Titel Sturm der Empörung
Hubschrauber über Peking - das ist eine völlig neue Sache. Der Luftraum wird gewöhnlich gesperrt, damit niemand von oben die Große Halle des Volkes oder die Regierungszentrale Zhongnanhai angreifen kann. Doch am Freitag beginnen die 29. Olympischen Spiele der Neuzeit, und nichts, aber auch gar nichts darf da schiefgehen. Deshalb üben die Militärs, Staatsgäste per Helikopter zu transportieren. Außerdem können sie von hoch oben besser beobachten, was in den Straßen passiert.
Sie sehen ein neues Peking, ein blitzsauberes, ein ordentliches: eine Metropole im Sonntagsgewand. Arbeiter pflanzen die letzten von 40 Millionen Blumen an Straßen und Plätzen ein, Volkstanzgruppen üben noch einmal den Fächertanz, damit die Gäste aus aller Welt sogar an Verkehrsknotenpunkten die chinesische Kultur kennenlernen.
Ohne Zweifel, Peking ist blendend vorbereitet, die Welt kann kommen. Die neue Großmacht will sich als Modell für schnelles Wachstum und Modernität präsentieren, mit Politikern an der Spitze, die nichts anderes als Frieden und Wohlstand im Sinn haben, wie Staats- und Parteichef Hu Jintao am vergangenen Freitag verkündete. Erstmals in seiner gut fünfjährigen Amtszeit stellte er sich in Peking ausländischen Journalisten.
Auch die 1,3 Milliarden Chinesen sollen sehen und staunen, wozu ihre KP fähig ist, was sie erschaffen kann. Zur Eröffnungsfeier erwartet sie Yasuo Fukuda, den freundlichen Premier des historischen Erzfeindes Japan, sowie den Russen Wladimir Putin, mit dessen Land sie sich kurz vor den Spielen über den Grenzverlauf am Amur einigte, den Franzosen Nicolas Sarkozy, der lange geschwankt hat, ob er wegen Tibet überhaupt kommen solle, und insbesondere den Amerikaner George W. Bush, der wohl zum Dank für Chinas Hilfe bei der nuklearen Abrüstung Nordkoreas erscheint.
Die KP hat nicht nur die Hauptstadt, sondern dem ganzen Land einen Hausputz verordnet. Fassaden wurden gestrichen, Straßen erweitert, Baustellen hinter riesigen Transparenten versteckt. In Peking und Umgebung müssen Hunderte Fabriken ihre Tore vorübergehend schließen oder Filter in die Schlote einbauen. Die Hälfte aller drei Millionen Hauptstadt-Autos darf nicht fahren. Sollte sich die Luftqualität dennoch nicht deutlich verbessern, so will die Regierung in letzter Minute zu Plan B greifen - nämlich weitere 105 Fabriken schließen und noch mehr Verkehr verbieten.
Besonders viel »Stabilitätsarbeit«, wie die Funktionäre das nennen, galt der Meinungshoheit. Zwar hatte man bei der Bewerbung dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) versichert, das Internet werde für Sportler und Journalisten frei zugänglich sein, aber als Reporter vorige Woche im Pressezentrum die WebSeiten von Amnesty International, der in China verbotenen Falun-Gong-Bewegung, tibetischer Aktionsgruppen, der Deutschen Welle oder der unbequemen Hongkonger Tageszeitung »Apple Daily« aufriefen, konnten die »nicht angezeigt werden«, wie die Laptops meldeten.
Internationale Empörung brach los, die Gastgeber erlebten, nach Tibet und dem Fackellauf, ein weiteres PR-Desaster, aber auch das IOC erschien in zweifelhaftem Licht: Es kursierten Gerüchte über mündliche Absprachen mit den Chinesen im Vorfeld Olympias, die das Abschalten von Web-Seiten angeblich legitimierten.
Technisch bereitet das kaum Probleme: Chinas Zensurmauer ("The Great Firewall") funktioniert so gut, weil der Netzverkehr mit dem Ausland fast vollständig über nur drei Knotenpunkte läuft. Das macht die Kontrolle einfach. Google, Microsoft oder Yahoo kooperieren ohnehin in vorauseilendem Gehorsam mit den Behörden.
Das IOC wurde in Sachen Netzfreiheit notgedrungen nochmals tätig, die Chinesen gaben schließlich aus Imagegründen nach. Fast alle Web-Seiten könnten künftig ungehindert angeklickt werden, versicherten sie. Immerhin öffneten sich am vorigen Freitag der bislang gesperrte chinesischsprachige Dienst der BBC und sogar die Wikipedia-Seite mit einem Hinweis auf das Tiananmen-Massaker von 1989: »Viele Bürger und Studenten verloren ihr Leben ...«
Während im Medienzentrum die Debatte um den Internet-Zugang tobte, kollidierte der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) ebenfalls mit Chinas Bürokratie. Im »Deutschen Haus«, dem Sportler- und Journalistentreff im Kempinski-Hotel, sollen möglichst aktuelle deutsche Zeitungen gratis ausliegen, wie bei Olympia üblich. China aber schreibt vor, dass alle Druckerzeugnisse über eine staatliche Importstelle ins Land kommen, was die Auslieferung um Tage verzögert.
Dort sitzen Zensoren, die ab und an unliebsame Artikel herausreißen oder ganze Ausgaben kassieren, so wie es dem SPIEGEL zuweilen ergeht. In der Regel aber lassen die Kontrolleure die Publikationen passieren. »Wir versuchen, in Gesprächen mit der chinesischen Seite den Vorgang zu beschleunigen. Wir wollen die Zeitungen direkt vom Flugzeug zum Deutschen Haus bringen«, sagt DOSB-Sprecher Gerd Graus.
Noch mehr als das Internet fürchtet die Regierung allerdings Anschläge und öffentliche Proteste. Techniker montieren derzeit die letzten Überwachungskameras in den Straßen. Nachbarschaftskomitees sollen »jeden Verdächtigen« melden. Sogar die aufdringlichen Verkäuferinnen im Yaxiu-Einkaufszentrum in Peking wurden mit roten Armbinden zu Aufpasserinnen befördert.
Wer partout demonstrieren will, darf dies in drei Parks der Hauptstadt tun. Doch jeder Protest ist genehmigungspflichtig. Dissidenten wie Hu Jia sitzen im Gefängnis, der Bürgerrechtler Yu Guozhu wird weiter festgehalten, obwohl seine Haftzeit vor wenigen Tagen endete.
Um Peking herum hat die Polizei drei Sperrkreise errichtet, so will sie Kriminelle, Bittsteller und andere Störenfriede abfangen. Groteske Züge nahm der Kontrollwahn an, als Gastwirten verboten wurde, Gin auszuschenken, weil der brennbar ist und daher für Molotow-Cocktails geeignet. Andere Barbesitzer erhielten Order, Kunden schwarzer Hautfarbe (als mögliche Drogenhändler) und Mongolinnen (als vermeintliche Prostituierte) abzuweisen - was die Regierung allerdings dementiert.
Besonderes Augenmerk gilt Tibet und dem muslimischen Xinjiang, die Peking als autonome Gebiete bezeichnet, obwohl es die dortigen Minderheiten unterdrückt. Immer wieder liefern die Sicherheitsbehörden jetzt Erfolgsmeldungen über ausgehobene Zellen uigurischer Unabhängigkeitskämpfer, die angeblich für den »Heiligen Krieg« trainieren oder bereits Attentate verübt haben sollen.
Als kürzlich erstmals ein Bekennervideo der »Islamischen Partei Turke-stans« auftauchte, in dem ein Kommandant Seyfullah militärische Aktionen im olympischen Umfeld androhte und die Verantwortung für diverse Bombenanschläge übernahm, reagierte Peking zwar betont gelassen. Sicherheitshalber postierte die Armee aber Luftabwehrraketen nahe dem Olympia-Stadion. In den Hotels rund um das Gelände zogen als Touristen getarnte Polizisten ein.
Angstneurosen allerorten: Die Post nimmt keine Pakete mit Computerkabeln oder USB-Speichern mehr an, das sei »zu gefährlich«. Bars und Clubs verlangen neuerdings von Rockbands Auftrittslizenzen, die schwer bis unmöglich zu erhalten sind.
Und so freuen sich viele Pekinger, die von der »Kommission für den Aufbau der geistigen Zivilisation in der Hauptstadt« zuletzt auch noch Benimmkurse über sich ergehen lassen mussten, nicht nur auf die Spiele, sondern besonders auf die Zeit danach - wenn endlich die Normalität zurückkehrt. ANDREAS LORENZ