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ENGLAND Süßes Geld

Mit einem Umsatz von 16 Milliarden Mark ist die Wetterei eine der größten Industrien Englands.
aus DER SPIEGEL 48/1976

Auf Huren und Spielern, vorn Staate geschützt, ruht das Schicksal der Nation.

Dichter William Blake (1757 bis 1827)

Ich freue mich jedes Jahr darauf«, gestand Ron Pollard und legte liebevoll ein Photo von Miß Australien zur Seite. Sein nächster Miß-Griff galt dem Fräulein aus der Bundesrepublik. »Keine Chance, das Gin«, meinte er nach kurzem Blick, und schüttelte mißbilligend den Kopf.

So gingen alle Kandidatinnen zur »Miß Welt«-Wahl durch seine Finger -aber Pollard dachte weniger an Formen als an Geld; Er ist Spezialist -- für heikle Fälle -- beim britischen Wett-Giganten Ladbrokes.

Denn das Busen-Spektakel in der Londoner »Royal Albert Hall« war zwar auch ein Wettkampf um die besten Maße, für Briten jedoch in erster Linie ein Wettanlaß. Ausrichter ist die viertgrößte Wettkette Britanniens, »Mecca«, doch auch die Konkurrenz profitiert davon.

Insgesamt etwa 500 000 Pfund placierten die Insulaner in der vorigen Woche auf die mutmaßliche Siegerin der Kurvenwahl. Doch das war nur ein Bruchteil dessen, was die »Punters« (Wettkunden) Jahr um Jahr auf Pferde, Windhunde, Boxer, Fußballspiele setzen -- kurz auf »alles, was sich bewegt«, wie Ladbrokes Motto verspricht.

Denn noch immer »übt der abenteuerliche Sinn des Wettens und Wagens, an dem die Flamme der Spielleidenschaft sich nährt, bei keinem Volke eine mächtigere Herrschaft aus als bei den Briten. Und weil er da ist, muß er auf irgendeine Weise befriedigt werden« -- das schrieb die »Gartenlaube« von 1866, und das gilt noch heute.

16 Milliarden Mark haben die Briten 1975 fürs Glücksspiel ausgegeben, die Hälfte davon für Pferdewetten (Bundesrepublik-Vergleichszahl: 3,8 Milliarden).

56 Prozent aller erwachsenen Briten wetten von Zeit zu Zeit. Rund um die Uhr drängen sie in die 10 500 Wettbüros im ganzen Land, in 160 Kasinos und Zehntausende von Bingohallen. Ihre Wett- und Spielleidenschaft machte die Wett-Größen Ladbrokes, Mecca, Hill, Coral und kleinere Buchmacher zu einer der größten Industrien des Landes

In einer vertraulichen Analyse für Ladbrokes (die über 56 Prozent des britischen Glücksspiel-Marktes kontrolliert) hat die »Gordon Simons Research Limited« Engländer, Schotten, Nordiren und Waliser untersucht. Was dabei herauskam, wird vermutlich selbst die Briten verblüffen:

* Neun Prozent aller Briten, 14 Prozent aller Männer, wetten regelmäßig;

* drei Viertel aller Ladbrokes-Kunden wetten mindestens einmal wöchentlich, ein Drittel gar mindestens einmal täglich;

* 83 Prozent aller Wetter sind Arbeiter;

* 56 Prozent wetten seit mindestens 20 Jahren.

Der Wettdrang treibt die Engländer zu den verwegensten Abschlüssen: Eine Dame beispielsweise, die sich für eine Wiedergeburt der Mona Lisa hält, setzte bei Ladbrokes etwa 8000 Mark ein. Wenn bis zum 30. März nächsten Jahres außerirdische Lebewesen mit einer fliegenden Untertasse auf der Erde landen, muß Ladbrokes ihr 1,2 Millionen Mark zahlen.

»Nessie« ist nicht nur das Fabelwesen von Loch Ness, sondern auch Wettobjekt. Innerhalb der nächsten zwölf Monate rechnen immer mehr Briten damit, daß Nessie auftaucht. Mehrere tausend Pfund sind auf das Erscheinen des vermeintlichen Ungeheuers gesetzt, auch von mehreren Universitäten. Derzeitiger Nessie-Kurs: 100 zu eins.

Selbst vorm Königshaus machen die Insulaner nicht halt: Anfang 1964, als zu gleicher Zeit die Queen, Prinzessin Margaret, Prinzessin Alexandra und die Herzogin von Kent Nachwuchs erwarteten, überboten sich mehrere tausend Briten mit Einsätzen darauf, wer zuerst was und mit welchem Gewicht in die Welt setzen würde.

Im gleichen Jahr placierte Maxwell Joseph, Vorstandsvorsitzender der »Grand Metropolitan Hotels«, beim Kollegen Cyrill Stein (dem Mehrheitsaktionär von Ladbrokes) per Telephon eine Wette über 560 000 Mark auf einen Sieg der Labour-Partei. Labour siegte mit fünf Mandaten Mehrheit. Joseph kassierte 417 500 Mark Gewinn von der Konkurrenz.

Auch bei Wahlen im Ausland halten britische Wetter mit. Bis zum Wahltag am 2. November dieses Jahres setzten sie bei Ladbrokes über 856 000 Pfund auf den zukünftigen Präsidenten der USA -- und brachten dem Unternehmen 100 000 Mark Profit ein.

Die große Zeit der Wetten war das 18. und 19. Jahrhundert. Gewaltige Vermögen wurden bei einem einzigen Pferderennen verwettet, und es war nicht unüblich, daß sich der Verlierer anstandshalber erschoß. Der berühmte Lord Barrymore etwa verwettete in vier Jahren 300 000 Pfund.

Squire Osbaldston war einer der farbigsten Gentlemen seiner Zeit. Er schlug den französischen Tennischampion in einem Freundschaftsspiel -- indem er auch noch auf den Schläger verzichtete und mit bloßer Hand die Bälle retournierte. Er galt als bester Kegler, Billard-Spieler, Jäger und Reiter seiner Zeit, besonders aber als Wettnarr. 1830 placierte er 1000 Guineen auf sich selbst und gegen jeden, der nicht glaubte, daß er 200 Meilen (320 km> in weniger als zehn Stunden reiten könne. Er gewann, weil er alle acht Meilen frische Pferde nahm und insgesamt 25 Rösser zuschanden ritt.

Tatsächlich war Wetten früher das einzige Mittel, Vermögen zu verspielen. Denn im Unterschied zum Kontinent wurden erst 1961 Spielkasinos in dem Inselland legalisiert -- mit Erfolg: Acht Jahre später gab es 1500, die erst 1970 durch einen Gesetzeszusatz drastisch reduziert wurden.

Wenn die Einsätze heute auch geringer geworden sind, die Wettwut der Briten ist ungebrochen: Ladbrokes, die vor neun Jahren noch mit 11)9 Büros auskamen, kassieren jetzt in 986 Außenstellen. Außerdem besitzen die Wett-Giganten (13 000 Angestellte) 14 Spielkasinos, vier Hotels, 84 Bingohallen, sieben Windhund-Stadien und eine Pferderennbahn, überdies 23 Prozent des Pariser »Ritz«-Hotels, Büro-Hochhäuser in Brüssel, Apartment-Blocks in Amsterdam und Wohnsiedlungen in England.

Denn das Geschäft ist nahezu risikolos: Ist ein »Buch angelegt«, dann wird es so austariert, daß der »Buchmacher« per Saldo kaum verlieren kann. Und auch der Staat spielt mit. Neben den üblichen Steuern kassiert er noch 7,5 Prozent zusätzliche Gewinn-Steuer. 1975 machte allein diese Zusatzsteuer etwa 265 Millionen Pfund aus.

Auf 500 erfolgreiche Buchmacher-Geschäfte, So zeigt die Statistik, kommt ein Wetter, der Gewinne einsteckt. Schon deshalb, weil die Buchmacher nicht gezwungen werden können, Wetten anzunehmen. Folge: Erfolgreiche Berufswetter -- eine typisch britische Institution -- werden nach längerer Gewinnserie keine Wetten mehr los, oder nur zu schlechten Bedingungen.

Immer mehr Berufswetter geben deshalb auf. John Gough, 37, etwa ("Mein Geschäftsprinzip heißt Gewinn"), der jährlich bis zu sieben Millionen Mark wettete und stets mit Gewinn abschloß, hat sich ebenso aufs Altenteil zurückgezogen wie Alex Bird, der bereits 1971 aufgab -- nach 33 Jahren hauptberuflicher Wetterei, in denen er nach eigener Schätzung etwa 150 Millionen Mark auf Pferde und Hunde gesetzt hatte, zumeist mit Profit.

Übrig blieben, vor allem, die Armen und Süchtigen. Als Anfang 1974 viele Briten nur an drei Tagen arbeiteten, stieg der Umsatz in den Wettbüros drastisch an. Auch die gegenwärtige hohe Arbeitslosigkeit (5,8 Prozent) spiegelt sich in den steigenden Umsätzen.

Denn was für manche als prickelndes Vergnügen begann, hat viele in eine Sackgasse geführt: »Sie wollen Verlorenes zurückgewinnen und Gewonnenes vermehren«, sagt Reverend Gordon Moody, Generalsekretär des »Churches' Council on Gambling«, und dabei würden sie süchtig.

Nach seinen Schätzungen sind etwa drei Prozent der erwachsenen britischen Bevölkerung, das sind 1.2 Millionen Engländer, »regelmäßige, abhängige Spieler, einfach deshalb, weil man überall, selbst im kleinsten Dorf, wetten kann«. 200 000 hält der Pfarrer für süchtig im therapeutischen Sinn.

Anders als um Drogensüchtige und Alkoholiker kümmert sich keine staatliche Hilfsorganisation um die oft ausweglos erkrankten Suchtspieler. Ihre letzte Hoffnung ist die »Gamblers Anonymous« (G.A.), eine in England 1964 gegründete private Hilfsorganisation. In 63 therapeutischen Gruppen hat die G.A. in den vergangenen zwölf Jahren 25 000 Weltsüchtige betreut.

»Angstgeld« nennen die Buchmacher die Einsätze der Süchtigen. Terry Keefe, der in seinen zehn Wettbüros jährlich drei Millionen Pfund umsetzt: »Auch panisches Geld können Sie es nennen. Für uns ist es süßes Geld«

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