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Presse Stummfilm für Blinde

Erstmals erscheint in Deutschland ein Magazin, das ausschließlich Exklusivinformationen druckt und selbst Halbwahrheiten meidet.
aus DER SPIEGEL 9/1993

Ohne Wehmut erinnert sich Joachim Steinkamp, 27, an die Ausbildung zum Speditionskaufmann in seiner Geburtsstadt Herford: »Mit dem Schreiben von Frachtbriefen war meine Phantasie ganz und gar nicht ausgelastet.« Steinkamp beschloß, Journalist zu werden.

Doch auch als Volontär beim Lokalblatt konnte der junge Kreative »nie so schreiben, wie ich wollte«. Steinkamp: »Die Fakten standen immer dagegen.«

Zu seiner endgültigen journalistischen Bestimmung fand er erst, als er bereits 26 Jahre alt war. Letzten Sommer entdeckte Steinkamp an einem Kiosk, versteckt zwischen Hunderten ganz gewöhnlicher Titel, »Europas wundersamste Zeitschrift": die Neue Spezial.

Der kurz zuvor auf den deutschen Markt verpflanzte Ableger eines holländischen Boulevardblattes (Einzelpreis: 3,50 Mark) veröffentlicht - alter Journalistentraum - ausschließlich Exklusivberichte und sonst gar nichts. »Wollüstige Frau hatte Sex mit 51 Priestern!«, »Mann bringt Baby zur Welt!«, »Sensationell! Gratis-Bordell in Ostdeutschland!« - kaum eine andere Zeitschrift in der Bundesrepublik würde es wagen, mit solchen Schlagzeilen zu erscheinen.

Steinkamp kaufte ein Exemplar, blätterte darin und wußte: »Das ist mein Blatt.« Spontan bewarb sich der Pfiffikus beim niederländischen De Nieuwe Amsterdammer BV Verlag - und wurde prompt angeheuert, als Chefredakteur.

So kam es, daß Steinkamp nun für das bizarrste Presse-Produkt der Republik verantwortlich ist. Nummer für Nummer leistet das Blatt Pionierarbeit.

Als einzige deutsche Zeitschrift zeigt die Neue Spezial keinerlei Skrupel, gleich auf der Titelseite »schockierende Zahlen« aus dem Sex-Leben der Nation zu veröffentlichen: »38 % aller Deutschen täuschen den Orgasmus beim Onanieren nur vor!«

Auch den »Schock für die Mineralölindustrie - Lingener Landwirt erfindet Güllemotor!« hat das Blatt exklusiv, ebenso den Bericht über erfolgreiches Engagement von Lärmgegnern: »Flughafen Berlin-Tempelhof schon bald nur noch zum Landen zugelassen!«

Jede Meldung ein Knüller, keine Schlagzeile ohne Ausrufezeichen. Leseproben aus den letzten Monaten: _____« Gelehrte schaffen Wellensittich, der unter Wasser » _____« leben kann! » _____« Holländisches Kleinkind spricht nur Ugandisch! » _____« Michael Jackson & La Toya Jackson - in Wirklichkeit ein- » _____« und dieselbe Person! » _____« Russen schossen Ufo ab! » _____« Seit meiner Brustvergrößerung leuchten meine Brüste wie » _____« Autoscheinwerfer! » _____« Elvis hat geheiratet! »

Schön für den Verlag: Weder der Wellensittich noch das Kleinkind, weder die Russen noch die Ufo-Besatzung, weder Elvis noch Michael Jackson verlangten eine Gegendarstellung, auch nicht die - mit einem fiktiven Namen getarnte - Frau mit dem Strahlebusen.

Vorbilder hat Steinkamps Blatt ausschließlich im Ausland. In den USA zum Beispiel erzielen die Weekly World News (WWN) mit schier unglaublichen Berichten aus der Welt des Absurden, Anstößigen und Abartigen angeblich Auflagen bis zu 800 000 Exemplaren.

Dabei ist ein WWN-Interview mit »Adolf Hitlers geheimem Sohn Werner Schmedt« ("Mein Vater konnte ein Kilo Schokolade an einem Nachmittag essen") gar nicht mal weniger seriös als etwa Konrad Kujaus Hitler-Tagebücher. Und WWN-Artikel wie der über die Hausfrau Harriet Lasky, die seit 1960 denselben Kaugummi kaut ("Er schmeckt wie am ersten Tag"), erreichen bisweilen die Brillanz deutscher Bild-Schlagzeilen.

Ob ein Mann behauptet, seine Frau sei mit dem Yeti durchgebrannt; ob ein Ehepaar aus Honduras klagt, Außerirdische hätten sein Baby geklaut; ob ein Hobbyforscher beweist, daß die Arche Noah ein U-Boot war - von den Redakteuren der WWN wird grundsätzlich nichts totrecherchiert. Genauso will es Steinkamp halten, der von den WWN auf Lizenzbasis »regelmäßig Texte und Fotos« übernimmt.

»Die Leute lechzen geradezu nach Wundern«, erklärt sich der Chefredakteur das Leserinteresse an der Neuen Spezial. Die verkaufte Auflage ist unter seiner Ägide, immerhin, von 22 000 auf 28 000 gestiegen. Grund sei vor allem, mutmaßt Steinkamp, daß sein Blatt jenes urmenschliche »Bedürfnis nach Märchenhaftem« befriedige, das einst die Priester und Bänkelsänger ebenso wie der Baron von Münchhausen oder die Oma am Herdfeuer bedient haben, das aber heute von der Presse schmählich mißachtet werde.

Blättern des »sogenannten seriösen Journalismus« wirft Steinkamp vor, daß sie jede Information »checken und doppelt checken« - aus »Faktenwahn« und »Entenparanoia«. Auf diese Weise sei aus der deutschen Presse leider »das Wunderbare rausrationalisiert« worden.

Steinkamp hingegen ("Wir checken nichts") druckt alles, je absurder, desto lieber; nach Möglichkeit meidet er selbst Halbwahrheiten. Die Meldung »800jähriger Mann stirbt an Aids« wird ebensowenig unterdrückt wie die Nachricht »Negerküsse steigern die Potenz« oder der Artikel über den ersten »Stummfilm für Blinde«.

Spezialisten in Steinkamps Fotoredaktion sorgen für die optischen Belege. Exklusivbilder illustrieren Exklusivberichte wie »Frau hat drittes Auge! Im Hinterkopf!«, »Skelette von Adam und Eva gefunden!« oder »Junge mit Schwanz verblüfft die Wissenschaft!« - »wenn er sich freut, wedelt er«.

Daß manch einer allen Ernstes an das glaubt, was da schwarz auf weiß zu lesen ist, erfährt Steinkamp Woche für Woche. Da rufen empörte Tierfreunde an, wenn die Neue Spezial einen Mann zeigt, »der Wellensittiche züchtet, um sie aufzuessen« ("mit ein bißchen Worcestersauce"). Ostdeutsche gieren nach der Adresse des ersten »Gratis-Bordells«. Und eine »ältere Dame aus Leipzig«, deren Schwester gerade gestorben ist, äußert sich am Telefon »sehr, sehr entsetzt« (Steinkamp) über einen Artikel mit der Überschrift »Ex-Priester enthüllt: Der Himmel ist voll«.

In diesem Fall zeigte der Blattmacher Erbarmen mit der armen Frau. Er versicherte der schluchzenden Anruferin, er sei ausnahmsweise »einer Ente aufgesessen«. In die nächste Ausgabe werde er eine Richtigstellung einrücken lassen - »Ex-Priester irrte sich: Im Himmel sind noch 84 Plätze frei«.

Neben denen, »die jede Woche fassungslos lesen, was es so alles gibt auf der Welt«, greift laut Steinkamp allerdings noch eine zweite Käufergruppe zur Neuen Spezial: Leser, die das Blatt für eine »Satire auf den bestehenden Journalismus« halten oder sich »daran aufgeilen, daß es tatsächlich Leute gibt, die so dumm sind, so was zu glauben«.

Diese »intellektuellen Käufer« hielten sich, meint der Chefredakteur, allesamt für »Ausnahmeleser«. Doch sie irren, sagt Steinkamp: »Die sind eindeutig in der Mehrheit.«

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