CDU Stunde noch nicht da
Ein neuer Barzel präsentierte sich den Bonner Christdemokraten. Überrascht registrierte die Unions-Fraktion, wie schnell sich ihr Vorsitzender einer neuen Lage anpassen kann.
Zwei Tage nach dem unerwartet guten Abschneiden der Freien Demokraten bei der Hessenwahl verleugnete Rainer Barzel, was er vor der Wahl mit aller Macht angestrebt hatte: durch weitere FDP-Überläufer alsbald den Machtwechsel in Bonn herbeizuführen und selbst Kanzler zu werden.
Der Oppositionschef am Dienstag letzter Woche vor der CDU/CSU-Fraktion: »Liebe Freunde, seit September bin ich es immer wieder gewesen, der vor Euphorie gewarnt hat. Wir müssen ruhig und mit Geduld auf den Tag warten, an dem die Regierung aus SPD und FDP am Ende ist.«
Den Kollegen teilte der Kanzleraspirant auch mit, welchen Termin er nun im Auge hatte: Spätestens bis Ostern sei mit dem Sturz des Brandt/Scheel-Kabinetts zu rechnen. Bis dahin werde erkennbar sein, daß die Regierung außenpolitisch nur Scheinerfolge und innenpolitisch etliche Schlappen erlitten habe. Prophet Barzel: »Die Krise dieser Regierung ist In sich selbst programmiert.«
Mit dieser These vom Zerfall der sozialliberalen Koalition Im Frühjahr nächsten Jahres nach den Wahlen in Bayern, Berlin, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz will Barzel die bislang auf ihn eingeschworene Gefolgschaft bei der Stange halten. Der ehrgeizige Parlamentarier weiß, daß er nur so lange eine klare Chance auf die Kanzlerkandidatur seiner Partei hat, wie sein Rivale Helmut Kohl aus Mainz noch nicht CDU-Chef geworden ist; das aber kann auf dem Parteitag im Herbst nächsten Jahres passieren.
Wie sehr für ihn die Zeit drängt, hatte Barzel vor einem halben Jahr noch nicht erkannt. Damals hatte er sich auf einen langen Marsch eingestellt: »Wir müssen uns auf viermal 365 Tage und Nächte Opposition einrichten.« Drei Monate später wollte er den Machtwechsel schon riskieren, wenn mindestens zwölf Freidemokraten zur CDU überliefen oder eine eigene Gruppe bildeten.
Anfang Oktober schließlich war Barzel soweit, Kanzler um jeden Preis werden zu wollen, selbst mit nur einer Stimme Mehrheit. Diese Vorstellung freilich schreckte die anderen Parteioberen. CDU-Generalsekretär Bruno Heck warnte: »Wir müssen erst für ausreichende Mehrheit sorgen, sonst wird das ein Fiasko.«
Auch bei den Landesverbänden mehrten sich die Bedenken gegen Übereilung. Der hessische CDU-Vorsitzende Alfred Dregger, selbst immer parat, in Bonn »eine Aufgabe zu übernehmen«, forderte »weiteres Wachstum« seiner Partei, »bevor im Bund wieder regiert« werden könne.
Bereits vor der Hessenwahl hatte auch Barzel begriffen, daß sein ungeduldiges Verlangen nach der Kanzler-Chance ihm in der Partei Schaden eintrug. Es mochte noch hingehen, daß sein ärgster Rivale um die Kanzlerkandidatur, Ministerpräsident Helmut Kohl, öffentlich seine »Bedenken gegen allzu raschen Machtwechsel« äußerte. Aber auch die Fraktionskollegen Richard Freiherr von Weizsäcker und Hans Dichgans rügten Barzels lautstark vorgebrachte Polemik gegen die Ostpolitik der Regierung, und aus der Parteiorganisation signalisierten Vertrauensleute Unbehagen an dem überfreundlichen Empfang, den Barzel den FDP-Überläufern Erich Mende, Siegfried Zoglmann und Heinz Starke bereitet hatte.
Nur Franz Josef Strauß und seine CSU blieben unerschütterlich an Barzels Seite. Die Allianz war auf dem Münchner CSU-Parteitag im April dieses Jahres durch ein Frühstückskartell besiegelt worden: Strauß sicherte Barzel die CSU-Stimmen bei der Wahl des Kanzler-Kandidaten in der Fraktion zu; Barzel verpflichtete sich, Strauß als Vizekanzler und Superminister für Wirtschaft und Finanzen in sein Kabinett aufzunehmen.
Noch in der Woche vor der Hessenwahl sann Franz Josef Strauß über die Mitglieder einer neuen Unionsregierung nach. Vor CSU-Spezis erläuterte Strauß, wer mit ihm regieren solle: Ex-Ernährungsminister Hermann Höcherl als Verkehrsminister, Manfred Wörner von der CDU als Verteidigungsminister, der von Affären verfolgte Friedrich Zimmermann, derzeit Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Verteidigung, als Wörners CSU-Staatssekretär.
Als der Mainzer die hessischen Wahlergebnisse erfuhr, fühlte er sich bestätigt: »Also, die Stunde ist noch nicht da. Jetzt haben wir Zeit.«