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RECHT / LEHRLINGE Steile Zähne

aus DER SPIEGEL 47/1970

Seit Jahren ist Friedrich Marquardt, 61, in Essen eine stadtbekannte Persönlichkeit. Der SPD-Landtagsabgeordnete Ist Innungsobermeister, gehört zum Vorstand der Kreishandwerkerschaft und zählt zur Spitze des Einzelhandelsverbands. Er arbeitet mit im städtischen Sparkassenrat, hat Sitz in der Handwerkskammer und ist Mitglied der Industrie- und Handelskammer.

Im Juli dieses Jahres aber sahen Essener Bürger au! 500 Plakaten ein Bild, auf dem einige ihren ehemaligen Ratsherrn anders erkannten -- als kahlköpfige, giftgrüne Schreckgestalt mit steilen Zähnen vor rotem Hintergrund. Mit diesem blutsaugenden Monstrum unter der Aufschrift »Stoppt den Lehrlings-Dracula!« warben damals Essener Lehrlinge für eine »Ausbeutungs-Fete«. Der Reinerlös der Veranstaltung mit Beat, Tanz und Kabarett (Eintritt für Lehrlinge vier Mark, für Lehrherren 400 Mark) sollte dazu beitragen, die Kosten für vorangegangene Prozesse zu decken -- vor allem gegen Marquardt.

Die Fete brachte der »Arbeitsgemeinschaft kaufmännischer und gewerblicher Lehrlinge« zwar 3000 Mark

* Bei der Verhandlung vor dem Essener Landgericht.

Gewinn, das Plakat aber neue gerichtliche Auseinandersetzungen ein.

Unternehmer Marquardt, Mitinhaber der Essener Radio- und Fernsehwerkstatt »Gerstner & Marquardt OHG«, verklagte Plakat-Designer Walter Kurowski, 31, wegen »Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts« auf 5000 Mark Schadenersatz. Außerdem stellte er gegen den Oberhausener Graphiker sowie drei Essener Berufsschullehrer, die er für die Auftraggeber hält, Strafantrag wegen Beleidigung.

Das »Dracula«-Verfahren ist das fünfte in einer Serie von Prozessen, die Marquardt gegen die Lehrlings-Gemeinschaft angestrengt hat. Die gerichtlichen Auseinandersetzungen begannen nach einem Protestmarsch von 150 Radio- und Fernsehtechniker-Lehrlingen am Nikolaustag vergangenen Jahres durch die Essener Innenstadt. Auf Transparenten prangerten die Demonstranten die »wichtigsten Mißstände« an, und auf Flugblättern nannten sie sieben »Firmen, die es besonders schlimm treiben«, beim Namen -- darunter »Gerstner & Marquardt OHG, Münchener Str, 48, Tel. 23 9745«.

Vier Firmen und Marquardt erhoben fünf Zivilklagen auf Unterlassung, Widerruf und Schmerzensgeld. Beklagter war jeweils der Berufsschullehrer Rolf Freitag, der presserechtlich für das Flugblatt verantwortlich war und hinter dem Marquardt den eigentlichen »Drahtzieher« vermutet.

Am 5. Juni dieses Jahres wurden fünf Urteile gefällt. Die Lehrlings-AG mußte zwar etliches widerrufen, doch der Nebeneffekt der öffentlichen Verhandlungen war ihr Genugtuung. Denn durch die Beweisaufnahme, in der rund 50 Lehrlinge zu Wort kamen, wurden die Ausbildungs-Mißstände gerichtlich protokolliert.

So stellte zum Beispiel die Dritte Zivilkammer fest, daß die Firma Marquardt

* mehrere Lehrlinge länger als ein Jahr kaum anders als In der Einbauwerkstatt beschäftigt hat;

* für die von Lehrlingen ohne Kontrolle oder Aufsieht durch Gesellen ausgeführten Arbeiten Stundenlöhne von 9,50 Mark und 12,50 Mark in Rechnung stellte;

* in einem Fall zwei Lehrlingen die Auslösung von jeweils neun Mark für Arbeiten außerhalb Essens nicht ausbezahlt, aber dennoch der Auftragsfirma berechnet hatte.

Zudem mußten Radio- und Fernsehlehrlinge im zweiten Lehrjahr bei Marquardt monatelang bloße Lagerarbeiten verrichten und gelegentlich sogar mauern, Fensterrahmen streichen und einmal auch einen Zaun ziehen. Dennoch verbot das Gericht Lehrer Freitag, den Sozialdemokraten Marquardt einen »Ausbeuter« zu nennen, und erkannte auf 2000 Mark Schmerzensgeld.

Insgesamt hat die Prozeßserie die Lehrlings-Gemeinschaft bislang bereits rund 17 000 Mark gekostet, und die Lehrlinge argwöhnen, vor allem Innungsobermeister Marquardt versuche, sie im Klagewege »finanziell zu ruinieren und damit mundtot zu machen«. Nur »dank der Solidarität der Bevölkerung« hätten sie bisher vermocht, sich »immer wieder von den Schlägen des Herrn Marquardt« zu erholen. Auf Ihr Sonderkonto gingen 15 767,48 Mark Spenden ein.

Die Konterschläge gegen Marquardt erteilten Lehrlings-Sympathisanten auf parteipolitischem Felde. Im Dezember vergangenen Jahres beantragte der Essener Diplomhandelslehrer und Jungsozialist Joachim Weiler, 28, die Einleitung eines Parteiordnungsverfahrens gegen den Landtagsabgeordneten. Der Antrag wurde abgelehnt. In diesem Frühjahr versuchten die Jungsozialisten, Gruppe Essen Süd-Ost, ebenfalls vergeblich, eine erneute Kandidatur des Lehrherrn für die Landtagswahl vom 14. Juni zu verhindern. Nun haben die Jungsozialisten beim SPD-Bezirksvorstand Niederrhein den Antrag gestellt, den Genossen Marquardt aus der SPD auszuschließen. Die Entscheidung dieser Parteiinstanz steht noch aus.

Die 6. Zivilkammer des Essener Landgerichts hingegen verkündete am Donnerstag vergangener Woche ihr Urteil. Der Oberhausener Graphiker und Folkwang-Preisträger Walter Kurowski muß an Marquardt 2000 Mark Schmerzensgeld zahlen.

Begründung: »Durch Augenschein hält es die Kammer für bewiesen, daß der »Lehrlings-Dracula die Züge Marquardts trägt.« Diese Darstellung bedeute trotz des grundgesetzlich verbrieften Rechts auf freie Meinungsäußerung eine »widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung«. 2000 statt der geforderten 5000 Mark hielten die Richter für ausreichenden Ehrersatz, weil die »Mängel in der Lehrlingsausbildung« gerichtsbekannt seien.

Über diese Mißstände will sich nun auch das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit informieren. Käte Strobel hat die Unterlagen über die Lehrlings-Prozesse angefordert.

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