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BESTATTUNGEN Stau auf dem letzten Weg

Seit der Streichung des Sterbegelds verzögern sich Beerdigungen. Weil Angehörige um die Kostenerstattung kämpfen, stapeln sich die Leichen in Kühlkabinen.
aus DER SPIEGEL 25/2004

Vier Bescheinigungen und ein Todesfall - Anne Schreiber, 69, hatte gehofft, ihr könne im Rathaus von Berlin-Neukölln schnell geholfen werden: Das Sozialamt sollte nach der Streichung des Sterbegelds die Kosten für die Beerdigung ihres im März verstorbenen Mannes übernehmen. Die mittellose Rentnerin hatte vom Totenschein bis zum Einkommensnachweis alle notwendigen Belege besorgt und stundenlang auf dem überfüllten Flur gewartet.

Doch die zuständige Sachbearbeiterin verweigerte kurz angebunden eine schnelle Hilfe: »Das Amt muss erst prüfen, ob nicht die Kinder Ihres Mannes aus erster Ehe die Kosten tragen können.« Die Berlinerin, seit 45 Jahren verheiratet, hat längst keinen Kontakt mehr zu diesen Kindern, die vor Jahrzehnten ausgewandert sind. Sie kennt nicht einmal deren Aufenthaltsort.

Während das Amt prüfte und prüfte, lag der Sarg mit Anne Schreibers Ehemann im Kühlkeller des Beerdigungsinstituts. Erst zwei Monate nach dessen Tod kam er unter die Erde - obwohl er nach der Berliner Bestattungsordnung nach zwei Tagen hätte beigesetzt werden können.

Die Gesundheitsreform soll mit der Streichung des Sterbegelds zwar die Krankenkassen um jährlich rund 400 Millionen Euro entlasten, hat aber gleichzeitig für mitunter chaotische Verhältnisse im Bestattungswesen gesorgt. Sind die Gestorbenen und deren Angehörige mittellos, müssen die Kommunen die Kosten übernehmen.

Da die Sozialämter aber zu prüfen haben, ob es nicht doch noch nahe Verwandte gibt, die über genügend finanzielle Reserven verfügen, entwickelt sich häufig ein unwürdiges Gezerre: Die Trauernden streiten mit den Behörden, die Bestatter weigern sich, die Beerdigung ohne Kostenübernahme vorzunehmen - die Folge ist ein Leichenstau in den Kühlräumen der Krankenhäuser, Leichenhallen und Krematorien. »Die Pietät«, klagt der Generalsekretär des Bundesverbands Deutscher Bestatter, Rolf Lichtner, »bleibt zunehmend auf der Strecke.«

In Freiburg musste im März eine mittellose Witwe sogar gegen die Stadt vor Gericht ziehen, damit ihr Gatte endlich seinen Frieden finden konnte. Das Verwaltungsgericht ordnete schließlich an, das Sozialamt habe die Kosten noch vor Abschluss seiner Prüfungen im Voraus zu zahlen.

Auch der Bestatter Wolfgang Averbeck in Münster muss Leichen über Wochen in seinen Kühlkabinen aufbewahren, weil es in den Ämtern immer nur heißt, man müsse erst noch die Erstattungspflicht prüfen. Averbeck: »In Wahrheit aber schieben sie sich die Leichen nur von einem Schreibtisch auf den anderen.« Selbst wenn das Ordnungs- oder das Gesundheitsamt das Sozialamt angewiesen habe, die Bestattung »endlich aus hygienischen Gründen stattfinden zu lassen«, habe er weiter zu hören bekommen: »Dann bleibt der eben liegen.«

Die zögerliche Haltung der Sozialämter hat einen schlichten Grund: Die letzte Ruhe ist in Deutschland nicht billig zu haben - und daran sind die Kommunen selbst nicht ganz unschuldig. Angesichts ihrer Finanznot haben sie die Gebühren für Grabstellen in extreme Höhen geschraubt. Selbst die billigste Beisetzung, eine Urne in einem anonymen Grab, kostet inzwischen rund 2000 Euro.

»Immer mehr Leute können Beerdigungen nicht mehr aus eigener Tasche bezahlen«, sagt der Freiburger Bestatter Karl-Heinz Müller. In Berlin muss schon etwa jede zehnte Beerdigung vom Sozialamt beglichen werden. Auch in Dresden und München steigt die Zahl kontinuierlich.

Deshalb hat ein skurril anmutender Leichen-Tourismus eingesetzt. Auf der Suche nach den günstigsten Verbrennungstarifen werden die Toten kreuz und quer durch die Republik gekarrt. Inzwischen führt der letzte Weg die Deutschen immer häufiger ins Ausland. Statt 2000 Euro wie daheim kostet der Tod in den Niederlanden, wenn die Asche auf parkähnlichen »Streuwiesen« verteilt wird, nur 800 Euro. Beim Berliner Berolina Sarg-Discount ist die Beisetzung im tschechischen Chomotov der Renner, alles inklusive für 888 Euro. Jede Woche wird ein Dutzend Leichen für den Transport ins Preisparadies vorbereitet.

»Die Beerdigungen degenerieren zur Entsorgung«, klagt Rolf-Peter Lange vom Berliner Traditionsbestatter Ahorn-Grieneisen. Seit Beginn der schrittweisen Kürzung des Sterbegelds hat Lange einen weiteren Trend ausgemacht, der ihn erschreckt: »Viele Berliner tauchen nach dem Tod ihres Angehörigen einfach unter, weil sie fürchten, die Kosten übernehmen zu müssen.«

Von den hundert Hauptstadttoten pro Tag müssen darum immer mehr zwangsbestattet werden. Auch in Hamburg, auf dem Friedhof Öjendorf, haben sich die traurigen Rituale in den letzten sechs Jahren mehr als verdoppelt: 1998 waren es noch 380 Fälle, im vergangenen Jahr schon 800. Ein paar Friedhofsmitarbeiter tragen mehrmals wöchentlich vier oder fünf hölzerne Transportkisten herbei, auf deren Deckel steht »ZB« - Zwangsbeisetzung.

Ein Ordensbruder spricht rasch noch ein Vaterunser. Dann dringt ein Erdbohrer sekundenschnell 80 Zentimeter unter die Grasnarbe, in der die Asche versenkt wird. Der Frater bekreuzigt sich. Bald wird die Stelle wieder zugewachsen sein.

Über das Leben vor Jahrtausenden, sagt Bestatter Lange, habe man viel durch die Öffnung der alten Grabstätten erfahren. Jetzt frage er sich manchmal, »was die Menschen denken, wenn sie in ein paar Jahrhunderten mal unsere kargen Gräber öffnen«. PETER WENSIERSKI

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