Zum zweitenmal innerhalb von vier Jahren verflüchtigt sich ein Kanzler, ohne es zu merken. Und wieder, wie zu Adenauers Spätzeiten, gibt es keinen Nachfolger, dem zuzutrauen wäre, daß er das Stundenglas der verrinnenden demokratischen Substanz umkehrte. Keine Regierung, die solchen Namen verdient, seit 1959, keine Regierung in Aussicht: Dies das Fazit einer nun siebzehn Jahre alten Staatsgründung.
Keine Institution, über deren Ansehen noch in der Reserve verfügt werden könnte. Keine Reformen - des Föderalismus, des Etatwesens, des Erziehungssystems, der Parteien selbst -, die noch irgend jemand für möglich hielte; kein Mann, dem Integrität und Können gleichermaßen zu bescheinigen wären - hat all das so kommen müssen?
Die Beschäftige Bundeshauptstadt jongliert mit Namen und Allensbacher Prozenten. Aber vielleicht waren die Politiker, die sich 1949 zur Gründung des westdeutschen Staates zusammenfanden, nicht unfähiger als andere Politiker auch? Vielleicht sind sie abgewetzt worden, weil man sie hieß, auf Sand zu bauen, Mörtel ohne Wasser zu mischen und fünf durchweg für eine gerade Zahl zu halten?
Die Fundamente der Bundesrepublik sind so solide wie der Kölner Stadthaushalt vom Jahre 1932. Und kein Halten wird sein, wenn die Berufspolitiker sich der pochenden Erkenntnis weiterhin versperren, daß neu angefangen werden muß, diesmal ehrlich, diesmal bescheiden, diesmal ohne Selbstbetrug.
Der Staat Bundesrepublik muß erst noch geschaffen werden. Wo Richter sich ihr Gehalt durch Einstweilige Verfügung selbst erhöhen, wo der Beamten-Konvent den Bundeskanzler anpöbelt, wo Generale ihren Oberbefehlshaber beschimpfen und umgekehrt, da randalieren auch die Gymnasiasten gegen den Straßenbahntarif, und der Staat ist, wie Böll ihm nachrühmt, nicht vorhanden.
Man war unsolide, man hat sich übernommen.
Moralisch, indem man Hitlers Verbrechen nicht in Rechnung setzen wollte.
Politisch, indem man dem Kreuzzug gegen die Sowjets voranlief.
Militärisch, indem man sich der klassischen Machtpolitik verschrieb.
Ökonomisch, indem man gab, was man nicht hatte. Fünf mußte immer gerade sein.
Wo der Staat identisch ist mit einer Partei, und diese Partei mit einem Mann, da fühlt sich die Opposition als bedeutungslose Anti-Claque, nicht berufen, eigene Vorstellungen durchzusetzen. Wo mit der Macht nicht pingelig umgegangen wird, wo in Verfassungstexte ihr strikter Gegen-Sinn hineininterpretiert wird, bleiben die Institutionen ohne Wurzel.
Auf fünfzig Jahre sollte die von der DDR getrennte Bundesrepublik unkündbar dem gegen die Sowjet-Union gerichteten EVG-Bündnis integriert werden: Als das Bundesverfassungsgericht in den Geruch geriet, das Arrangement für verfassungswidrig zu halten, bewog der Bundeskanzler den Bundespräsidenten, sein Ersuchen um ein Gutachten zurückzuziehen, da man »Äpfel und nicht Birnen« bestellt habe; dies packende Bild bringt Adenauer selbst in seinem zweiten Memoirenband.
Daß eine Politik zur Wiedervereinigung neben einer Politik der atomaren Gleichberechtigung Platz habe, daß Schlesien und Ostpreußen nicht verloren seien, der Bevölkerung, wurde es weisgemacht.
Daß windige Rüstungsgeschäfte durch Schecks für die Propaganda der CDU (und für deren Chef-Propagandisten) wettgemacht werden könnten, daß Korruptions-Listen im Schoß der Regierung zu verschwinden hätten, scheint noch heute manchem Altvorderen und manchem Jungmann der CDU normal. Daß ein parlamentarischer Staat unerschüttert bliebe, wenn der Kanzler seine eigene Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten erst anmelde, dann vom Tisch wische, wollten CDU und CSU glauben machen. Über die SPIEGEL-Affäre noch ein Wort zu verlieren wird sich künftig erübrigen. Sie und die Bundeswehrkrise und die Haushalts-Verschluderung müssen als Merkzeichen eines gar nicht mehr schleichenden Niedergangs tragisch genommen werden.
Wohl, die anderen Parteier tragen einen Teil der Verantwortung, wie auch die sonstigen öffentlichen Institutionen, etwa die Presse. Aber es hieße den Tag zur Nacht machen, wollte man sich verhehlen, daß die Krise von Staat, Demokratie und Parlamentarismus vor allem eine der staatsbegründenden Partei ist.
Sie ist ihren eigenen Wunsch- und Wahnvorstellungen zum Opfer gefallen. Keinen Staatsmann dieser Welt, keine Interessenlage und keine gesellschaftliche Entwicklung- vermag sie ohne die Dunkelbrille selbstfabrizierter Euphorie und Enttäuschung zu sehen. Wie sie in der Außenpolitik keine Prioritäten wahrhaben will, so auch nicht in Wirtschaft und Finanzen. Nicht wählen zu müssen, ist ihr mit religiöser Inbrunst verfolgtes Prinzip.
So wundert man sich denn auch nicht, daß die Partei als Kanzlerkandidaten einen professionellen Glattmacher in petto hat, der für das Amt keine andere Eigenschaft mitbringt als die Wahrscheinlichkeit, daß er nichts mitbringt. Und einen Finanz-Wundermann, dessen glänzendste Begabung seine, im Guten wie im Schlechten, Fähigkeit zu umfärberischer Demagogie ist ("Keine Liste von Treviranus").
Die anderen Parteien haben wohl wenig Wahl. Findet die CDU/CSU nicht zu sachlichen Vorstellungen, denen eine Bundestagsmehrheit im Jahre 1966/1967 zustimmen kann, so muß sie mit dem von ihr gestellten Kanzler aushalten, bis er selbst zurücktritt oder den Bundestag im Verein mit dem Bundespräsidenten auflösen läßt.