege in der Geschichte ihrer Nation auszunutzen.«
Bei seinen jahrelangen Nachforschungen fandAutor Shirer unter den 1945 erbeuteten deutschen Dokumenten neues Material - darunter auch die bisher unveröffentlichten Tagebücher des ehemaligen Generalstabschefs Halder -, das nur eine Erklärung für das Schwanken Hitlers im Sommer 1940 zuläßt: Der Diktator glaubte allen Ernstes, England werde den Kampf abbrechen und sich mit dem Dritten Reich arrangieren.
Shirers neue Materialien zeigen nun deutlich, daß Hitlers Friedensangebote gegenüber England nicht ausschließlich
- wie man lange Zeit annahm - propagandistischen Zwecken dienten. Hitler hielt einen Frieden mit England im Jahre 1940 für möglich - einen Frieden, der die nationalsozialistischen Gewalteroberungen bestätigen sollte.
Die deutschen Truppen hatten noch nicht Paris erreicht, da träumte der neidische Bewunderer Englands in der Reichskanzlei bereits von einer Verständigung mit London. General Jodl notierte sich am 20. Mai 1940: »Der Führer arbeitet am Friedensvertrag ... England kann jederzeit einen Sonderfrieden haben, wenn es die (ehemaligen deutschen) Kolonien zurückgibt.«
Vier Tage später offenbarte Hitler gegenüber dem Generaloberst von Rundstedt seinen Respekt vor dem britischen Empire und betonte, es sei unbedingt »notwendig«, daß es weiterexistiere. Er fordere von den Briten »nur«, daß sie ihm auf dem. Kontinent freie Hand ließen.
Durch vertrauliche Kontakte unter Diplomaten wußte Hitler die trügerischen Friedenshoffnungen in aller Welt nachhaltig zu nähren. Derartige Vorstöße empfand Churchill als so störend, daß er dem britischen Botschafter in Washington, dem sich deutsche Diplomaten genähert hatten, bedeuten ließ: »Lord Lothian muß angewiesen werden, daß er unter keinen Umständen auf den Schritt des deutschen Geschäftsträgers eingeht.«
Der britische Premier hielt es sogar für geraten, die deutschen Friedenskontakte immer wieder öffentlich zurückzuweisen. Gleichwohl glaubte Hitler wochenlang, England werde ihm doch noch die Hand reichen.
Selbst nachdem Hitler Mitte Juli mit seinen Militärs zum erstenmal Pläne für eine militärische Invasion in England erörtert hatte, hielt er an seinen Illusionen fest. »Der Führer ist von der Frage besessen, warum England noch immer nicht den Weg zum Frieden einschlagen will«, schrieb sich Generalstabschef Halder am 13. Juli ins Tagebuch. Bald fand Hitler die Antwort: Premier Churchill wartete auf die Russen.
Notierte Halder: »So rechnet nun auch er (Hitler) damit, daß England durch Gewalt zum Frieden gezwungen werden muß. Aber er sieht es nicht gern. Gründe: Wenn wir England militärisch zerschlagen, dann wird das britische Empire auseinanderfallen. Deutschland jedoch kann davon nicht profitieren.«
Nur widerstrebend wies Hitler am 16. Juli das OKW an, »eine Landungsoperation gegen England vorzubereiten und, falls notwendig, auszuführen«. Die Worte »falls notwendig« verrieten, daß Hitler nach wie vor schwankte. Kommentiert Historiker Shirer: »Dieses 'falls' war noch immer groß, als sich Hitler am Abend des 19. Juli im Reichstag erhob, um Großbritannien sein letztes Friedensangebot zu unterbreiten.«
Die schneidende Antwort Churchills ließ dem Diktator keine andere Wahl, als den von ihm angestifteten Krieg fortzusetzen. In diesem Augenblick aber sah der Phantast Hitler einen letzten Ausweg, den er hastig beschnitt: Deutsche Diplomaten meldeten von der Iberischen Halbinsel, Großbritanniens ehemaliger König Eduard VIII., vom kriegsbedrohten Paris zunächst nach Madrid geflohen, sei zu einem Treffen mit dem Führer bereit.
Der Herzog von Windsor hatte schon immer freundliche Kontakte zu den Machthabern des Dritten Reiches unterhalten. »Windsor hat sich gegenüber dem spanischen Außenminister und anderen Bekannten gegen Churchill und gegen diesen Krieg ausgesprochen«, kabelte Botschafter Eberhard von Stohrer aus Madrid am 2. Juli an die Berliner Wilhelmstraße.
»Politisch entferne ich mich mehr und mehr vorn König (Eduards Bruder und Nachfolger Georg VI.) und von der gegenwärtigen britischen Regierung«, gestand der herzogliche Durchreisende einem anderen Herzog, Spaniens Miguel Primo de Rivera. Fügte der Spanier hinzu: »Churchill hat dem Herzog von Windsor mit einem Kriegsgericht gedroht«, falls
er noch länger im neutralen Ausland bleibe.
Außenminister Ribbentrop hatte der spanischen Regierung geraten, den Herzog »für eine Reihe von Wochen in Spanien festzuhalten«, wobei jedoch unbedingt der Eindruck vermieden werden müsse, »daß, der Vorschlag von Deutschland käme«.
Der Herzog, inzwischen von Premier Winston Churchill zum Gouverneur der westindischen Bahama-Inseln ernannt und damit politisch kaltgestellt, zog es allerdings vor, vom achsenfreundlichen Spanien in die Lissabonner Villa des Bankiers Silva zu retirieren. Dort suchte ihn Primo de Rivera auf, um ihm die Wünsche des großdeutschen Außenministers zu übermitteln.
Ribbentrop in einem Telegramm am 11. Juli: »Bei passender Gelegenheit ist der Herzog (von Windsor) davon zu informieren, daß Deutschland mit dem englischen Volk Frieden wünscht, daß die Churchill-Clique dem im Wege steht und daß es zu begrüßen wäre, falls sich der Herzog für weitere Entwicklungen zur Verfügung halten würde.«
Obwohl Eduard VIII. die Durchhaltepolitik Winston Churchills mißbilligte, war er doch realistisch genug, sich für einen deutsch-britischen Sonderfrieden und seine erneute Thronbesteigung in England keine Chancen auszurechnen. Zwar zögerte er noch immer, nach den Bahamas abzureisen, aber der Zwischenhändler Primo de Rivera mußte mit leeren Händen nach Madrid zurückkehren.
Je weniger der Herzog zur Zusammenarbeit mit den Nazis bereit war, desto abenteuerlicher wurden die Werbemethoden seiner deutschen Verfolger. Ribbentrop bestellte sich schließlich den jungen Chef des Amtes IV E (Inlandsabwehr) im SS-Reichssicherheitshauptamt, Walter Schellenberg, und beauftragte ihn »mit der bizarren Mission, den Herzog von Windsor zu kidnappen« (Shirer).
Schellenberg ließ die Villa Silva in Lissabon beschatten und arbeitete folgenden Fluchtplan aus: SD-Agenten sollten ein Attentat des britischen Gehieimdienstes vortäuschen, um den Herzog und die Herzogin zu einer Rückkehr ins faschistische Spanien zu bewegen.
Das Herzogspaar müsse - so Abwehrchef Schellenberg - eine Reise, an die spanisch-portugiesische Grenze unternehmen, an einem verabredeten Platz die Grenze überschreiten und dann später von den spanischen Behörden festgehalten werden, bis der Exkönig zur Zusammenarbeit bereit sei.
Doch Churchill durchkreuzte den Schellenberg-Plan. Er entsandte am 1. August Sir Walter Monckton, einen Freund des Herzogs, nach Lissabon, um dein ehemaligen Monarchen ins Gewissen zu reden. Eduard zögerte noch, entschied sich dann aber zur Abreise nach den Bahamas.
Der Herzog ließ der deutschen Gesandtschaft in Lissabon durch seinen Gastgeber Silva ausrichten, er »anerkenne des Führers Wunsch nach Frieden, mit dem er völlig übefeinstimme. Jedoch, müsse er den offiziellen Befehlen seiner Regierung Folge leisten«. Und: »Ungehorsamkeit würde nur vorzeitig seine Absichten offenbaren und einen Skandal heraufbeschwören.«
* William L. Shirer: »The Rise and Fall of the Third Reich«. Verlag Simon and Schuster, New York; 1960; 1248 Seiten; 10 Dollar.
SD-Abwehrchef Schellenberg
Geheimpolitik mit Kieselsteinen
Shirer
Herzogspaar Windsor, Gastgeber (1937): Churchill drohte mit dem Kriegsgericht