TÜRKEI Stiefel putzen
Allah hat uns befohlen, den Kopf zu bedecken. Nur Gesicht, Füße und Hände dürfen zu sehen sein«, verkündete Sema Demir, Turkologiestudentin an der Istanbuler Universität, und drohte Konsequenzen an: »Deshalb ist es unsere religiöse Pflicht, ein Kopftuch zu tragen; wird uns das untersagt, dann werde ich die Hochschule verlassen.« Philosophiestudentin Hanife Kelesoglu sprang ihr bei: »Ich liebe Schule und Studium sehr, aber wenn der Turban verboten wird, muß ich gehen.«
Empört sind die jungen Türkinnen über eine Verordnung der Hochschulbehörde, die Anfang des Jahres Turbane Schleier und Kopftücher auf dem Gelände der 28 Universitäten und Hochschulen des Landes untersagte. Männliche Studenten dürfen nicht mit Vollbart auftreten, weil der als äußeres Zeichen islamischer Rechtgläubigkeit gilt.
Wer sich dem Verbot widersetzt, wird zunächst verwarnt, später von den Vorlesungen ausgeschlossen sowie von der Universität verwiesen.
Dem Turban-Erlaß liegt ein Urteil des obersten türkischen Verwaltungsgerichtes zugrunde, wonach solche Verhüllungen verfassungswidrig seien, weil sie sich gegen die weltliche Ordnung der Republik richteten.
Daß Schleier und Vollbärte in den Universitäten der Türkei keine Ausnahmen mehr darstellen, gab Staatspräsident Kenan Evren vor einer Rektorenkonferenz in der Provinzhauptstadt Adana zu: »Es gibt Fundamentalismus in der Türkei«, eine Bewegung, die dem Ex-General an der Staatsspitze »mindestens ebenso gefährlich wie Kommunismus und Faschismus für unsere laizistische Republik« erscheint.
Welches Ausmaß die Rückkehr religiösen Geistes in der zu 99 Prozent islamischen Türkei bereits angenommen hat, wurde Mitte Januar deutlich, als etwa 5000 Menschen nach dem Freitagsgebet in der Istanbuler Bayezit-Moschee mit Rufen wie »Für eine moslemische Türkei« durch die Straßen der Stadt zogen und den Führer der verbotenen fundamentalistischen Nationalen Heilspartei, Necmettin Erbakan, auf ihren Schultern trugen.
Die Forderung, den theokratischen Staat wiedereinzuführen, zielt auf das Fundament der modernen Türkei. Als General Mustafa Kemal, genannt Atatürk (Vater der Türken), sein Land aus der osmanischen Vergangenheit löste, um es der modernen Welt »aufzuschließen«, brach er radikal mit der Tradition: Er schaffte das Kalifat ab, trennte Staat und Religion, ersetzte die arabischen Schriftzeichen durch das lateinische Alphabet und erhob anstelle des urbanen Istanbul das damals dörfliche Ankara auf der anatolischen Hochebene zur Hauptstadt _(Am 16. Januar in Istanbul. )
- eine Kulturrevolution ohne Beispiel. Der radikalen Modernisierung fielen auch Schleier und Bärte zum Opfer. Das Tragen des traditionellen Fez oder Tarbusch, Pflicht aller Staatsbeamten, wurde verboten.
Seitdem fühlt sich die Armee als Wächter über das Erbe des Kameraden Atatürk. Wann immer sie Staat und Verfassung in Gefahr wähnte, ergriff sie die Macht und stellte die Ordnung wieder her, so wie sie von ihr verstanden wird.
Doch ausgerechnet die Militärs verhalfen der Islamisierung zum vielleicht entscheidenden Durchbruch, als sie 1982 einen Verfassungsartikel billigten, der zum ersten Mal seit Atatürk dem Staat wieder den Religionsunterricht in den Schulen des Landes übertrug.
Die bisher verdrängte und aufgestaute Religiosität brach sich rasch Bahn. Aus den zwei theologischen Fakultäten des Jahres 1980 sind acht geworden. Die Regierung des konservativen Ministerpräsidenten Turgut Özal will 1987 etwa 150 Millionen Mark für den Koranunterricht ausgeben. Seit Anfang des Jahres müssen auch christliche Kinder die islamischen Religionsstunden besuchen.
Sechs Jahrzehnte nach Atatürks Reformen stellt sich nun heraus, daß der Begründer der modernen Türkei die religiösen Bedürfnisse seines Volkes unterschätzt hat. Zwar vollzogen die Gebildeten rasch den geistigen Anschluß an Europa, doch die Masse des Volkes konnte ihnen nicht folgen.
In der von oben her säkularisierten Türkei entstand ein Vakuum, führte die in den ersten Jahren der Republik rigorose Ablehnung des angestammten islamischen Gedankengutes zu einer Identitätskrise, weil der Islam über Jahrhunderte ein wesentlicher Teil des türkischen Selbstverständnisses gewesen war. Dichtung und Folklore waren von der islamischen Umwelt geprägt. Die Musik blieb orientalisch, der Sittenkodex, vor allem auf dem Lande, islamisch.
Das Wiedererstarken des Islams in dem europäisch-asiatischen Land wird zudem von außen beschleunigt. Täglich tönt aus dem Osten die »Stimme des Iran« und ruft die türkischen Gläubigen »zum Kampf gegen Atatürk« auf.
Aus dem Westen heizt eine »schwarze Stimme aus Almanya«, so Istanbuler Zeitungen, die Emotionen weiter an. Von Köln aus verschickt der ausgebürgerte ehemalige Mufti von Adana, Cemalettin Kaplan, Tonbänder und Videokassetten
mit einem Appell zur religiösen Revolte: »Die Zeit ist reif, mit dem Kemalismus und den Kemalisten radikal aufzuräumen.«
Vergebens verlangte Staatspräsident Evren von Bonn die Auslieferung des Anheizers; er mußte sich belehren lassen, daß deutsches Recht dies nicht zulasse. Ministerpräsident Özal dagegen wollte von einem Auslieferungsantrag nichts wissen: »Wozu denn, den haben wir doch ausgebürgert. Der ist ja gar kein Türke mehr.«
Die Rolle des Regierungschefs in der Auseinandersetzung um Atatürks laizistisches Erbe ist zumindest zweifelhaft: Er bestreitet die Existenz einer islamischen Reaktion, obschon sie überall im Lande greifbar ist.
Der aus den Reihen der verbotenen islamischen Heilspartei stammende Özal ist praktizierender Moslem. Bei einem kürzlichen Besuch in der Provinz ließ er seine Begleitung an einer Moschee anhalten und verrichtete das obligatorische gemeinsame Freitagsgebet. Seine Frau und die mitreisenden Minister warteten derweil draußen in den Wagen.
Özals inzwischen entlassener Erziehungsminister Vehbi Dincerler verlangte offen, die Theorien von Charles Darwin über die Evolution des Menschen aus den Biologiebüchern des Landes zu entfernen, weil sie den Lehren des Koran widersprächen.
In den Schulen der Hauptstadt versuchen Lehrer im Koranunterricht, den Kindern einzubleuen, daß die Freundschaft zwischen Jungen und Mädchen eine Sünde sei, daß sie die Türen zum Paradies verschließe. Ministerialbeamte weigern sich in den Regierungsgebäuden Ankaras, mit einer Frau im Lift zu fahren. Die Fundamentalisten sehen dies ebenfalls als Sünde an.
Während des Fastenmonats Ramadan gibt es in zahlreichen Regierungskantinen tagsüber weder Essen noch Tee oder Kaffee. Für die Abgeordneten des türkischen Parlaments, die zu Atatürks Zeiten ihre rituellen Gebete eher versteckt im Keller abhalten mußten, soll nun im Garten eine eigene Moschee errichtet werden; das Geld ist bereits bewilligt.
Die Zahl der Moscheen im Lande hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr als verdreifacht, auf 72000. Über 600 Dörfer verfügen zwar nicht über ein Schulgebäude, haben aber eine eigene Moschee.
Die Ausbildung zum Imam und Freitagsprediger ist attraktiv wie nie zuvor. Im Jahre 1961 bereiteten sich nur 4200 Schüler an 19 Schulen auf den religiösen Beruf vor, 1985 waren es fast 229000 an 716 Schulen.
Selbst die Armee ist nicht sicher vor der islamischen Ansteckung. Vor Studenten der Universität Adana enthüllte Staatspräsident Evren kürzlich, von 813 Kadetten aus ärmeren Schichten hätten 96 wegen »ultrareligiöser Ansichten« wieder entlassen werden müssen.
Der Staatschef erklärte die Indoktrination mit dem in der Türkei weitverbreiteten »unglückseligen« Brauch armer Familien, intelligente Söhne in religiöse Schulen zu schicken, die neben Unterricht auch kostenlose Unterkunft bieten. Evrens Warnung: »Wenn das Feuer nicht rechtzeitig gelöscht wird, kann das ganze Haus in Brand geraten.«
Dieser Meinung sind mittlerweile auch die führenden Militärs des Landes. Ende Dezember versammelten sich im Armeeklub Ankaras die im Nationalen Sicherheitsrat der Türkei vertretenen Generale. Unter Vorsitz von Generalstabschef Necdet Ürug formulierten die in Zivilkleidung erschienenen Offiziere ein warnendes Schreiben an die Staatsführung: Die Streitkräfte seien über den Vormarsch der islamischen Fundamentalisten »äußerst beunruhigt« und erwarteten, daß die wachsende religiöse Reaktion rasch gestoppt werde.
Bei einem Skiausflug übermittelte Generalstabschef Ürug auch der Öffentlichkeit eine unmißverständliche Warnung: »In diesem Staat gibt es Gesetze, eine Regierung, eine Verfassung und ein Militär, das weiß, was es zu tun hat.«
Was die Generale unter ihrer Pflicht verstehen, haben sie 1960, 1971 und 1980 demonstriert: Sie haben den Zivilisten die Macht aus den Händen genommen und die Verfassung jeweils außer Kraft gesetzt.
In der politischen Kaste des Landes wird bereits über den nächsten Militärputsch spekuliert. Überall macht das Wort die Runde: »In den Kasernen werden zur Zeit wieder die Stiefel geputzt, damit der erneute Marsch zur Macht reibungslos verläuft.«
Am 16. Januar in Istanbul.