MILITÄR-UNION Stark auf dem Papier
Frankreichs General-Staatschef Charles de Gaulle ist entschlossen, die von ihm projektierte deutschfranzösische Union in jenem Bereich zu beginnen, der seinem Herzen am nächsten liegt: dem militärischen.
Am Mittwoch letzter Woche, drei Tage nach Rückkehr von seiner Jubel -Tour durch die Bundesrepublik, bestätigte der Präsident dem Ministerrat in Paris, was die Bundesregierung zur Beruhigung Washingtons und Londons bereits eine Woche zuvor versichert hatte: Es wird kein deutsch-französisches Sonderbündnis, keine »Institutionalisierung« der neuen Entente cordiale geben.
Statt dessen will Frankreichs General -Präsident die militärische Integration der beiden Länder vorantreiben. Das Nato-Oberkommando Europa-Mitte in Fontainebleau - Oberbefehlshaber: der französische General Jacquot; Chef der Operationsabteilung: der deutsche General Graf von Baudissin; Befehlshaber der Landstreitkräfte: der deutsche General Speidel - soll wichtigstes Instrument dieser Kollaboration neuen Typs werden.
Vor der Bundeswehr-Führungsakademie in Hamburg-Blankenese hatte Deutschland-Reisender de Gaulle seinen Plan vorgezeichnet: »Auf Grund unserer Eigenarten und auch der gemeinsamen Gefahr ist die organische Zusammenarbeit unserer Armee, mit dem Ziel ein und derselben Verteidigung, für die Verbundenheit unserer beiden Staaten unerläßlich.«
Die Legitimation für sein Projekt, im Nato-Bereich Europa-Mitte eine deutsch-französische Hegemonie zu etablieren, sieht Frankreichs oberster Befehlshaber de Gaulle in dem Umstand, daß andere Befehlsbereiche des Nordatlantikpakts schon national gefärbt sind. So ist das alliierte Oberkommando Atlantik (Saclant) eine anglo-amerikanische Domäne, in der außer einem Kanadier (für den Teilbereich kanadischer Atlantik) und einem Franzosen (für den Teilbereich Golf von Biskaya) ausschließlich Amerikaner und Briten das Kommando führen.
Der auf Ebenbürtigkeit erpichte französische General-Staatschef hatte ursprünglich für das (dem Saclant gleichrangige) alliierte Oberkommando Europa (Shape) in Paris eine adäquate Besetzung gewünscht; ein Europäer, und zwar ein Franzose, sollte den Platz des US-Generals Norstad einnehmen. Die Amerikaner ließen nicht mit sich reden und ersetzten Norstad durch seinen Landsmann Lemnitzer.
Den Ersatz für seine gescheiterten Shape-Ansprüche sucht de Gaulle jetzt mit deutscher Assistenz im französisch geführten Nato-Kommando Europa -Mitte in Fontainebleau. Bislang ist diese Nato-Instanz noch dem amerikanisch geführten Oberkommando Europa in Paris nachgeordnet.
General de Gaulle will das Europa -Kommando Mitte künftig mehr den Weisungen jener Regierungen unterwerfen, deren Staaten das Operationsgebiet dieses Kommandos bilden. Das sind die EWG-Staaten mit Ausnahme Italiens, das zum Europa-Kommando Süd gehört.
Dieser Plan ist Teil der de Gaulleschen Vorstellungen von einer Nato -Reform: Schwächung des amerikanischen Einflusses durch eine stärkere »Regionalisierung«.
Erste Ansätze dazu sind bereits vor der Deutschland-Reise des französischen Präsidenten gemacht worden. Trotz Protestes des Nato-Oberbefehlshabers Norstad hielten deutsche und französische Marine-Verbände im Juni gemeinsame Flottenmanöver in der Nordsee ab (SPIEGEL 24/1962).
Außerdem finden regelmäßig deutschfranzösische Generalstabsbesprechungen statt. Und schließlich sucht Frankreich die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Rüstungswirtschaft zu verstärken, um die Abhängigkeit der Bundeswehr von den amerikanischen Waffenlieferungen zu verringern - etwa durch gemeinsame Produktion eines mittelschweren Europa-Panzers.
Rein militärisch hat diese Zusammenarbeit offensichtliche Vorteile.
Heute stehen in den Schlachtfeldländern Deutschland (ohne Schleswig -Holstein, das zum Nato-Kommando Nord gehört), Frankreich, Holland, Belgien und Luxemburg unter dem Kommando des Nato-Abschnitts Europa -Mitte außer sechs amerikanischen, drei britischen, zwei holländischen und zwei belgischen Divisionen sowie einer kanadischen Brigade immerhin schon acht deutsche, aber nur zweieinhalb französische Divisionen.
Die amerikanischen Verbände haben volle Kriegsstärke, die deutschen Divisionen zwischen 60 und 80 Prozent ihres Kriegssolls. Die Briten hingegen verfügen nur über knapp 50 Prozent der Plan-Kopfzahl. Und die zweieinhalb französischen Nato-Divisionen sind am stärksten auf dem Papier.
In elsässischen Garnisonen ist zwar ein kompaktes französisches Korps (drei Divisionen) untergebracht. Aber diese Streitmacht, die der algerische Fallschirm-Held General Massu befehligt, steht nicht unter Nato-, sondern unter nationalem französischem Kommando. Sagte de Gaulle dem - inzwischen pensionierten - Nato-Oberbefehlshaber Norstad: »Wo und von wem Frankreich verteidigt wird, bestimme ich!«
Unter dieser Devise hat de Gaulle schon vor Jahren die taktischen Luftstreitkräfte der Amerikaner aus Frankreich vertrieben, weil er nicht länger dulden wollte, daß auf französischem Boden amerikanische Atomsprengköpfe lagern, über die er, Frankreichs Staatschef, keine Gewalt hat.
Auch die französische Mittelmeerflotte wurde dem zuständigen Nato -Befehlshaber entzogen und unter national-französisches Kommando gestellt.
Präsident de Gaulle ist nun bereit, zumindest das Korps Massu in die Verteidigungsplanung Mitteleuropas einzubauen, wenn das Nato-Kommando Europa-Mitte eine größere Selbständigkeit erhält. Frankreich will dabei einen Front-Abschnitt im Südteil des Kommandos Mitte übernehmen, zu dem auch die Verteidigung Münchens gehört. Bislang hat die französische Armee allerdings nur ein Bataillon in dieses Gebiet entsandt.
Darüber hinaus möchte de Gaulle den neuen deutschen Waffenbrüdern auch noch auf andere Weise unter die Arme greifen. In Zukunft sollen erheblich mehr Bundeswehr-Verbände als bisher auf französischen Truppenübungsplätzen üben dürfen und mehr Versorgungsdepots der Bundeswehr in Ost - und Mittelfrankreich Platz finden.
Die militärpolitischen Nachteile dieser General-Planung liegen allerdings ebenfalls auf der Hand: Die Kampfkraft der anglo-amerikanischen Divisionen in Mitteleuropa ist auf absehbare Zeit immer noch größer als die aller deutschen und französischen Verbände zusammen. Außerdem verfügen die Amerikaner über die Atomsprengköpfe, ohne die Westeuropa gegen einen russischen Großangriff nicht verteidigt werden kann.
Vorbedingung dieses amerikanischen Engagements in Europa ist, daß ein US-General im Ernstfall wirklich das Kriegsgeschehen im Nato-Abschnitt Europa-Mitte führt. Eben das aber will Charles de Gaulle ändern. Ob angesichts dieses französisch-amerikanischen Interessenkonflikts die Bundesregierung ihrem neuen Erbfreund in seinem gefährlichen Nato-Separatismus folgen wird, weiß der General bis heute nicht.
Nato-General Speidel (r.): Zur Verteidigung Münchens ein Bataillon aus Frankreich