MEYER-SEVENICH Staunende Beamte
Ist Vorsitzende des Unterausschusses »Strafvollzug« war die niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete Maria Meyer-Sevenich, 58, seit langem gewohnt, daß spät abends bei ihr zu Haus noch das Telephon klingelte. Entlassene Häftlinge baten um Rat und Beistand.
Jüngst aber war zu später Stunde ein anderer, Ratsucher am Apparat: Niedersachsens Ministerpräsident Dr. Georg Diederichs fragte an, ob die Parteifreundin nicht Minister werden wolle. Die resolute Genossin zögerte keine Sekunde: »Nein, auf keinen Fall.«
Gleichwohl blieb es nicht bei dem Korb für den werbenden Landesvater. Nachdem zwei Ärzte der zuckerkranken Kandidatin das Plazet gegeben hatten, willigte sie ein, das (seit dem Tod von Dr. Curt Miehe im Juli verwaiste) Amt des niedersächsischen Ministers für Bundesangelegenheiten, für Vertriebene und Flüchtlinge zu übernehmen.
Das erste Interview mit der ersten niedersächsischen Ministerin strahlte das NDR-Funkhaus Hannover bereits zwei Tage vor der offiziellen Ernennung aus. Musikalisches Schlager-Beiwerk des Gesprächs: »Auf Engel schießt man nicht.«
Seit dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren lebt die katholische Sozialistin Maria Meyer-Sevenich einsam mit, über 5000 Büchern und dem irischen Setter Bambi, 9, in ihrem Eigenheim an der Silberfinderstraße im Örtchen Himmelsthür nahe dem Katholischen Bischofssitz Hildesheim.
Unter den Büchern, die das Haus bis zum Dachboden füllen und denen die ehemalige Studentin der Philosophie und Jurisprudenz jüngst eine psychologische Fachbibliothek angegliedert hat, steht August Bebels »Die Frau und der Sozialismus«. Dieses Buch hatte ihr vor Jahrzehnten im heiligen Köln der Vater, ein Schmiedemeister, zu lesen gegeben. Die Ministerin: »Damit fing eigentlich alles an.«
Schon vor der Sonderreifeprüfung für Begabte an der Universität Leipzig reihte sich das katholische Fräulein Sevenich in die Bündische Jugend ein und übte an Wandervogel-Lagerfeuern das Diskutieren. Vor der Wahl zwischen rechts und links entschied sich die militante Maria dann für das Übel, das ihr geringer erschien: 1932 trat sie, »mit ungeheuren Bedenken«, der KPD bei. Doch sie erinnert sich: »Es gab
einen fürchterlichen Krach, kaum daß ich acht Tage drin war.«
Dem Krach folgte die Flucht: Steckbrieflich gesucht, mußte die Jungkommunistin nach Hitlers Machtantritt erst in den Untergrund, dann in die Emigration. 1937 wechselte sie aus der Schweiz nach Frankreich, wurde dort bei Kriegsausbruch interniert und 1942 in die Heimat ausgeliefert. Ein Kasseler Sondergericht verurteilte sie zu zwei Jahren Zuchthaus; danach geriet die Verfolgte in die Hände der Darmstädter Gestapo, die sie gern im Konzentrationslager Ravensbrück untergebracht hätte - doch die Sevenich-Akten verbrannten rechtzeitig bei einem Bombenangriff.
Beinahe wäre auf die wenig Engelhafte doch noch geschossen worden; aber als die Amerikaner heranrollten, zerriß ein SD-Mann den schon ausgefertigten Erschießungsbefehl vor den Augen der Inhaftierten.
Mit dem Kommunismus, dessenthalben sie verfolgt worden war, hatte die Katholikin damals längst gebrochen; sie wandte sich wieder ihrem Glauben zu. Zusammen mit Heinrich von Brentano gründete sie in Hessen die CDU, für die sie fortan in den besetzten Gauen warb. Um vor dem Zorn ihrer alten Freunde sicher zu sein, ließ die abtrünnige KP -Genossin sich bei Kundgebungen im Ruhrgebiet von zwei Hundertschaften deutscher und britischer Polizei beschirmen.
Unkonventionell war auch ihre nächste politische Tat. Angeregt durch Gandhi, beschloß sie im Herbst des Hungerjahres. 1946, »das eigene Leben in einem asketischen Akt hinzuhalten« und so lange zu hungern, »bis mein Gewissen über den kommenden Winter ... beruhigt sein kann«. Dreißig Tage zehrte sie von nichts als ungesüßtem Pfefferminztee und einem Besuch ihres Parteichefs Konrad Adenauer.
Kaum wieder auf den Beinen, überwarf sie sich mit den Partei-Frommen in der CDU, denen sie vorwarf, »christlich« mit »antimarxistisch« zu verwechseln. Ihre dritte politische Heimat wurde die SPD, für die sie seit 1949 im niedersächsischen Landtag sitzt.
Vorwürfe wegen allzu häufigen Bekenntniswechsels weist die Wanderin zwischen den ideologischen Welten ab: »In meinem Inneren habe ich mich nie geändert. Ich habe immer nur eine Plattform gesucht.«
Weder an Mut noch an Mundwerk hat die stets schlicht gekleidete Ministerin es dabei fehlen lassen. Mit Verve focht sie zugleich für die Gemeinschaftsschule und für das Niedersachsen-Konkordat, dessen Gegner sie atheistischer Umtriebe zieh. Und als die Hildesheimer Katholiken einem Bergmann das kirchliche Begräbnis verweigerten, eilte sie zum Generalvikar und ranzte ihn an: »Wenn Sie brüllen, dann kann ich noch lauter.«
Ob sie brüllte, debattierte, Reden oder Referate hielt: Ein Manuskript benötigte sie nie. Denn: »Ich habe eine Art mathematisch-präziser Vorstellung in meinem Kopf. Das klappt fast immer.«
Trotz der Ängste ihres Ministerstabs will sie davon auch künftig nicht lassen. Maria Meyer-Sevenich: »Die werden staunen. Ich mag staunende Beamte gern.«
SPD-Ministerin Meyer-Sevenich*: Pfefferminz mit Adenauer
* Bei der Vereidigung am Mittwoch vorletzter Woche.