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Stasi Stolpes Verrat an der Kirche

Der ostdeutsche Theologe Ehrhart Neubert erhebt schwere Vorwürfe gegen das politische Spiel Manfred Stolpes im SED-Staat. Der ehemalige Kirchenjurist habe jahrelang für ihn verbindliches Kirchenrecht gebrochen. Neuberts Urteil: Stolpe war kein Mann der Stasi, aber deren bereitwilliges Instrument.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Monatelang unterzog sich der Ost-Berliner Kirchenmann Ehrhart Neubert, 53, einer quälenden Tortur. Der Theologe, zu DDR-Zeiten Pfarrer und Mitarbeiter beim DDR-Kirchenbund, sichtete fast 10 000 Blatt Materialien über Manfred Stolpe.

Akribisch durchforstete Neubert 5000 Seiten Stasi-Akten, las sich durch zahllose Kirchendokumente und durch sämtliche Unterlagen des Potsdamer Parlamentsausschusses, der seit nunmehr 18 Monaten die Stasi-Kontakte des früheren ostdeutschen Kirchenjuristen und jetzigen brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe untersucht.

Neubert ackerte nicht zum Zeitvertreib, sondern auf Geheiß der Bündnis-Landtagsfraktion, die Neubert als Berater in den Ausschuß geholt hatte.

Das Ergebnis hat Neubert zu einem 230 Seiten umfassenden Bericht verarbeitet, den seine Auftraggeber als eine Art Gegengutachten zum offiziellen Untersuchungsbericht des Ausschusses veröffentlichen wollen.

Die Bündnis-Abgeordneten, die sich als Interessenvertretung der ehemaligen ostdeutschen Dissidenten und Bürgerrechtler in der mit FDP und SPD gebildeten Potsdamer Ampel-Koalition verstehen, fürchten, der von dem PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky geführte Ausschuß werde sich seiner Aufgabe allenfalls oberflächlich entledigen.

Die Furcht ist berechtigt. Bislang hat der Stolpe-Untersuchungsausschuß sich vor allem in Parteiengezänk erschöpft. Der im vergangenen Oktober nach zwei Anläufen vorgelegte Zwischenbericht ließ erkennen, daß die Ausschußmehrheit Stolpe auf jeden Fall freisprechen möchte, egal, was die Akten hergeben.

Auch der Abschlußbericht, dessen Entwurf Ausschußvorsitzender Bisky am vergangenen Wochenende den Mitgliedern zukommen ließ, stellt dem Ministerpräsidenten praktisch einen Persilschein aus.

In dem vorläufigen Textentwurf heißt es schwammig und allgemein: »Manfred Stolpe trat seinen Gesprächspartnern offenbar als gleichrangiger Verhandlungspartner gegenüber.« Er habe »keine kirchenfremden oder der Kirche schadenden Verhandlungspositionen« vertreten. Das gelte auch, wenn Stolpe dabei »bewußt und gewollt Kontakte zur Stasi unterhielt« und »sich auch auf konspirativem Wege getroffen« sowie Geschenke entgegengenommen habe.

Bisky übernimmt in seinem Entwurf sogar unkritisch die Sprachregelung von Manfred Stolpe, mit der dieser stets seine Stasi-Verbindung gerechtfertigt hat. Stolpe, heißt es im Bisky-Entwurf, habe »Einfluß auf das Verhalten der SED, des MfS und anderer Stellen gewinnen« wollen und darum sich mit ihnen in deren Sprache unterhalten - zum Beispiel abfällige Ausdrücke für Oppositionelle benutzt.

»Schließlich«, rechtfertigt Bisky Stolpes Verhalten, »wollte er die Herrschenden zur Besonnenheit und zu einem anderweitigen Verhalten gegenüber den Betroffenen gewinnen.« Eine abenteuerliche Logik.

Neubert hat aus seinem peniblen Aktenstudium und den Zeugenaussagen vor dem Ausschuß ganz andere Erkenntnisse gezogen. Mit seinem Gegengutachten versucht er akribisch, das Halbdunkel aufzuhellen, in dem auch nach Dutzenden von Ausschußsitzungen Stolpes politische Vergangenheit liegt.

Theologe Neubert bescheinigt dem Ex-Kirchenjuristen zwar, es gebe keinerlei Anhaltspunkte, daß Stolpe je »einen Seitenwechsel vollzogen« habe, mithin ein Mann der Stasi gewesen sei.

Dennoch ist das Urteil des Pfarrers über den Kirchenpolitiker Stolpe vernichtend. Neubert kommt zu dem Schluß, daß Stolpe *___durch seine geheimen Dauerkontakte zum Ministerium für ____Staatssicherheit (MfS) jahrelang vorsätzlich für ihn ____verbindliches kirchliches Recht gebrochen und gegen den ____innerkirchlichen Codex verstoßen hat; *___sich über den Charakter und die Folgen seiner ____Zusammenarbeit mit der Stasi als nützlicher Handlanger ____bei der Überwachung und Disziplinierung der Kirche im ____klaren war; *___durch seine Zusammenarbeit mit dem MfS die ____DDR-Opposition im Umfeld der Kirche behindert und der ____SED geholfen hat, die DDR-Gesellschaft unter Kontrolle ____zu halten.

Neubert weiß, wovon er spricht: Er arbeitete jahrelang in der Theologischen Studienabteilung des DDR-Kirchenbundes in Ost-Berlin, er kennt die Situation der ostdeutschen Kirche im SED-Staat aus eigener Anschauung und Arbeit.

Stolpe, der seit 1982 Konsistorialpräsident der Berlin-Brandenburgischen Kirche und stellvertretender Vorsitzender des Kirchenbundes war, hat, so Neuberts Hauptvorwurf, »durch Art und Umfang seiner Kontakte mit der SED, dem Staatsapparat und vor allem durch das konspirative Handeln mit dem MfS den Zugriff des Staates in innerkirchlichen Angelegenheiten ermöglicht« - und damit seine Kirche verraten.

Zum Beispiel dadurch, daß er die von der DDR-Kirchenleitung wiederholt befohlene Verschwiegenheitspflicht über innerkirchliche Angelegenheiten nach Gusto gebrochen hat. Er erörterte, wie sich aus den Stasi-Unterlagen vielfach ergibt, über die Jahre immer wieder ungeniert personalpolitische Interna mit seinen Führungsoffizieren vom MfS - etwa als sich die Stasi 1981 darum sorgte, die Kirche könnte als Nachfolger für den bisherigen Kirchenbundvorsitzenden, den Berliner Bischof Albrecht Schönherr, einen dem MfS ungenehmen Geistlichen küren.

Als besonders krassen Fall nennt Neubert den des Pfarrers Johannes Meinel aus Grünheide bei Berlin. Meinel hatte sich bei der Stasi durch seine engen Kontakte zu dem in Grünheide unter Kuratel stehenden Regimekritiker Robert Havemann unbeliebt gemacht. Das MfS verlangte Meinels Entfernung aus Grünheide.

Stolpes Rolle im Fall Meinel ist in den zum Teil bislang unbekannten Akten bestens dokumentiert.

In einem Treffen mit seinem Führungsoffizier Klaus Roßberg gibt Stolpe, der von der Kirchenabteilung XX/4 des MfS als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) »Sekretär« geführt wurde, kirchenjuristische Tips, wie die Stasi eine Versetzung Meinels durchsetzen könne.

Da es keine normalen Gründe für eine Versetzung entsprechend dem Kirchenrecht gebe, etwa Vernachlässigung der Amtspflicht oder moralische Gefährdung, macht der IM »Sekretär« laut Roßberg den trickreichen Vorschlag, der Staat solle durch »energischen« Druck auf Meinels Vorgesetzte bewirken, daß diese den Pfarrer wegen seines Einsatzes für Havemann verwarnen oder sein Verhalten mißbilligen.

Erst »eine mehrmalige seelsorgerliche Mahnung schafft eine kirchenrechtlichrelevante Situation«, zitiert Roßberg seinen Gesprächspartner Stolpe in einem Treffbericht vom 27. Juli 1979.

Tatsächlich wurde Meinels Chef Bischof Schönherr, der von Stolpes Stasi-Verbindungen nichts wußte, von staatlichen Stellen unter Druck gesetzt. Meinel erhielt den Rat, Grünheide zu verlassen, die Kirchenleitung beschloß seine Versetzung. Schließlich durfte der Pfarrer doch bleiben, weil seine neue Gemeinde keine Wohnung für ihn fand und sich die Aufregung inzwischen gelegt hatte.

»In diesem und in anderen Fällen«, kritisiert Neuber, »hat Stolpe die schädlichen Folgen seiner Treffen klar übersehen und sein Handeln in Frage stellen können.«

Stolpe, so Neubert weiter, »verletzte nicht nur innerkirchliche Normen, sondern hat einer politischen Kultur geschadet, die in den achtziger Jahren bis zur Wende ja gerade versuchte, durch Herstellen von Öffentlichkeit den verschwiemelten, geheimen Obrigkeitsstaat aufzuweichen«.

Eine »Generalvollmacht« der DDR-Bischöfe für seine Kungeleien mit der Stasi, auf die sich Stolpe beruft, hat es laut Neubert, der sämtliche Kirchenbeschlüsse dazu analysiert hat, nie gegeben. Stolpe habe lediglich freie Hand gehabt, »besondere humanitäre Anliegen« mit SED und Stasi zu verhandeln.

Konspirative Gespräche über innerkirchliche Vorgänge seien durch die Vollmacht keinesfalls gedeckt gewesen. Neubert: »Stolpes kirchliche Funktion stellte ihm die Wahl der Mittel und Ziele nicht vollständig frei.«

Der Mecklenburger Bischof Christoph Stier war vor dem Untersuchungsausschuß im Juni letzten Jahres deutlich geworden: »Die Art, solche Gespräche zu führen, wäre von einer Mehrheit in unserer Kirche nicht toleriert worden.«

Neubert gesteht Stolpe zu, daß er seine Stasi-Kontakte im Interesse der Kirche hielt und ausbaute. Stolpe, so Neubert, sei nicht »wissentlich und willentlich Mitglied/Mitarbeiter des MfS gewesen«. Aber er »war der Arbeit dieses Organs dienlich«.

Neuberts Analyse: »Stolpe ist in Abhängigkeiten geraten, die er nicht überschauen konnte, obwohl er selbst glaubte, der Handelnde zu sein.«

Ein weiterer zentraler Vorwurf Neuberts gegen den Kirchenpolitiker Stolpe betrifft dessen Geheimdiplomatie. Die Taktik geheimer Kontakte und Absprachen, im Stasi-Jargon »Konspiration«, gehörte zu den Essentials der MfS-Arbeit.

Neubert: »Indem Stolpe die Konspiration als Strukturelement des Staat-Kirche-Verhältnisses akzeptiert und praktiziert hat, verletzte er nicht nur innerkirchliche Normen, sondern hat einer politischen Kultur geschadet, die über Nützlichkeitserwägungen hinaus verlangt, daß politisches Handeln ethisch begründet werden muß.«

Die Bischöfe hatten die Taktik des MfS sehr wohl durchschaut: Sie verpflichteten ihre Pfarrer und Mitarbeiter immer wieder, Gespräche mit der Stasi sofort weiterzumelden und damit zu »dekonspirieren«. Auf diese Weise haben viele Kirchenleute die Anwerbungsversuche des MfS unterlaufen.

Daß Stolpe über lange Jahre alles getan hat, seine Stasi-Kontakte vor seinen kirchlichen Oberen und vor Kirchengremien zu verbergen - und sie so jeder Kontrolle zu entziehen -, dafür gibt es durch Zeugenaussagen und in den Akten vielfältige Belege.

Stolpe spielte falsch. Die Kirchenoberen beschwerten sich, wie aus Neuberts Unterlagen hervorgeht, wiederholt beim Staatssekretariat für Kirchenfragen darüber, daß Stasi-Offiziere heimlich mit Kirchenleuten redeten und so Druck auf Entscheidungen auszuüben suchten. Nie gab der Kirchenmann Stolpe, der an der Beratung über die Beschwerden häufig selbst beteiligt war und den Beschwerdetext mitverfaßte, zu erkennen, daß er selbst Kircheninterna an die Stasi weiterreichte.

Stolpe hat die Konspiration vor dem Ausschuß mit dem Argument verteidigt: »Wer also mit denen reden will . . . muß sich auf diese Arbeitsweise einlassen, muß also das Versteckspielen, das dazugehört, mit in Kauf nehmen. Dies ist nach meinem Verständnis mehr eine technische Frage.«

In Wahrheit ermöglichte die Ausschaltung kirchlicher Entscheidungsgremien und der Bischöfe bei Stolpes MfS-Kontakten der Stasi Eingriffe in die Politik der Kirche, die ihr ohne Stolpe kaum gelungen wären.

»Die Nichtöffentlichkeit, der Ausschluß von Öffentlichkeit«, hält Neubert dagegen, »ist keine läppische technische Frage. Es war eines der entscheidenden Politikmittel des SED-Staates zur Beherrschung von Kirche und Gesellschaft.« Stolpes Geheimdiplomatie »sicherte nur ihm selbst einen Vorsprung an Kompetenz und erhöhte die Abhängigkeit seiner Umgebung von Stolpes Ratschlägen und Entscheidungen«.

Daß Stolpe vom MfS selbst mit gewissem Mißtrauen beobachtet worden ist, entlastet ihn nach Neuberts Überzeugung nicht. Die Überwachung der »Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit« von Inoffiziellen Mitarbeitern - von Wanzen bis zur Postkontrolle - gehörte zum üblichen MfS-Repertoire.

Die Stasi hatte in der evangelischen Kirche viele IM plaziert, die meist nichts voneinander wußten und sich gegenseitig überwachten. Der Kirchenanwalt Wolfgang Schnur, unter dem Decknamen »Torsten« ein eindeutiger Stasi-Täter, zum Beispiel lieferte Berichte über Stolpe, andere IM bespitzelten »Torsten«.

Gutachter Neubert widerlegt auch Stolpes Behauptung, er habe für die Kirche durch seine Mauscheleien mit der Stasi Freiräume geschaffen. Neubert hat schon in den achtziger Jahren in der Theologischen Studienabteilung des Kirchenbundes die Entwicklung von politischen Freiräumen in den DDR-Kirchen untersucht. Sie wurden, so seine Erkenntnis, in keinem Fall juristisch oder diplomatisch durch Kirchenobere vorbereitet und gesichert.

Diese Freiräume seien vielmehr durch engagierte Gemeinden, kritische Synodale und Theologen, oppositionelle Gruppen und renitente Künstler dem Regime abgetrotzt worden.

Stolpe habe, sagt Neubert, genau das Gegenteil betrieben. »Er versuchte«, wie aus zahlreichen Unterlagen hervorgehe, »in jedem offenen Konflikt die Lage zu beruhigen« - im Interesse des Regimes und in Stolpes Eigeninteresse: Durch seine permanente Vermittlungstätigkeit machte er sich fast unentbehrlich.

Stolpe habe, so Neuberts Resümee, seine Geheimniskrämerei schließlich so verinnerlicht, daß er sie noch praktizierte, als das SED-Regime längst in Auflösung begriffen war.

In einem Vermerk der Stasi vom 24. November 1989 an das Politbüro heißt es über eine bevorstehende interne Sitzung von Oppositionsgruppen: »Durch einen Telefonanruf von Konsistorialpräsident Stolpe . . . wurde bekannt, daß sich morgen in kirchlichen Räumen die ,bekannten Gruppen und Initiativen' (Stolpe) treffen, um sich ihrerseits auf den Runden Tisch vorzubereiten.«

»Dieser Vermerk«, so Neubert, »dokumentiert: Stolpe hielt sich für unersetzlich.« Y

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