BERLIN / REGIERUNGSKRISE Sumpf in der Mitte
Auf einem blauen Perser, Geschenk des Kaisers Resa Pahlevi und an die 80 000 Mark wert, trat Berlins Regierender Bürgermeister seinem Innensenator entgegen: »Wolfgang, wann bekomme ich dein Rücktrittsgesuch?«
Das Ultimatum, das Heinrich Albertz seinem Parteifreund Wolfgang Büsch am Montag vergangener Woche im Schöneberger Chefzimmer stellte, war ein verzweifelter Versuch des sozialdemokratischen Halbstadtherrn, der eigenen Demission vorzubauen.
Der Hinauswurf des Innensenators« der bei den Funktionären in Ungnade steht, sollte rebellierende Kader der West-Berliner SPD besänftigen. Denn den Genossen war letzte Woche nach Opfern: Erst im Untergrund, dann in offener Attacke, versuchten sie den Albertz-Senat zu zerschlagen.
Die »Welt« witterte Gefahr, daß »sich die Berliner Sozialdemokraten hoffnungslos auseinanderstreiten«. Die »Süddeutsche Zeitung« registrierte »Fingerhakeln zwischen den Parteiflügeln«, das »einem neuen Höhepunkt« zustrebe. Und »Bild« barmte: »Da lachen die Radikalinskis.«
Im Krawall -- sonst Sache studentischer Störenfriede -- trat ein Senator zurück, ein zweiter drohte mit dem Abschied. Parteigruppen legten dem Regenten komplette Reformpläne für die Regierung vor und forderten Heinrich Albertz auf, seine Freunde zu feuern. Und im Bonner Außenamt startete SPD-Chef Willy Brandt Entlastungsangriffe für seinen Nachfolger im Rathaus Schöneberg« um der Partei das Ärgste zu ersparen.
Denn niemals zuvor in den neun Monaten seiner Amtszeit war Heinrich Albertz schwächer als in diesen Tagen. Und niemals zuvor waren seine Gegner dem Ziel näher, ihn von seinem Bürgermeistersessel zu verjagen.
Der »rote Preuße« (Parteijargon) und einstige Pfarrer aus Breslau hat wenig getan, sich mit den Feinden zu befreunden. Schon immer verdroß es die Genossen, wenn Albertz den allmächtigen Parteiapparat verspottete ("Räuber-Synode"), biedere Parteifreunde provozierte ("Dorftrottel") und allzu deutlich seine intellektuelle Überlegenheit zur Schau stellte: »Wer mit mir arbeiten will, muß etwas gelernt haben.«
Ohnehin hat es der weich profilierte Pfeifenraucher mehr dem Wunsch seines Vorgängers (Brandt: »Nehmt doch Heinrich") als den Sympathien seiner Partei zu danken, daß er im Dezember letzten Jahres am Regierungsschreibtisch Platz nehmen durfte. Und seither warteten die Genossen auf eine Gelegenheit, es dem hochfahrenden Herrn heimzuzahlen.
Sie bot sich nach den Berliner Wahlen (den ersten ohne Willy Brandt) im März dieses Jahres. Schadenfroh machten die Widersacher zwischen Wedding und Westend den bibelfesten Stadtverwalter für den Stimmenverlust der Regierungspartei verantwortlich. Und bei der Senatsbildung verdarben sie ihm das Konzept.
Nur mit Mühe gelang es Albertz, tüchtige Nachwuchskräfte aus der kleinen Gruppe seiner Parteigänger zu Senatoren zu machen. Aufmerksam registrierten die Widersacher bei ihrem Premier Mangel an Willenskraft. Und obschon ideologisch verfeindet, verabredeten die schwachen Neo-Marxisten vom linken und die starken Neo-Konservativen vom rechten Flügel der SPD für den Landesparteitag Ende Mai eine konzertierte Aktion gegen den Bürgermeister.
Bei der Vorstandswahl eliminierten sie gemeinschaftlich die Anhänger des Manns der Mitte, der den Linken nie links und den Rechten nie rechts genug war, und besetzten im Proporz die frei gewordenen Positionen. Linksflügelmann Joachim Karnatz, Bezirksbürgermeister von Tiergarten, zitierte Bebel: »Die Mitte ist der Sumpf.«
Die nächste Niederlage traf. den glücklos Regierenden schon eine Woche nach dem Parteitags-Debakel. Seine hilflose Reaktion auf die Schah-Krawalle vom 2. Juni -- die Billigung des brutalen Polizeieinsatzes, das Unverständnis für die rebellierenden Studenten -- lieferte seinen Gegnern von links wie rechts neue Munition zum »Generalangriff gegen den Regierenden Bürgermeister« ("Der Abend"). In fast allen Berliner Partei-Zirkeln kursierten Mißtrauens-Erklärungen, und SPD-Chef Kurt Mattick hausierte mit Plänen für eine Senatsumbildung.
Doch die Mattick-Attacke blieb fürs erste stecken -- im Sperrfeuer aus Bonn. Willy Brandt forderte: »Der Heinrich muß bleiben«, und nicht nur Albertz blieb. Im Vertrauen auf die geliehene Position der Stärke lehnte der Bürgermeister gleich zweimal nacheinander ein Rücktrittsgesuch des Innensenators ab, mit dem Wolfgang Büsch die Konsequenzen aus den Ereignissen des 2. Juni ziehen wollte.
Als dann aber im Laufe des Sommers Meinungsumfragen unter der Berliner Bevölkerung einen deutlichen Sympathieschwund für Heinrich Albertz offenbarten (sein Beliebtheitsgrad sank von 60 Prozent im März auf 34 Prozent im August) und statt seiner der Fußball-Senator Kurt Neubauer, 45 (Ressorts: Sport, Jugend, Soziales, Gesundheit), mit 60 Prozent den Gipfel der Publikumsgunst eroberte, zog die Mattick-Mannschaft ihr Personal-Puzzle wieder hervor.
Und jüngst wähnten die Frondeure die Stunde ihrer Wahrheit gekommen: Der Untersuchungsausschuß des Abgeordnetenhauses, der die Vorgänge vom 2. Juni durchleuchtet hatte, verabschiedete seinen Bericht. Fazit: Fehlverhalten der Polizei und Vernachlässigung der Aufsichtspflicht durch den Senat.
Der Bericht war kaum getippt, da versammelten sich am Sonnabend vorletzter Woche unter Kurt Matticks Leitung die Führer des rechten SPD-Flügels, wegen ihrer Rauchgewohnheiten im Parteijargon »Pfeifenklub« genannt, zu geheimer Beratung. Sie einigten sich auf ein Personalprogramm, das Brandt-Schützling Albertz zur bloßen Galionsfigur einer Rechts-Regierung degradieren soll:
> Publikumsliebling und Mattick-Freund Kurt Neubauer ("Der Tagesspiegel": »Ein Klettermaxe mit Instinkt") übernimmt das Bürgermeisteramt und die Innenverwaltung.
> Der vom Untersuchungsbericht über die Ereignisse am 2. Juni belastete Innensenator Büsch tritt zurück, der Bürgermeister und Finanzsenator Strick beschränkt sich auf sein Ressort.
> Die bisherige Neubauer-Verwaltung fällt an den hessischen Bundestagsabgeordneten Kurt Gscheidle.
> Pressesprecher und Albertz-Berater Peter Herz wird durch den Deutschlandfunk-Chefredakteur Franz Barsig ersetzt.
Zugleich fand es der Pfeifenklub an der Zeit, mit dem Schulsenator Carl-Heinz Evers abzurechnen. Denn dieser Mann, der sich durch fortschrittliche Schulpolitik hervorgetan hat und gern unkonventionelle Meinungen äußert, ist den Genossen von der Rechten schon seit langem zuwider. Erst jüngst, bei den Senatsdiskussionen über den 2. Juni, fiel er unangenehm auf: Als der konservative Wirtschaftssenator Karl König, unter dem frischen Eindruck der Perser-Kriege zu Berlin, lauthals forderte:"Da muß man 'reinspritzen!«, fragte höflich der liberale Schulsenator: »Warum nicht gleich abspritzen, Herr Kollege?«
Evers kam mit auf die Abschußliste. Am Montagmorgen der letzten Woche begab sich Pfeifenklub-Chef Kurt Mattick mit einem Begleiter ins Schöneberger Rathaus und übermittelte dem Regierenden die Kapitulationsforderung der derzeit stärksten SPD-Fraktion. Wenn Albertz, so erklärten die Parlamentäre, die Senatsumbildung nicht von sich aus vollziehe, werde ihn die (für Sonnabend voriger Woche) anberaumte Klausurtagung der Partei dazu zwingen.
Nahezu die gesamte Partei gegen sich und ohne Illusionen über seine Lage, entschloß sich der Bürgermeister, wenigstens einen Rest seiner Souveränität zu bewahren. Noch am Montag stellte er seinem Freund Wolfgang Büsch die Kabinettsfrage.
Der Innensenator war zum letzten Freundesdienst für seinen Bürgermeister bereit. Tags darauf bot er dem Regierungschef zum drittenmal binnen drei Monaten den Rücktritt an.
Heinrich Albertz: »Wolfgang, du bist ein Held.«